Die Sehnsucht nach Identität (Serie)

30. Januar 2022 0 Von Uli Gierse
„Es waren nicht Hitler oder Himmler, die mich verschleppt, geschlagen & meine Familie erschossen haben. Es waren der Schuster, der Milchmann, der Nachbar, die eine Uniform bekamen und dann glaubten, sie seien die Herrenrasse.” (Karl Stoika, Auschwitzüberlebender)

 „Wer bin ich und wenn ja wie viele“, möchte man antworten, wenn es um die Frage der Identität geht. Doch das ist nur eine Verballhornung des Problems. In der aktuellen Debatte wird Identitätspolitik als Spaltungserzählung debattiert. Das trifft sicher auf die Versuche von rechten Ideologien wie PEGIDA oder der angeblich nötigen Abwehr von Umvolkung durch islamische Völker durch Identitäre zu. Aber auch die identitätspolitische Verweigerung des Dialogs von antirassistischen und antikolonialistischen Gruppen  oder das eingeforderte Recht auf Selbstdefinition durch z.B. Transsexuelle wird häufig als Aufkündigung des Diskurses oder gar als Verabschiedung von dem Ziel einer gemeinwohlorientierten Politik. 

Aus Sicht der Minderheiten ist die Abgrenzung von den Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft jedoch ein notwendiger Akt zur eigenen Emanzipation., die sich einreiht in die Emanzipation der Frauen, dann der von Schwulen und Lesben. War der Kampf um Anerkennung von Schwulen und Lesben noch eine Frage der Gleichberechtigung mit heterosexuellen Orientierungen von Männern und Frauen, so hat sich die Debatte verschoben, denn bisexuelle Orientierungen, aber vor allem Transgeschlechtlichkeit lassen sich nicht mehr in der biologischen Unterscheidung von Mann oder Frau einordnen. Die Debatte hat deshalb darauf reagiert und geht inzwischen von einer nicht biologischen Geschlechtlichkeit, Gender, aus, die sozial geprägt ist und per Selbstdefinition als eines unter vielen Modellen anerkannt werden will.

Wahrscheinlich analog hat sich die Definition von Rassismus verschoben und ordnet Schwarzsein (oder People of Colour) und Weißsein nicht biologistisch, sondern als gesellschaftlich ein. Die Machtverteilung sei rassifiziert.

Amnesty International drückt das dann so aus: „ Weiß” und “Weißsein” bezeichnen ebenso wie “Schwarzsein” keine biologische Eigenschaft und keine reelle Hautfarbe, sondern eine politische und soziale Konstruktion. Mit Weißsein ist die dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus gemeint, die sonst zumeist unausgesprochen und unbenannt bleibt. Weißsein umfasst ein unbewusstes Selbst- und Identitätskonzept, das weiße Menschen in ihrer Selbstsicht und ihrem Verhalten prägt und sie an einen privilegierten Platz in der Gesellschaft verweist, was z.B. den Zugang zu Ressourcen betrifft. Eine kritische Reflexion von Weißsein besteht in der Umkehrung der Blickrichtung auf diejenigen Strukturen und Subjekte, die Rassismus verursachen und davon profitieren, und etablierte sich in den 1980er Jahren als Paradigmenwechsel in der englischsprachigen Rassismusforschung. Anstoß hierfür waren die politischen Kämpfe und die Kritik von People of Color.“ [1] (Amnesty International 2017).

Bevor ich zu einer Bewertung komme, eine grundlegende Problematik des Identitätsbegriffs in der Politik:

Wenn man von Identitätspolitik spricht, geht es nicht um die Identität des einzelnen Individuums, sondern um die Konstruktion von alten und neuen Kollektiven. Und das ist schon immer ein Bestandteil des Politischen gewesen. Politik versucht immer Macht zu gewinnen oder zu erhalten durch Erzählungen, die die eigene Position als alternativlos oder gar universell darstellt, um so Mehrheiten zu gewinnen. Identitätsbildung spielt dabei eine wichtige Rolle, ob im emanzipatorischen Bürgertum des ausgehenden 18. Jahrhundert oder in der Konstituierung der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert. Identitätspolitik war durchgängiges Merkmal aller Parteien in der Weimarer Republik. Durchbrochen wurde diese enge Verknüpfung in der Konstruktion von Volksparteien nach 1949 durch die CDU und später der SPD, die ein über ihren engeren sozialen Kern (Bürgertum, Arbeiterklasse) hinausgehendes allgemeineres  Interesse formulierten.

Damit haben beide Großparteien der Bundesrepublik Deutschland den Pfad der Durchsetzung von Partikularinteressen als Mehrheitsmodell verlassen und sind auf die Konstruktion von demokratischer Kompromissbildung eingeschwenkt.

Doch zurück zu den Ursprüngen des Denken in kollektiven Identitäten. Immer geht es um die Gefolgschaft sichernde Polarisierung „Wir gegen die Anderen“.  Rechte Ideologien sprechen Völkern und Nationen eine kulturell, ethnisch oder rassistisch gedachte Identität zu, die Herrenrasse muss gegen „Fremde“ verteidigt werden (Siehe Zitat oben). Von den Individuen wird Ein- und Unterordnung in dieses kollektive Exklusivität gefordert. Dass wird dann in Neusprech identitäre Demokratie genannt, die durch eine rassistisch oder ethnisch gefasste Identität (Altsprech: Volksgemeinschaft) von Regierten und Regierenden ausgeht und alle, die sich nicht zu dieser Identität gehören, ausgrenzt.

Eine ähnliche Konstruktion gibt es bei leninistisch, stalinistisch oder maoistischen Parteien, die die eigene Herrschaft als Diktatur über eine soziale Identität („Proletariat“) gegen das „Kapital“ als historisch notwendigen Zeitabschnitt zur Lösung aller Klassenfragen proklamiert.

Spoiler: Dabei geht es genau wie bei den Rechten um die Legitimierung von Mafiastrukturen zur Absicherung von persönlicher Macht und persönlichem Profit.

Eine kollektive Identität wird also instrumentalisiert zur Herrschaftsabsicherung. Dem gegenüber stehen die liberal – demokratischen Ideen, die die politische Herrschaft nicht über Kollektive, sondern auf Grundlage von selbstbewussten, autonomen Individuen in demokratischen Wahlen legitimieren sollen.

Neben der bürgerlich-liberalen Position, die Freiheit des Besitzbürgers gegen den interventionistischen Staat abzusichern, gibt es auch eine linke Traditionen, die im Einklang zu liberal- bürgerlichen, demokratischen Traditionen stehen.

Dazu gehört sicher die Sozialdemokratie des Godesberger Programms von 1959, aber auch neomarxistische Denkrichtungen, die versuchen Demokratie und bürgerlich-liberale Ideale mit der Überwindung von Klassenverhältnissen zu verbinden. In Anknüpfung an den frühen Marx sprechen diese von dem Ziel einer freien Assoziation von freien und gleichen Individuen.  Die sich als emanzipatorische Bewegung begreifenden Linken lehnen das bürgerlich-liberale Ideal der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung sowie menschenrechtliche Werte also keineswegs ab. So war es daher im Nachherein logisch, dass große Teile der linksradikalen Spontibewegung in Frankfurt, namentlich Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit, sich zu bürgerlich-liberalen Vertretern des Realoflügels in den Grünen entwickelten.

Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Diskussion über Identitätspolitik sollte daher erstens sein, wer in diesen Konzepten und Ideologien als Subjekt politischen Handelns angenommen wird? Kollektive wie die Arbeiterklasse, das Volk, die Weißen, die Schwarzen, die religiöse Gemeinschaft oder einzelne autonome Individuen?

Man sollte sich also fragen, ob Autonomie und Freiheit des Individuums im Vordergrund steht oder das Kollektiv. Soll das Individuum von kollektiven Zwängen und Traditionen ( auch z.B. des Rassismus) befreit werden, emanzipiert werden oder verlangt die kollektive Identität Unterordnung und Gehorsam und wird das Individuum als nachrangig oder vernachlässigbar betrachtet? Dazu ein lustiges Beispiel aus den Diskussionen der 80er Jahre: Die Unterdrückung der Frau wurde als zu vernachlässigender Nebenwiderspruch zum Klassenkampf in orthodox-linken Gruppierungen angesehen. Soweit die Grundeinordnung.

Man muss als zweitens unterscheiden, ob die politische Erzählung die Welt emanzipatorisch  durch die Beseitigung von Unterdrückung verändern will oder ob eine Herrschaftserzählung versucht, Partikularinteressen als universal darzustellen. Denn auch letzteres ist Identitätspolitik.

Identitätspolitische Positionen, die von einer einfachen Einteilung in privilegierte Weiße und benachteiligte Schwarze ausgehen, stellen ersichtlich eine sehr vereinfachende Sicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit dar. Zwar ist es nicht sinnvoll zu bestreiten, dass es zweifellos ein „White Privilege“ gibt, das darin besteht, keine negativen rassistischen Erfahrungen als gesellschaftliche Gruppe gehabt zu haben. Das heißt aber nicht, dass Weiße nicht von anderen Formen von Benachteiligung betroffen sein können und sich deshalb mit guten Gründen selbst als gesellschaftlich Benachteiligte begreifen könnten.

Der identitätspolitische Antirassismus operiert häufig mit einer grob vereinfachenden binären Weltsicht und der Äquivalenzkette „Herrschende und Beherrschte – Privilegierte und Benachteiligte – Weiße und Schwarze – Gut und Böse“ und scheitert dann analytisch natürlich an komplexen politischen Krisen wie dem Nahostkonflikt.

Zu einer binären Weltsicht neigt auch der Kampf um sexuelle Selbstbestimmung, wenn er, obwohl die selbstbewusste Formulierung „Ich bin das, was ich sein will.“, wenn Positionen, die das noch nicht nachvollziehen konnten, als „menschenfeindlich“ oder reaktionär gekennzeichnet werden.

Zusammengefasst kann man also sagen, minderheitspolitisch wie antirassistisch ist die Sehnsucht nach Identität verständlich, da ein erfolgreicher Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und die Befreiung von rechtlicher Ungleichheit erstmal den Zusammenschluss des eigenen Lagers erfordert. Vereinfachungen und klare Polarisierungen helfen dabei. Soweit sollte man das als bekämpfter alter weißer Mann sportlich sehen und großzügig sein. Aber es gibt auch Grenzen.

Eindeutig konturierte kollektive Identitäten gehen immer mit folgenreichen Ausblendungen der Realität einher. Die Vorstellung einer durchgängig rassistisch strukturierten Gesellschaft zum Beispiel wird den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht gerecht.

Im Gegenteil ist der erfolgreiche Protest sowohl von Anti-Rassisten als auch der LSBTQ- Bewegungen schon ein Zeichen der Veränderung.  In den wirtschaftlich globalisierten Ländern wird auch von Regierungen oder Sportverbänden eine antirassistische Politik gemacht, denn Rassismus wirkt auch für die Anwerbung von notwendigen Fachkräften störend. Sachsen und die östlichen Bundesländer sind da mit ihren großen rechtsradikalen Bevölkerungsanteilen echt benachteiligt.

Jede Minderheitenbewegung sollte aber vor allem ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren, die Merkmale für Benachteiligung und Ausgrenzung doch überwinden zu wollen und das heißt doch, sie müssen verschwinden und nicht herausgehoben werden.


[1] Amnesty International (2017). Glossar für diskriminierungssensible Sprache. https://www.amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible-sprache. Zugegriffen: 25.1.2022