Ist Lützerath etwa der grüne Sündenfall, oder eher ein Prototyp der Dialektik

16. Januar 2023 1 Von Holger Stümpel

Ist Lützerath etwa der grüne Sündenfall, oder eher ein Prototyp der Dialektik ?

von Holger Stümpel

Uli stellt in seinem Beitrag vom 15. Januar die Frage, ob Lützerath das Hartz IV der Grünen ist ? Ehrlich gesagt: nichts ist absurder als das.

War doch Hartz IV tatsächlich mit die Grundlage für die starke Spreizung der Einkommensschere und die Grundlage zur Etablierung eines nach Millionen zählenden Niedriglohnbereichs in Deutschland. Die Abschaffung der damaligen Arbeitslosenhilfe führte ab 2005 dazu, dass jede/r Arbeitslose nach dem Bezug von Arbeitslosengeld direkt in die Grundsicherung (Hartz IV genannt) fiel und nicht wie vorher noch jahrelang Arbeitslosenhilfe (zuletzt 53% vom ehemaligem Nettoverdienst) beziehen konnte. In einer Situation, in der Industriearbeitsplätze abgebaut und Einfacharbeitsplätze millionenfach verschwanden, hatte diese “Reform“ – mit ihrer Drohung des recht unmittelbaren sozialen Abstiegs – eine enorm disziplinierende Wirkung. Ohne die dadurch ausgelösten Deklassierungsängste wäre die Etablierung eines Arbeitssektors mit nicht existenzsichernden Arbeitseinkommen niemals in der erlebten Dynamik gelungen. Auch nicht in dem Maße gelungen wäre sicher die Vertreibung eines für die Sozialdemokraten nicht ganz unwesentlichen Wählerklientels, worauf Uli sicherlich mit seiner Analogie(frage) anspielen möchte. Was aber bei Hartz IV – neben dem Symbol, welches es sicherlich auch war – Fakt ist, ist der materielle Kern in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über Ressourcen und die Komplizenschaft von Rot/Grün (Schröder/Fischer) bei der Etablierung von Geschäftsfeldern und -modellen, bei der die Gesellschaft über die Grundsicherung in eine Kofinanzierung nicht existenzsichernder Arbeitseinkommen gezwungen wird. Nutznießer dieser Regelung waren dann in der Regel die Art von „Leistungsträgern“ die auch heute noch in der Ampel ihre Bauchredner sitzen haben.

Was ist nun aber mit Lützerath ? Natürlich ist jede Tonne Braunkohle, die gefördert und dann natürlich auch verfeuert wird, klimapolitisch abzulehnen. Natürlich ist es Wahnsinn, wenn noch jahrelang CO² emitiert wird, obwohl dies wahrscheinlich zu vermeiden wäre. Es ist auch natürlich nicht akzeptabel, dass Dorfgemeinschaften ausgelöscht werden um Umweltsünden zu begehen. Aber wie sieht es am Punkt Lützerath denn wirklich aus? Bei dem Dorf handelt es sich um 3 Bauernhöfe, die vor knapp 10 Jahren aufgegeben wurden und wo seit Jahren die Immobilien schon von RWE aufgekauft waren. Juristisch war die Sache ausgeklagt und im Sinne der Umweltbewegung verloren. Worin besteht nun der „Sündenfall“ der Grünen? Sie hätten Lützerath „geopfert“ und damit ihre Werte verraten, so der Vorwurf. Natürlich geht es bei Werten auch immer um Verantwortungsethik. Die Grünen hätten die Verantwortung für die Abbaggerung von Lützerath, dadurch dass sie in Land und Bund den Braunkohlekompromiss abgesegnet hätten. Tatsächlich haben die Grünen dem Kompromiss zugestimmt, auf dessen Grundlage Lützerath jetzt verschwindet. Dafür müssen sie selbstverständlich die Verantwortung übernehmen. Aber ganz so leicht ist es dann doch nicht mit der Verantwortungsethik. Natürlich sind Politikerinnen und Politiker verantwortlich für das was sie tun. Aber gleichermaßen sind natürlich auch verantwortlich für das was sie nicht tun. Hätten die Grünen darauf verzichten sollen, einen Kompromiss zu befördern, welcher 5 Dörfer mit heute noch 500 BewohnerInnen aus der Abbauzone nimmt und die Kohle darunter endgültig im Boden lässt. Hätten sie darauf verzichten sollen, den Kohleausstieg in NRW von 2038 (Kohlekompromiss Regierung Merkel/Scholz) auf 2030 vorzuziehen und damit auch einen dauerhaften Druck für die Ostdeutschen Braunkohlereviere zu erzeugen. Wegen Lützerath ?

Nicht wirklich Digga.

Dagegen spricht jede ernstgemeinte Verantwortungsethik. Gleichzeitig ist es trotzdem fast das Gegenteil dessen, was die SPD und natürlich auch die Grünen bei den Hartzgesetzen gemacht haben. Nämlich das Geschäft der Gegenseite zu betreiben, ohne positive Effekte zu erzielen, dafür aber lange konsumptive und Vertrauensdellen zu erzeugen.

Mir ist aber natürlich auch klar, was Lützerath wirklich ist. Es ist kein Dorf, es ist noch nicht mal mehr ein Wohnort. Es ist aber eines ganz sicher. Es ist ein hochrangiges Symbol. Ein Symbol dafür, dass der Kampf darum geführt werden muss, die Förderung fossiler Brennstoffe so schnell wie möglich zu beenden. Dass dafür um jede Tonne Kohle gestritten und an jedem geeigneten Ort der Konflikt um diese Frage gesucht werden muss, ist auch meine Meinung. Dass dabei die Klimabewegung auch in den Konflikt mit der Partei gerät, die in diversen Koalitionsstrukturen darauf angewiesen ist, materielle Politik in Kompromissen zu gestalten, muss ausgehalten werden. Beide, die Grünen und auch die Klimabewegung, haben zueinander an dieser Frage ein dialektisches Verhältnis. Ganz im ursprünglich hegelschen Sinne sind sie aufeinander angewiesen um über These „Keine Tonne Kohle mehr aus dem Boden“ und die entgegengesetzte These „eines Kompromisses der auch wieder Förderung beinhaltet“ sich dialektisch zu ergänzen und gemeinsam ein Fluidum von Aktion und politischer Kompromissumsetzung zu erzeugen, das sich gegenseitig verstärkt und auf eine höhere Funktionalität hebt.

Oder ganz einfach beschrieben. Je mehr Aktion von den Aktivistinnen angeschoben wird, je prägender dies in der Gesellschaft wahrgenommen wird, umso besser können inhaltlich die Kompromisse ausfallen, die von Grünen Regierungsmenschen herausgehandelt werden. Je größer der Fortschritt, umso besser für die Bewegung Beachtung zu finden, ihre Positionen zu schärfen und optimistisch neue Aktionsziele zu wählen. Es sind zwei Seiten eines dialektischen Prozesses, der tunlichst freigehalten sollte, von allzu großen Verratsgeschrei, Aktionsdistanzierungen und enervierenden Wertegeschwafels.

Meine Position zu Lützerath ist klar (s.o.), trotzdem wäre ich am Wochenende zur Demonstration gefahren (wenn ich nicht leider im Krankenhaus gelegen hätte).

Aus der einfachen Überlegung heraus, dass die Macht der Aktion heute unser aller Kompromissspielraum von morgen ist. Ohne das Ferment der Aktivistinnen und ihrer Aktionen entsteht für die grüne Regierungstätigkeit gar kein positives Momentum. Wer immer noch glaubt, dass dies aus der Regierungstätigkeit selbst erzeugt werden kann, befindet sich doch hoffentlich auf einsamer Flur. Wir sind da aufeinander angewiesen, zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele. Ich will gern einräumen, dass diese Haltung, nicht so wahnsinnig prickelnd ist für viele junge Menschen mit einem altersgerechten Zivilisations-Pessimismus und gepushter Endzeiterwartung , aber wir müssen einfach versuchen uns wechselseitig zu erklären und auch ggf. Kritik zu ertragen. Mir hätte – in der Frühphase der Anti-AKW-Bewegung – auch niemand so kommen dürfen.

Gleichwohl ist der Protest von Lützerath wichtig und gut und keinesfalls ein Argument gegen den eingegangenen Kompromiss. Eher im Gegenteil.

Let the good times roll.