Definition von Identitätspolitik (Serie)

18. Februar 2022 Aus Von Uli Gierse

Von Jan Feddersen und Philipp Gessler im Buch „Kampf der Identitäten“ :

„Identitätspolitik ist der Name für einen politischen Ansatz und ein Theoriegebäude, die in erster Linie diskriminierte Gruppen der Gesellschaft in den Blick nehmen und deren Lage verbessern, ihre Anerkennung (oder Sichtbarkeit) erhöhen wollen. Diese Gruppen werden – so die grundlegende Theorie – definiert oder definieren sich selbst vor allem durch ihre ethnische, sexuelle oder kulturelle Prägung oder durch äußere Merkmale wie etwa die Hautfarbe oder »Behinderungen«, die sie von der Mehrheitsgesellschaft oder den mächtigen Gruppen in der Gesellschaft unterscheiden. Das ist oft verbunden mit Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft. Die (besondere) Prägung dieser Gruppen wird dabei als so bestimmend gesehen (oft sowohl innerhalb wie außerhalb der Gruppe), dass sie als essentieller Teil auch ihrer einzelnen Angehörigen betrachtet wird, also als ein Merkmal, ohne das die jeweilige Person kaum verstanden werden kann (und sich vielleicht selbst kaum versteht). Auch wenn jeder Mensch natürlich verschiedene Merkmale und Prägungen in sich vereint (also etwa: Frau, Managerin, Mutter, Ehefrau, Deutsche, Europäerin…), so wird im identitätspolitischen Konzept eine dieser Prägungen oder eines der Merkmale als bestimmend erachtet, sei es durch eigene Wahl oder durch gesellschaftliche Zuschreibung oder Markierung – eben als die Identität des jeweiligen Menschen. So stehen innerhalb der meisten (diskriminierten) Gruppen nicht die selbstverständlichen, weil menschlichen Differenzen untereinander im Vordergrund, sondern man betrachtet sich in der Regel als weitgehend homogen und wird meist von der Gesellschaft, dem Außen dieser Perspektive, auch so angesehen. Einfach gesagt: Die Mehrheitsgesellschaft sieht zum Beispiel in einer Frau vor allem die Lesbe, nicht die Managerin, Mutter, Deutsche, Europäerin et cetera. Der Begriff »Identitätspolitik« (identity politics) entstammt, so der traditionelle Verweis in der Wissenschaft, einer Gemeinschaft schwarzer, lesbischer und feministischer Frauen in Boston, die ihn in einer programmatischen Selbstbestimmung im April 1977 erstmals nutzten. Diese Gruppe nannte sich »Combahee River Collective« in Erinnerung an eine Kampfhandlung während des Amerikanischen Bürgerkriegs, bei dem am Combahee River in South Carolina 1863 rund 750 schwarze Sklav*innen befreit wurden beziehungsweise aus ihrer Knechtschaft fliehen konnten. Maßgebliche Hilfe leistete dabei die ehemalige Sklavin Harriet Tubman (etwa 1820–1913), die sich Jahrzehnte lang und sehr mutig für die Sklavenbefreiung und später auch für die Frauenbewegung eingesetzt hat. In dem Manifest von 1977 schreibt das »Combahee River Collective«, ins Deutsche übertragen: »Wir haben erkannt, dass die einzigen Menschen, die sich genug um uns kümmern, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst sind. Unsere Politik entwickelt sich aus einer gesunden Liebe zu uns selbst, unseren Schwestern und unserer Gemeinschaft, die es uns ermöglicht, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen. Diese Konzentration auf unsere eigene Unterdrückung ist im Konzept der Identitätspolitik enthalten. Wir glauben, dass die tiefgreifendste und möglicherweise radikalste Politik direkt aus unserer eigenen Identität hervorgeht, anstatt daran zu arbeiten, die Unterdrückung anderer zu beenden.« Tatsächlich haben die lesbischen schwarzen Frauen diesen Kernsatz ihrer Erklärung so offen formuliert, dass er mit nur wenigen Änderungen anschlussfähig für andere Minderheiten ist, weshalb diese den hier genannten Begriff und die Strategie der Identitätspolitik relativ einfach übernehmen konnten. Wichtig hier anzuführen ist auch, dass das »Combahee River Collective« die Idee der Mehrfachunterdrückung beziehungsweise -benachteiligung mitprägte, wonach sie nicht nur als Frauen, sondern eben auch als Schwarze und als Lesben unterdrückt seien. Das war ein Gedanke, der auch die feministische Bewegung beeinflussen sollte. Dieser internationalen Bewegung fühlte sich das Kollektiv zwar zugehörig, warf ihr aber gleichzeitig vor, die spezifische Unterdrückung schwarzer Frauen zu wenig zu beachten, ja in Teilen gar selbst rassistisch zu sein. Außerdem mündete diese Analyse der Mehrfachunterdrückung später in den Begriff und die Theorie der Intersektionalität, die bei der Identitätspolitik noch eine große Rolle spielen sollte. Die Universität Bielefeld beschreibt diesen nicht einfachen Begriff recht klar und bündig so: »In der Wissenschaft bezeichnet diese Perspektive den Anspruch, gesellschaftliche, institutionelle und subjektbezogene Dimensionen bei der Untersuchung von sozialen Ungleichheiten und Diskriminierungsformen zu verbinden.« Der Grundgedanke dabei ist, dass man eben auf mehrere Weise diskriminiert werden kann, also zum Beispiel als Schwarze, als Frau und als Lesbe gleichzeitig. Auch die Idee eines »strategischen Essenzialismus« hat beim »Combahee River Collective« einen ihrer Ursprünge. Demnach muss man, wenn man seine Ziele erreichen will, die eigene Identität zunächst betonen, um dies aufgeben zu können, sobald diese Ziele erreicht sind – im besten Fall und in der Theorie zugunsten des klassischen Universalismus: Alle Menschen sind – dann – gleich. Wieder einfacher gesagt: Ich betone heute mein Frausein, um morgen mein Menschsein zu betonen, wenn Gleichberechtigung erreicht ist. Der Anstoß des »Combahee River Collective« wurde, so die Idee in anderer Form oder mit anderem Namen nicht schon länger bestand, seit den Siebzigerjahren vor allem in den USA von vielen Minderheitenkollektiven übernommen, von afroamerikanischen Gemeinschaften anderer Prägung etwa, von homosexuellen, asiatisch- oder hispanischstämmigen, von indigenen oder Behindertengruppen et cetera. Angehörige dieser gesellschaftlichen Gruppen betonten ihre Erfahrungen als Opfer von Diskriminierung, gingen also von ihrer eigenen Unterdrückung aus, aber wollten dies in politische Aktion übersetzen. Individuelle Erfahrungen wurden und werden zu einem Impuls für das kollektive Handeln. Die Opfer der Gesellschaft bemächtigten sich ihres eigenen Schicksals, um es etwas pathetisch zu sagen. Alice Hasters, TV-Journalistin unter anderem für die ARD, beschreibt ein wesentliches Anliegen dieses Ansatzes in ihrem Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten an einem Beispiel so: »Mit ›Identitätspolitik‹ war ursprünglich gemeint, dass die eigene Identität, ob selbst gewählt oder nicht, die Perspektive auf politische Entscheidungsprozesse beeinflusst (…) Menschen mit Behinderung machen die Erfahrung, dass die Welt nicht auf ihre körperlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten ausgerichtet ist (…) Es wäre sehr unwahrscheinlich, dass diese Person, nur weil sie selbst nicht gehen kann, keine Treppen einplant. Viel eher denkbar wäre, dass – umgekehrt – eine nichtbehinderte Person die Rampen vergisst. Wenn marginalisierte Menschen also in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass dabei mehr Menschen berücksichtigt werden, besonders dann, wenn sie sich ihrer Identität bewusst sind. Das ist die ursprüngliche Idee von Identitätspolitik.« Ihrer Meinung nach handelt es sich dabei nicht einmal um eine besondere Strategie: »Eigentlich macht jede Person Identitätspolitik. Die diskriminierten öfter bewusst und die privilegierten öfter unbewusst.«

Feddersen, Jan; Gessler, Philipp (2021-10-10T23:58:59). Kampf der Identitäten: Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale (German Edition) . Ch. Links Verlag. Kindle-Version.