Die russischen Frage.

17. März 2022 1 Von Holger Stümpel

Etwas, das langsam Entschiedenheit verlangt. Auch und gerade von Menschen aus einer linken Tradition

Die Debatte um die Einschätzungen zur russischen Ukraine-Invasion und darüber hinaus zur “Lage” und zur Ursache des Konflikts, ziehen große Kreise. Auch die Einschätzung über den Charakter des aktuellen politischen Systems in Russland hat – gerade innerhalb der alten und neuen Linken – wieder Konjunktur. Letztlich geht es ja für viele von uns auch um Selbstverortung und um die Einordnung und aktuelle Bewertung ehemaliger Überzeugungen und politischer Träume.

Aber erst noch einmal zu den Grundlagen dessen, was der russischen Aggression unmittelbar vorausging.

Die russischen Sicherheitsgarantien

Russland formulierte mehrfach die Forderung nach umfassenden „Sicherheitsgarantien“ und definierte darüber auch den Anspruch auf dauernde Kontrolle über seine Nachbarstaaten, bei gleichzeitiger Reduktion derer Souveränität.

Der russische Ökonom Wladislaw L. Inosemzew kommentierte dies in der “Neuen Zürcher Zeitung” so: „Russland wolle Kontrolle über das frühere Imperium bewahren und setze dabei auf eine Unterwerfung seiner Nachbarn. Dies sei unvereinbar mit Staaten, die ihre Nachbarn so integrieren, dass supranationale Gemeinwesen oder zumindest Allianzen unter Gleichen entstünden.“ Dieses und zwar genau dieses abzusichern, ist der Kern des Gezeters um russische Sicherheitsgarantien.

“Eine Frage von Leben und Tod” seien Sicherheitsgarantien für Russland – das erklärte  Putins Sprecher Dmitri Peskow am 25. Dezember. Diese müssten unverzüglich, rechtsverbindlich und bedingungslos gegeben werden, so die Forderungen aus Russland. Sollten sie nicht erfüllt werden, droht Putin mit einer “militärisch-technischen Antwort”.

Gemeint waren damit zwei Vertragsvorschläge die Russland am 15.12.2022 der US-Regierung übergeben hatte und zwei Tage später

 Die drei Forderungen Russlands

1. Rücknahme der Erklärung von 2008, die der Ukraine und Georgien einen NATO-Beitritt in Aussicht stellt. Keine Integration weiterer Westbalkanstaaten in die NATO.

2. Keine Aufstellung von Atomwaffen in Europa, die Russlands Staatsgebiet erreichen können.

3. Keine Stationierung von NATO-Truppen in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und des Baltikums bzw. Abzug der vorhandenen.

Diese Vertragsentwürfe waren – aus heutiger Sicht – sicherlich dazu angetan, einen Vorwand für die Ukraine-Invasion zu schaffen und einen begrenzten Casus Belli zu organisieren.

Da dies alles mithilfe der damals bereits vorhandenen 120.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze orchestriert wurde, war die Drohung bei Versendung des russischen “Vorschlags” (Mitte Dezember 2021) allerdings schon sehr evident. Kurz darauf wurde weitere russische Heeres- und Luftwaffenverbände nach Belarus zu weiteren “Übungen” in Marsch gesetzt (11. und 12.02.2022 Einheiten mit voller Ausrüstung ca. 60.000 Soldaten).

Der Westen reagierte ablehnend auf die 3 Forderungspunkte, bot aber ein ganzes Geflecht an wieder aufgenommenen Rüstungskontrollverhandlungen an. Dem Vorschlag sah man stark an, dass er von den westeuropäischen, alten Nato-Staaten implementiert war. Die USA sowie die baltischen und osteuropäischen NATO-Staaten, wollten – in der Antwort auf die als unverschämtes Ultimatum empfundenen russischen Vorschläge – eigentlich gar nicht so weit gehen.

Tatsächlich ist die gemeinsame NATO-Positionzu den jeweiligen Punkten.

1. Das Bündnis ist grundsätzlich offen für neue Mitglieder. Es gilt die – auch mit Russland vereinbarte – Bündnisfreiheit für alle WP-und SU-Nachfolgestaaten und natürlich erst recht für die Westbalkanstaaten.

2.Russland vergleicht sich immer nur mit der USA, weshalb Macron und Scholz auch bestenfalls nur ein bisschen an Putins kilometerlangen Rokokotischchen rumlungern dürfen und sich dafür das wunderbare putinsche Historogeblähe reinziehen müssen (aber egal, die Amis haben ja schließlich auch Stretchlimousinen). In der Sache ist das essentielle Interesse der europäischen NATO-Staaten natürlich aus Europa angemessen zu antworten, also eine reziproke Situation herstellen zu können. Genau dagegen versuchen die Russen , durch die Fixierung auf die USA,  eine Sichtweise durchzusetzen, in der amerikanischen taktische und Mittelstrecken-Nuklearwaffen aus Europa abgezogen werden müssen und nur noch in den jeweils eigenen Ländern vorgehalten werden dürfen. Amerikanische Systeme ständen dann in Ohio, während die der Russen direkt an der Grenze zum Baltikum und der Enklave Kaliningrad stationiert sind. Es ist der Versuch, über die Hegemonie bei kurzen und mittleren Nuklearwaffensystemen, ein Ende der abgestuften Abschreckung zu erreichen, die nukleare Teilhabe abzuschaffen und den Einfluss der USA, bei einer zugespitzten militärischen Konfliktsituation auf dem Gefechtsfeld Europa, zu minimieren. Die USA wären dann nur noch in der Lage, glaubhaft mit dem Einsatz von Interkontinentalraketen zu drohen, was dann vielleicht doch sehr unwahrscheinlich wäre.

3. Auch hier geht es um eine reziproke Lösung (siehe meinen Text von neulich “Sind die Russen betrogen worden”. Das eindeutige Übergewicht der Russen bezogen auf konventionelles Material und Truppenstärken im Grenzbereich,kann nicht wirklich zu abziehenden Einheiten der NATO auf der anderen Seite führen.

Die Punkte 2. und 3. sind also nur über Rüstungskontrollverhandlungen überhaupt sinnvoll aufzunehmen. Genau dies schlug die NATO (wie gesagt vor allem auf Druck der Westeuropäer) dann auch vor. Die erneute Legendenbildung von putinscher Seite, die NATO hätte sich seinen Diktatsversuch nicht gebeugt, ist sowieso obsolet, weil wir ja nun alle definitiv wissen, was geplant war.

Ist Russland ein akzeptabler Gegenspieler zur Eindämmung des US-“Imperialismus“ ?

Neben den Aspekten der letzten Vorkriegsphase, ist es mir vor allem wichtig, einen realistischen Blick auf das Russland Putins zu werfen, um dann vielleicht von so manchem Trennungsschmerz produktiver Abschied nehmen zu können. Das Putinregime mit seinen drei Hauptkomponenten Putin, Lawrow und Schoigu ist ein Haufen pathologischer Lügner und skruppelloser Blutsäufer und das nicht erst seit heute. Die Zerstörung Grosnys und die Vernichtung der meisten syrischen Großstädte hätte allein schon vor dem Strafgericht in Den Haag enden müssen. Da uns aber Tschetschenen und Syrer nicht so nah und sympathisch sind, wie die Ukrainer und außerdem auch keine latente Kriegsgefahr für uns entstand, waren das eher Themen für den Weltspiegel. Das änderte sich auch dadurch nicht, dass wir mit den Folgen, durch die Flüchtlingsbewegungen in den Jahren 2015/2016, durchaus zu tun hatten. Die Kriegsführung der russischen Armee ist dabei grundsätzlich auf massiven Terror gegenüber der Zivilbevölkerung ausgerichtet. Absolut ruchlos. Es war ja schließlich nicht Assads Luftwaffe die Fassbomben auf Aleppo abgeworfen hat.

Innenpolitisch ist Putin mittlerweile zu einem faschistoid-völkischen Tyrannen mutiert, der die sehr stark formierte Gesellschaft, immer weiter von den jungen gut ausgebildeten Mittelschichten entfernt. Wer Putins über einstündige Historienfaselei über die Nichtnationalität “ukrainisch” verfolgte, sah sich deutlich eher an einen weißarmistischen Zarengeneral nach der ersten Flasche Wodka erinnert, als an einen Sowjetführer. Seine “Idee” von einem großrussischen Kernreich aus Belarus, der Ukraine und der russischen Föderation wird nachdrücklich durch die Ideen des russischen Rechtsextremisten und Heideggeranhängers  Alexander Dugin inspiriert, der ein – gegen den westlichen Individualismus gerichtetes – eurasisches Imperium mit Grossrußland als Kern anstrebt.

Natürlich hört sich das alles nach 19. Jahrhundert an, aber es ist doch die Frage, wieviel Opfer es, in- und außerhalb Russlands, eigentlich noch fordern wird, diesen Wahn voranzustreiben. Es ist ja richtig, dass Russland unter den kapitalitischen Blöcken sicherlich der am wenigsten Leistungsfähige ist. Das Geschäftsmodell,sich fast ausschließlich (neben Waffen und staatlichen sowie privaten Söldnerdiensten) auf den Export von fossilen Brennstoffen zu konzentrieren, scheint zum Untergang verurteilt, ist doch die zahlungsfähige Kundschaft durch die Klimakrise ganz woanders hin unterwegs. Aber man mag sich die Untergangszuckungen nicht vorstellen, wenn wir jetzt täglich das grauenhafte Schicksal der Menschen in der Ukraine vor Augen haben.

Auch in Russland selbst wird es sicherlich noch deutlich zugespitzter zugehen. Die Mitarbeiterin des russischen Staatfernsehens mit ihren Aktion während der Hauptnachrichtensendung und alle anderen mutigen Menschen, die sich auf die Straße trauen, sind bewundernswert und verdienen unsere uneingeschränkte Solidarität. Es ist schon so lange unzumutbar in Russland für Menschen mit „systemschädlichen“ Nachrichten und Aktionen. Die Ermordung der Investigativjournalistin Anna Politkowskaja 2006 bildete den Auftakt zu einer Kette von Aktionen, Verbrechen und Drangsalierungen. Ihre Zeitung, die Nowaja Gaseta erhielt, über ihren heutigen Chef Dmitri Muratov, 2021 den Friedensnobelpreis, gemeinsam mit einer pakistanischen Journalistin. Wahrscheinlich deshalb, ist die Zeitung heute fast das einzige oppositionelle Medium, das seine Arbeit aktuell noch nicht einstellen musste. Letztlich aber nur eine Frage der Zeit. Bis zu 15 Jahre Haft, wenn du Krieg Krieg nennst ist eine grobe Keule. Hinzu kommt, dass massenhaft Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seit 3 Jahren zu ausländischen Agenten “ernannt” werden und ihren Beruf dann nicht mehr ausüben dürfen. Die Journalistin Irina Slawina (Chefredakteurin der KOZA.Press.) wurde zuerst zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie einen Gedenkmarsch zu Ehren des ermordeten liberalen Politikers Boris Nemzov durchgeführt hatte. Nach diversen weiteren Strafen wegen “respektloser Äußerungen über den russischen Staat” und ähnlicher prägnanter Taten verbrannte sich Irina Slawina am 02.10.2020 selbst vor den Polizeihauptquartier in Nischni Nowgorod.

Auch NGOs werden zunehmend als “ausländische Agenten” erklärt und müssen ihre Arbeit einstellen (als Beispiel die von Andrej Sacharow gegründete Menschenrechtsorganisation Memorial). Diese Atmosphäre wird sich durch die wenig erfolgreiche Ukraine-Invasion sicherlich mittelfristig noch verstärken. Wenn Putin nicht gestürzt wird, stehen den liberalen Bevölkerungsgruppen harte Zeiten bevor. Viele von Ihnen werden gen Westen emigrieren. Angeblich hatte Russland in den letzten zwei Jahren z. B. einen Aderlaß von 70.000 Menschen mit abgeschlossener wissenschaftlicher Ausbildung.

Gleichwohl wird das System Putin nicht ohne Lärm verschwinden. Wahrscheinlich werden wir demnächst auch wieder Zeugen der beliebten Mordanschläge auf in- und ausländische Opponenten. Der Giftanschlag auf den ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko, auf den ehemaligen Agenten Sergei Skripal und seine Tochter in London, die Tiergartenmorde an vier georgischstämmigen Männern in Berlin und die Vergiftung Alexej Nawalnys, alles mit großer Wahrscheinlichkeit vom russischen Geheimdienst durchgeführt. Was für ein System. Einfach zum Kotzen.

Stellen wir dann noch in Rechnung, dass kein kapitalistischer Block praktisch neoliberaler funktioniert, als der russische und dass die Reichtümer der Oligarchen nichts anderes sind, als das über ziselierte Kleptokratie angeeignete Volksvermögen aus Sowjetzeiten, bleibt für mich nur noch die Frage, was Linke oder Linksliberale wie uns, eigentlich daran hindert, der NATO alles Gute zu wünschen. Die uns nahestehenden Menschen in Russland und die geschundenen Menschen in der Ukraine würden nichts anderes verstehen.