Andreas Reckwitz’ neue Klassengesellschaft (Theorie)

18. Januar 2022 0 Von Uli Gierse

Vorbemerkung: Dieses Papier ist keine wissenschaftliche Arbeit, sondern der populärwissenschaftliche Versuch, den neuen soziologischen Ansatz von Andreas Reckwitz verstehbar zu machen. Die konkreten Veranschaulichungen, vor allem der Bezug auf die jüngste Geschichte und auf die Grünen, sind meistens meine Einfälle zu den Theorien Reckwitz´ und keine indirekten Zitate.

Der Kult des Besonderen – Reckwitz‘ neue Klassengesellschaft

Ein neuer Typus von Politiker*in – Promi macht sich breit. Nicht die demokratisch gewählten Repräsentanten einer Partei bestimmen die Debatte in den Medien, sondern Provokateure wie Boris Palmer, Sarah Wagenknecht oder Hans-Georg Maaßen. In der SPD hatte Sarrazin diese Rolle. Wie läuft das ab? Sie verstehen es, zwei Elemente der politischen Kommunikation für sich nutzbar zu machen: Sie provozieren durch Themen, die zum einen Empörung, Shitstorms, auslösen, und zum anderen in der Regel durch Äußerungen, die sich innerhalb der jeweiligen Parteien an deren politischen Rändern positionieren.

Neu an diesem Politikertypus ist, dass es nicht um „Rebellentum“, wie es Heiner Geisler oder Norbert Blüm in der CDU, Hermann Scheer oder Sigmar Gabriel in der SPD oder Christian Ströbele, aber auch Joschka Fischer, bei den Grünen verkörperten. Hier wird nicht inhaltlich polemisiert, sondern es werden bewusst Affekte der Empörung durch Meinungen gegen die Parteiführungen erzeugt, die Einladungen in Talkshows sichern. So kann ein Bürgermeister einer Kleinstadt bundesweite Aufmerksamkeit erregen. Und das ist aufmerksamkeitsökonomisch sehr erfolgreich, weil es im Trend einer gesellschaftlichen Neuformatierung liegt.

Diese Entwicklung hat Andreas Reckwitz in seinen Büchern „Die Gesellschaft der Singularitäten“ und „Das Ende der Illusionen“ als neue Sicht auf die Spätmoderne entwickelt.

Politische Megatrends wie der Neoliberalismus und Linksliberalismus in den letzten dreißig Jahren werden so in einen neuen Zusammenhang gestellt. Das Volksparteienkonzept des Minimalkonsenses und des Fahrens auf Sicht ist genauso wie die traditionelle Interessenpolitik ökonomischer Player (Gewerkschaften wie Arbeitgeberverbände) auf dem absteigenden Ast. Denn nach Reckwitz wird die Politik des Allgemeinen zu einer Politik des Besonderen. Was heißt das?

Andreas Reckwitz, Prof. an der HU Berlin, arbeitet mit der Annahme, dass in der Moderne seit den 1970er und 1980er Jahren ein Wandel hin zu einer neuen Klassengesellschaft stattgefunden hat. Diese Epoche nennt er Spätmoderne.

Bevor ich zu den politischen Implikationen heute komme, will ich die Theorie von Reckwitz ausführlich vorstellen:

Die Logik des Sozialen

Gesellschaften werden durch soziale Logiken strukturiert. Der Begriff Logik meint hier ein Schema, welches die Gesellschaft in all ihren Bereichen strukturiert. Die Logik der Moderne (ab 1800) bestand darin, dass die Logik des Allgemeinen die Gesellschaft zunehmend durchdringt und die sozialen Prozesse prägt. Die sich entwickelnde bürgerliche Gesellschaft und ihre Ökonomie des Kapitalismus werden davon geprägt, dass alle Prozesse rationalisiert, normiert, standardisiert werden. Das ist bei der technischen Rationalisierung von Produktionsmitteln (Automatisierung) und Arbeitsabläufen (Fließband) evident. Aber auch die Güter werden zu Massenprodukten, die normiert und möglichst billig produziert werden. Kurz: „Doing generality“ ist das logische Muster der Industrialisierung. Aber auch die Verallgemeinerung der rechtlichen Basis der Gesellschaft über Demokratisierung und universelle Menschenrechte ist ein Ergebnis der Logik des Allgemeinen. Schon bei der Entstehung dieser neuen Gesellschaftsformation und ihrer sozialen Logik gibt es auch den Gegenspieler – die Logik des Besonderen. Diese ist manifest vor allem in der Kunst und da in der Strömung der Romantik: Geniekult, Suche nach dem Originellen, nach dem Einzigartigen (z.B. in der Liebe), dem Schönen, aber auch dem Dunklen, heute würde man sagen, der Suche nach Authentizität. Verallgemeinert kann man sagen, die Romantiker suchen nach der wahren, echten Natur des Menschen, nach dem Wesen im Gegensatz zur Entfremdung durch die moderne Welt der Industrialisierung.

Zusammengefasst kann man also feststellen: Die Moderne zeichnet neben der ökonomischen Durchsetzung der Industrialisierung und der Zurückdrängung der traditionellen Landwirtschaft die innere Logik aus, alle Prozesse möglichst normierbar zu machen. Es gibt einen Hang, alle Prozesse dieser Logik des Allgemeinen unterzuordnen. Am Rande der Gesellschaft hält sich eine Logik des Besonderen, vor allem in der Kunst.

Die Logik des Besonderen als neues Strukturelement in der Spätmoderne

Reckwitz zeichnet diese historische Entwicklung nach und sieht eine qualitative Veränderung in diesem Kräftemessen zwischen Allgemeinem und Besonderem ab den 1970er Jahren. Die (soziale) Logik des Allgemeinen verliert ihre Vorherrschaft an die (soziale) Logik des Besonderen.

Alte Sehnsüchte aus der Epoche der Romantik werden wiederbelebt und verallgemeinern sich. Das moderne Individuum ist bestrebt, in seiner Identität das Einzigartige hervorzuheben: „Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre“. Mir fällt dazu der Spontispruch der 68er ein: Wer zweimal mit dem Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment.

In der Nachkriegsepoche bis in die 1970er Jahre dominierten politisch die beiden Volksparteien Union und SPD, beiden ging es um die Herstellung einer Gesellschaft der (annähernd) Gleichen. Schelsky nannte das „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, Ludwig Erhardt redete von „formierter Gesellschaft“ und „sozialer Marktwirtschaft“, und die sozialdemokratische Variante konnte man im skandinavischen „Volksheim“ besichtigen. Natürlich gab es weiter Hierarchien und materielle Unterschiede, aber die soziale Spreizung wurde kleiner. Alle profitierten vom „Wirtschaftswunder“ der 50er, 60er Jahre und die Bildungsreformen öffneten die Karriereleiter. Man hatte auch soziologisch den Eindruck in einer Fahrstuhlgesellschaft (Beck) zu sein, es ging beständig nach oben. In dieser nivellierten Mittelstandsgesellschaft der 90 % (altes und neues Bürgertum plus Arbeiterklasse (damals noch um 50%)) war Konformität das Normale. Aus-der-Reihe-Tanzen war verpönt. Die Nation traf sich bei Edgar-Wallace-Krimi und Samstagsabend-Show von Frankenfeld oder Kuhlenkampf.

In diese Biedermeieridylle platzte dann die Studentenbewegung und parallel dazu die neue Popmusik von Beatles oder Rolling Stones. Die Neuen Sozialen Bewegungen waren vor allem gegen den Konformitätsdruck der Elterngeneration gerichtet. Die schärfste Waffe in diesem Generationenkonflikt war die unaufgearbeitete Schuld an der Shoa. Es entwickelte sich ein Linksliberalismus, der Politik in der ersten Person machen wollte. Vielfalt und Diversität der Lebensstile (Kommune 1), Sex and Drugs and Rock ‘n Roll war angesagt. Kritik an Staat und Wirtschaftssystem gehörte dazu. Vorbilder fand man in der Dritten Welt, ob bei Che Guevara, Mao Zedong oder Ho Chi Minh. Paradoxerweise formierten sich aus den antiautoritären 68ern hierarchische K-Gruppen und die Terrororganisation RAF. Die Logik des Allgemeinen war noch stark. Diese Rebellion gegen die Spießergesellschaft fand ihren politischen Zielpunkt in der Gründung der GRÜNEN 1979/1980. Doch was ist da aus Sicht des Soziologen gesellschaftlich abgelaufen?

Die Veränderungen vom Allgemeinen zum Besonderen wird in der Soziologie und Psychologie auch als Individualisierung beschreiben. Reckwitz wählt den Begriff des Singulären. Er begründet diese neue Begrifflichkeit damit, weil sie ihm ermöglicht, die Komplexität dieser Prozesse abzubilden. Der Begriff Individualisierung sei nur auf einen Teilaspekt, den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft, bezogen und verstelle den Blick darauf, dass die sozialen Logiken auf alle Bereiche des Sozialen wie zum Beispiel in Güterproduktion, Güterkonsumtion, den Arbeitsverhältnisse oder auch auf Räume bezogen werden müssen.

Die soziale Entwicklung von der Logik des Allgemeinen hin zu einer Gesellschaft des Singulären beginnt um 1980. 1980 wurden die Grünen gegründet, kann das Zufall sein?

Die Durchsetzung der industriellen Produktionsweise und die Zurückdrängung der traditionellen Landwirtschaft waren abgeschlossen. Die Arbeitswelt war weitgehend standardisiert und normiert. Formale Bildungsqualifikationen waren die Eintrittskarte in einen geregelten Arbeitsmarkt. Wenn man Abitur hatte, standen einem die hochqualifizierten Jobs zu, dachte man zumindest.

Diese nivellierte Mittelstandsgesellschaft, die sich unter Einschluss der Industriearbeiterschaft in Westdeutschland herausgebildet hatte, begann jedoch langsam zu zerbröseln.

In den 1970er Jahren hatten die beiden Volksparteien noch über 90% der Wähler*innenstimmen. Ab 1980 war das vorbei, und wahrscheinlich war das auch schon ein Produkt gesellschaftlicher Neuformatierung. Denn die neuen Anliegen der Grünen und der Bürgerinitiativen, insbesondere die ökologischen und friedensbewegten, waren neben dem Inhalt immer auch Themen, mit denen man sich als etwas Besonderes von der Masse abgrenzen konnte. Insbesondere die Forderungen nach einer Aufarbeitung des Antisemitismus, der Shoa, stießen auf taube Ohren.

Die neuen sozialen Bewegungen, von Bürgerinitiativen bis zu K-Gruppen, waren vielleicht der erste politische Ausdruck der sich entwickelnden „Gesellschaft der Singularitäten“. Man legte Wert darauf, anders, besonders zu sein und auf keinen Fall so wie die Elterngeneration, die vor allem darauf aus war, normal und unauffällig zu bleiben. Eine kleine Anekdote mag das bebildern. Mein Vater war Schneider und sein größter Wunsch wäre es gewesen mich „anständig“ anzuziehen.  Für mich kamen aber nur Bluejeans in Frage. Dabei wäre ein Maßanzug viel individueller. Entscheidend für die Beurteilung von Gütern ist nicht mehr die Herstellungsweise, industriell oder handwerklich, sondern die kulturelle Bewertung. Die alte Arbeiterhose von Levi`s wird zum Kultobjekt.

Aber es gab nicht nur diesen links-alternativen Ausbruch aus der Normalität, sondern die NPD kam 1968 mit fast 10% in den Landtag von Baden-Württemberg und verpasste den Einzug in den Bundestag 1969 nur knapp. Auch das könnte schon ein Anzeichen für den Abschied von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft gewesen sein und nicht etwa eine Wiederholung von 1933, wie man damals eher meinte. Wesentlicher Beweggrund war für die Nazi-Wähler die angebliche Bedrohung der eigenen Identität durch Gastarbeiter.

Im Unterschied zu anderen westlichen Ländern wurde in der BRD auch die Arbeiterklasse, die Industriearbeiterschaft, in die neu formierte Mittelstandgesellschaft voll integriert. Mir scheint, die Volksgemeinschaftsideologie hatte daran genauso ihren Anteil wie die Ablehnung von Streit, von Klassenkampf. Vor allem aber profitierten alle Bevölkerungsschichten von dem Wohlstand der neu entfesselten Industrieproduktion. Der Kalte Krieg tat das Übrige und begründete die Notwendigkeit von sozialem Ausgleich. Der rituelle Pseudoklassenkampf zwischen Union und SPD wurde analog zur Konzertierten Aktion zwischen Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften (Strauß-Schiller in der GroKo von 1966) mehr und mehr zur Folklore. Und es entwickelt sich ökonomisch eine Umgewichtung vom industriellen Sektor zum Dienstleistungssektor. Das hat Folgen:

Aus der nivellierten Mittelschicht der Nachkriegszeit haben sich drei neue Klassen herausgebildet: Eine alte Mittelklasse, eine neue Mittelklasse und eine prekäre Unterklasse.

Reckwitz begründet seinen Rückgriff auf den Klassenbegriff damit (ähnlich wie bei den Singularitäten), dass Klasse im Gegensatz zu Schicht oder Milieu auch den Bereich von Macht, Herrschaft und Hegemonie beinhaltet.  Klassen sind mehr als sozialstatische Einkommensschichten und auch mehr als alltägliche Lebensstile. Klassen sind kulturelle, ökonomische und politische Gebilde zugleich. Sie unterscheiden sich in Status, Prestige, Befriedigungsmöglichkeiten und Einfluss.

Überraschend fand ich, dass diese Herausbildung einer neuen Mittelklasse zuerst im globalen Süden stattfand. In den Schwellenländern des Südens wurde die neue Mittelschicht zuerst entwickelt. Ab 1990 mit dem Ende der bipolaren Weltaufteilung haben die Länder des globalen Südens, vor allem China, ökonomisch kräftig aufgeholt. Es bildet sich eine ambitionierte, aufstiegsorientierte wohlhabende neue Mittelklasse vor allem im tertiären Sektor von Dienstleistungen heraus. Die Globalisierung der Ökonomie führt zu einer Verringerung der Einkommensungleichheit. 20% der Weltbevölkerung, die neuen Mittelklassen, entwickeln erleben einen sozialen Aufstieg, vor allem materiell. Das wirkt auch auf die Länder des globalen Nordens zurück, auch hier entsteht eine neue Dreiteilung der Gesellschaft unterhalb der wenigen Superreichen. Durch ordnungspolitische Maßnahmen wie der Agenda 2010 in Deutschland entsteht nicht nur eine prekäre Klasse der sozial abgehängten in den neuen Billiglohnsektoren, der „Somewheres“. Diese Menschen kämpfen hauptsächlich ums Überleben und sind daher kein Teil der politischen Auseinandersetzungen.

Die neue Mittelklasse bildet sich ebenfalls heraus. Sie besteht aus mobilen, urbanen privilegierten Hochqualifizierten in den neuen Bereichen des Dienstleistungssektors, vor allem rund um die Produkte der Digitalisierung und des Handels. Sie sehen sich als Weltbürger und vor allem als besonders, als Singularitäten, als „Anywheres“.

Die alte bürgerliche Mittelschicht vor allem in den nicht urbanen Zonen bleibt als alte Mittelklasse übrig. Sie bevorzugt es, sesshaft zu bleiben, hält an traditionellen Werten wie Pflicht, Ordnung und Familie fest, ist eher auf dem „Land“ – jenseits der Metropolen – zuhause.

Die Angehörigen dieser alten Mittelklasse haben eher mittlere Bildungsabschlüsse, die ehemals noch wertvoll waren, aber zunehmend entwertet werden. Die alte Mittelklasse befürchtet zu Recht abzusteigen, sieht sich als fremd im eigenen Land, durch Einwanderung bedroht, vertritt noch die Logik des Allgemeinen, des Normalen gegen die Neu-Reichen aus der neuen Mittelklasse. Auch sie sind den „Somewheres“ zuzuordnen.

Die alte Arbeiterklasse ist quantitativ stark geschrumpft. In den letzten 50 Jahren von 50% der Erwerbstätigen auf nur noch 20%, und das in meistens gut bezahlten Jobs rund um die Automobil- und Chemieindustrie. Sie splittet sich auf in Wandlungsgewinner und Verlierer.

Es gab über die Ausweitung der deregulierten Finanzmärkte und die Entwicklung der Digitalisierung insbesondere in den Sozialen Medien auch den Aufstieg einer neuen Klasse von Superreichen. Diese 1% häuften einen gewaltigen Reichtum an, sind aber faktisch nicht mehr Teil einer nationalen Gesellschaft, sondern ihr Reichtum ermöglicht ihnen „auszusteigen“, sich in Distanz zum Rest zu begeben. Für die soziale Entwicklung der 99% spielen sie keine Rolle mehr, außer als Vorbild- und Neidfaktor. Letztlich ist es egal, was mit ihnen geschieht.

Reckwitz beschreibt die Durchsetzung der Neuen Mittelschicht der Singulären in den verschiedenen Einheiten des Sozialen.[1] Ich werde mich beispielhaft auf die Welt der Dinge beschränken. In der Welt der Dinge werden Güter zunehmend kulturalisiert (Beispiel iPhone). Natürlich werden die Güter noch normiert in Fabriken hergestellt und sehen gleich aus, aber diese Industriegüter werden mit Narrativen aufgeladen, die dann als Mosaiksteinchen zur eigenen Selbstverwirklichung bzw. Selbstdarstellung dienen. In der Spätmoderne wird aus einer Nischenposition (Außenseiter*in, Opposition, Künstler*in) durch die Dominanz der Logik des Besonderen eine strukturbildende Rolle. Die Ökonomie steht nicht mehr versus kulturellem Überbau wie noch bei Marx, sondern wandelt sich in Richtung einer postindustralisierten, kulturellen Ökonomie. Influencer auf YouTube, Selfies auf Insta etc. sind der kulturelle Ausdruck dieser Entwicklung der Singularisierung der Welt der Güter. Aber auch in dieser Entwicklung vor allem des tertiären Sektors gibt es Aufsteiger und Absteiger: Wissensarbeit wird in der Wissenschaftgesellschaft auf – und einfache Dienstleistungen werden abgewertet. Valorisierung entscheidet mit über materielle Vergütung. Ein Web-Designer war in den 90er noch top, heute gehört er wahrscheinlich zur Unterklasse.

In den Arbeitsmärkten setzt sich ebenfalls die Logik des Besonderen durch, sie werden zu Singularitätsmärkten. Standen früher standardisierte Abschlüsse, formale Qualifikationen im Mittelpunkt der Auswahl von Bewerber*innen um einen Arbeitsplatz, muss die Bewerberin heute ein Profil entwickeln. Es kommt darauf an, Besonderheiten darstellen. Daraus entsteht das Problem, diese Singularitäten lassen sich nicht normiert vergleichen, sondern die Auswahl liegt in den Augen des Betrachtenden. Das Vorstellungsgespräch wird zum Casting. Der Markterfolg auf dem Arbeitsmarkt ist daher immer mehr mit großer Unsicherheit und auch mit Glück verknüpft. Erwartet werden zudem Networking, ein Netzwerk von Beziehungen und ein hohes informelles kulturelles Kapital (Bourdieu). Kurz, eine gewinnende Persönlichkeit als Habitus, sie/er „passt am besten rein“. Das führt zu einem Boom von Beratungsliteratur und dem neuen Berufsfeld Coaching. Der Arbeitsalltag verändert sich in Richtung Projektarbeit, und jedes Projekttreffen wird zum Event mit unterschwelliger Konkurrenz um die Poolposition.

Bleibt die Digitalisierung als Singularisierung. Diese beruht zwar auf einer Technik einer geschlossenen Maschine, einer Rechenmaschine, die zuerst ein Instrument der Effektivierung und Standardisierung war. Aus der geschlossenen Maschine wird jedoch über das Internet eine offene Maschine, die neue Singularitätsprozesse zulässt.

Die „digitale Kulturmaschine“ Internet durchdringt das gesamte Dasein der Menschen, und zwar nicht mehr unterscheidbar und differenziert nach Unterschieden, wie sie sich sonst beim Kulturmenschen zeigen, also weder generationsabhängig noch zeitlich oder geschlechterspezifisch. Sie ist produziert in narrativen, ästhetischen, gestalterischen, spielerischen Formaten der Kultur.

Man könnte sagen, die Internetmaschine erzeugt eine nie dagewesene Interaktion zwischen dem einzelnen Subjekt und der Maschine, der Software, dem Web 2.0-Algorithmen. Es finden ständig Singularisierungsprozesse statt. Facebook kennt dich dann besser als du dich selbst, und Amazon wird demnächst die gewünschten Produkte schon vor der Bestellung ausliefern. Gleichzeitig werden die produzierten Daten entweder für kommerzielle Zwecke oder auch zu Überwachung der Bevölkerung ständig „verallgemeinert“, normiert und strukturiert. Orwells Überwachungsstaat „1984“ oder die Stasi-Überwachung in der ehemaligen DDR waren dagegen Kinderkram. Big Data is watching you, im Westen privat organisiert, in China staatlich.

Vor allem entsteht in den Sozialen Medien eine Aufmerksamkeitsökonomie, die auch für die politische Kommunikation prägend geworden ist. Dabei geht es nicht, wie man mal annahm, um die Demokratisierung der Inhalte, um eine Bildungsrevolution in einer Wissensgesellschaft, sondern um die Produktion von Affekten (Zustimmung – Ablehnung).

Wie in „normalen“ Märkten handelt es sich auch hier um eine Überproduktion von Inhalten, die um eine Knappheit der Aufmerksamkeit konkurriert. Eine Kulturindustrie gab es auch schon vorher, da konkurrierten wenige Kulturschaffende um ein großes Publikum. Jetzt konkurrieren viele Kulturschaffende (User) um noch mehr Publikum.

Gegenläufig zu dieser Singularisierung von Kultur entwickeln sich Neo-Gemeinschaften (Bubbles) von Verschwörungsgläubigen bis zu Fan-Gruppen. Diese Neo-Gemeinschaften sind aber nicht wie Bewohner eines Dorfes natürliche Kollektive, sondern selbstgewählte, und sie folgen damit der Logik des Besonderen. Gemeinschaft hier hat dabei aber auch die entlastende Wirkung, nicht als Individuum besonders sein zu müssen. Das gilt auch für Modetrends wie den Hipster, der sich zwar anders kleidet als Nicht-Hipster, aber alle Hipster sind sich wiederum ähnlich.

In der Welt der Dinge findet also eine Postindustrialisierung der Ökonomie durch Kulturalisierung statt.

Das Versprechen, über Bildung aufzusteigen, ist nicht mehr einhaltbar. Führten die Bildungsreformen der 1960er Jahre noch zu einer Öffnung der Karrierechancen im Rahmen der nivellierten Mittelstandsgesellschaft, ist das Ergebnis der Explosion der Bildungsabschlüsse (Abiturquoten) heute ein Paternostereffekt.

Es werden Aufsteiger*innen und Absteiger*innen produziert, Bildungsgewinner*innen und Bildungsverlierer*innen. Genügte in den 1970er Jahren noch ein Volksschulabschluss oder ein Realschulabschluss für eine sichere Position in der traditionellen Mittelschicht (Handwerker, Arbeiter) ist das heute nicht mehr der Fall, sondern ein entwertetes Abitur wird zunehmend zur Eintrittskarte in eine gesicherte Berufskarriere.

Es gibt einen kulturellen Wandel, der sich als Wertewandel darstellt. Es findet eine Silent Revolution, eine Kulturrevolution statt. Soziale Werte wie Sicherheit, Ordnung und Pflichtgefühl haben an Wert verloren. Das sieht man praktisch in Hamburg-Ottensen daran, dass zunehmend Sperrmüll vor Glascontainern abgestellt wird, frei nach dem Motto: wird schon jemand abräumen. In der Gesellschaft der Singularitäten stehen Selbstverwirklichung und Hedonismus im Vordergrund. Gute Ernährung und Gesundheit werden zu Fixpunkten der Lebensgestaltung. Essen rückt damit aus dem Raum des Profanen in den des Sakralen. Kannte man das schon bei der Bewertung von Wein, wird das jetzt auch auf das einzigartige Mineralwasser oder das Super-Korn ausgeweitet. Güter wie Nahrungsmittel werden mit Wert aufgeladen. Alles, was Leben ausmacht, unterliegt einem Validierungswettbewerb im neu kuratierten Leben. Es gibt keine Unschuld mehr, alles wird verglichen und bewertet.

In diesen Kreisel geraten dann auch alle Neubewertungsversuche im Rahmen von Identitätspolitik.  Das erzeugt zum einen ein hohes Befriedigungspotential. Weil man „In“ ist, dazugehört, aber auch eine große Enttäuschungsanfälligkeit, wenn man nicht dazu gehört. Die so erzeugte Frustration kann sich entweder nach Innen oder nach Außen richten. Depressivität und Aggressivität bedingen sich, ein Zeitalter des Zorns ist der politische Ausdruck.

Zum Schluss gilt es daher, die Auswirkungen auf den politischen Raum zu betrachten. Sie sind ebenfalls ambivalent.

Die zahlreichen positiven und negativen Phänomene und Entwicklungen bei der Kulturalisierung und Singularisierung des Sozialen sind in ihren individuellen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen und Wirkungen ohne Zweifel als politisch einzuordnen: „Die Politik der Spätmoderne unterscheidet sich grundsätzlich von jener der organisierten Moderne“, was bedeutet, eine „Politik des Allgemeinen (wird) mehr und mehr von einer Politik des Besonderen abgelöst“.

Aber es gibt nicht nur die neue Mittelklasse der hochqualifizierten Dienstleister*innen, einer Hyperkultur von Yoga, über Tai Chi, die globalen Player, sondern auch die abqualifizierten Dienstleister der Sicherheitsdienste, der Reinigung und des Transportwesens, aber auch der abgestiegenen Web-Designer, welche eher schlecht bezahlt werden.

Für die Modernisierungsgewinnler der neuen Mittelklasse wird insbesondere die Bildung zu einem offenen Kampfplatz um die Verteidigung der neu gewonnenen Privilegien. Das könnte auch ein Grund für das überraschende Scheitern der Schulreform in Hamburg 2010 gewesen sein. Scheinbar war doch alles klar, der schwarz-grüne Senat, die SPD, die Gewerkschaften waren dafür, nur einige Querulanten in CDU und FDP in den Elbvororten waren dagegen. Doch dann stellte sich heraus, dass die gesellschaftliche Mehrheit für die Schulreform nicht da war. Das könnte auch damit zu tun haben, dass gerade Wähler*innen der neuen Mittelschicht sich im Zweifel für eine elitärere Lösung entschieden haben. Genauso wie sie ihre Kinder lieber auf Gymnasien in sozial gehobenen Stadtteilen schicken. Wenn es um ihre Kinder geht, dann kennt die neue Mittelschicht keine Nachsicht. Der Typus der Helikoptereltern ist ein Produkt der neuen Mittelklasse. Diese Ellenbogenmentalität findet sich politisch in den Hartz IV-Reformen von Rot-Grün, die damals eine neue Dynamik auf dem Arbeitsmarkt entzünden wollte. Real ist die neue prekäre Unterklasse dabei herausgekommen. Als Pendant steht der Linksliberalismus der Einwanderungsgesetze und der Forderung nach Aufnahme der Flüchtlinge 2015 an seiner Seite. Doch auch 2015 zeigt sich, dass die Logik des Besonderen nicht nur fortschrittlich ist, denn sie mündet auch in kulturessenzialistische und kulturkommunitaristische Formen der Identität. Die „ethnische Gemeinschaft“ dient dann als Bollwerk gegen andere.

„Diversity“ und „Vielfalt in der Einheit“ als auch Abgrenzung und Ausweisung des Fremden sind zwei Seiten derselben Medaille.

Wie schon eingangs beschrieben ist die Politik des Allgemeinen verkörpert in den Volksparteien an ihr Ende gekommen. Die Dominanz des industriellen Sektors, wie sie noch die Politik des Wirtschafts- und Verkehrsministerium bestimmt und sich in Interessenkonflikten über ökonomische Verteilungskämpfe strukturiert, wird über kurz oder lang durch eine Dominanz der kulturellen Konflikte in einem neuen Liberalismus von Diversity im Rahmen einer globalisierten Welt oder einem kulturessentiellen Nationalismus wie in Polen oder Ungarn münden. Es wird daher neue Konflikte über nationale oder supranationale Entscheidungsfindung und der darin zugrunde liegenden Identitäten geben.

Fazit: Die soziale Logik der Singularitäten erlangt eine strukturbildende Kraft in der Ökonomie, in den Technologien und in der Arbeitswelt, in den Lebensstilen und den Alltagskulturen sowie in der Politik. Reckwitz hofft, dass die Logik des Allgemeinen zum Teil eine Renaissance schafft. Die in der klassischen Moderne dominante soziale Logik des Allgemeinen könnte heute neu die Begründung für eine neue Rolle des Staates bei der Sicherung der Infrastruktur spielen. Zum Beispiel in der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, einer Bürgerversicherung oder der allgemeinen Vorsorge für die öffentlichen Güter der Infrastruktur ist der Staat wiedergefordert, um die Gesellschaft als Ganzes aufrecht zu erhalten. Reckwitz spricht von einem regulativen Liberalismus, einem einbettenden Liberalismus als Alternative zu dem Liberalismus der Nullerjahre und als Antwort auf den Rechtspopulismus.

Was er nicht thematisiert (mein Lesestand) ist die historische Besonderheit der Bekämpfung der Erderhitzung, die zumindest politisch quer zu den beschriebenen Entwicklungen stehen könnte.

Ich könnte mir aber vorstellen, dass insbesondere die neue Besonderheit der Sicht auf die eigenen Kinder oder Enkelkinder zu einer stärkeren Berücksichtigung von Zukunftsfragen führt. Annalena Baerbock ist auch deshalb eine sehr gute Wahl, weil sie diese Lebenserfahrung hat. Vielleicht führt auch die Corona-Pandemie zu einer in Fragestellung von Gewissheiten wie zum Beispiel der neoliberalen Annahme, dass Staatsverschuldung zu den Ursünden von Politik gehört. Ja selbst die Gewissheit, dass es ohne Wachstum nicht geht, könnte in Frage stehen.

Wir werden sehen, ob die Wähler*innen bei der Bundestagswahl im September die Grünen als die aktuelle Partei der Logik des Besonderen, die weder linksliberal für die Öffnung der Grenzen eintritt, noch neoliberal für die Deregulierung staatlicher Aufgaben, sondern als Partei des regulativen Liberalismus mit der Regierungsverantwortung betrauen.

22.5.2021

Nachsatz 18.01.2022

Offensichtlich hat sich die soziale Neukonstituierung kaum auf das Wahlergebnis des Bundestagswahl ausgewirkt. Einzig bei den Jungwählerinnen haben Grüne wie FDP eine eigene Mehrheit gewonnen. Das kann an den Mängeln der Theorie liegen oder an der Autonomie des Systems Politik. Individuelle Performanz der Spitzenkandidatinnen spielt da eine Rolle genauso wie Stimmungen, Steingart hat diese Politikstimmungen mal als Kriechgift bezeichnet. Vielleicht aber die die Wirklichkeit doch komplexer als die Theorie.

[1] Einheiten des Sozialen
1.         Die Welt der Dinge – Industrieprodukte, Güter, Arbeit und Berufsrollen
2.        Die räumlichen Einheiten – Städte, Bauen, Verkehr
3.        Die zeitlichen Einheiten – Wiederholungscharakter, Modern Times, Home-Office
4.        Die kollektiven Einheiten – Organisationsmuster (Hierarchien) in z.B. Krankenhaus, Schule, Industriebetrieb, Staat