Krieg gegen die Ukraine: Hat der Westen eine Mit-Schuld?

Krieg gegen die Ukraine: Hat der Westen eine Mit-Schuld?

20. April 2023 0 Von Gastautor

von HANS DALL

Nach Auffassung der Hamburger Organisatoren des Ostermarsches 2023 gefährdeten vor allem die USA und die Nato den Weltfrieden. Der Krieg in der Ukraine hätte verhindert werden können, wenn die Nato die Sicherheitsinteressen Russlands nicht ignoriert hätte (nach NDR

10.4.23). Damit geht die Ostermarsch-Organisation noch über das “Manifest” von

Wagenknecht/Schwarzer hinaus, dass sich mit seinen Forderungen und Appellen auch nicht an Russland, sondern vor allem an den Westen richtet und sich gegen Waffenunterstützung für die überfallene Ukraine und für Kompromisse zu Lasten der Ukraine ausspricht.

Russland ist im Ukraine-Krieg eindeutig der Aggressor, ist eindeutig schuld an den kriegerischen Auseinandersetzungen, an Verletzungen des Völkerrechts und von Menschenrechten. 141 Staaten in der UNO teilen diese Ansicht. Trotzdem gibt es in

Deutschland im linken und wie im rechten Milieu die Meinung, der Westen sei mitschuld, weil Russland sich durch die Nato bedroht fühlte.

Zunächst: Dieses russische Argument ist nur eines unter mehreren, die je nach Bedarf hervorgeholt wurden: Die Ukraine hätte eigentlich kein Existenzrecht, die ukrainische Bevölkerung sei eigentlich sprachlich, kulturell und historisch Teil Russlands, die Urkaine wird im russischen Regierungslager gern als “Kleinrussland” bezeichnet; Kiew sei die gemeinsame Urzelle von Russland und der Ukraine; die demokratisch gewählte Regierung in der Ukraine bestünde aus Faschisten, die einen Genozid in der Osturkraine und einen Angriff auf Russland geplant hätten. Im russischen Fernsehen begründete Putin den Krieg gegen die Ukraine damit, dass die Ukraine ein reines Produkt des CIA sei.

Und dann: Der Westen hätte Russland eingekreist, hätte vor, Russland zu zerschlagen. Gesellschaftliche Liberalität und demokratische Strukturen (wie in der Ukraine) seien die weit gefährlichere Form des Faschismus als der frühere deutsche (so ähnlich formuliert in einer Moskauer Zeitung im Februar 2022). Russland verteidige die traditionellen Werte gegen westliche Dekadenz.

Mal ganz abgesehen davon, dass auch Hitler am 1. September 1939 den Krieg mit einer Bedrohung durch Polen gerechtfertigt hat (“..seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen…”), es wäre ohne Weiteres möglich gewesen, Anfang 2022 etwaige Konflikte mit der Ukraine und mit dem Westen in Verhandlungen einzubringen, die UNO anzurufen, einen Vermittler anzurufen. Viele westeuropäische Politiker reisten kurz vor  dem Angriff am 22. Februar 2022 zu Putin, um einen drohenden Krieg zu vermeiden. Allerdings liefen die Kriegsplanungen da bereits seit mindestens einem Jahr. Es stellte sich heraus, dass Putin ein Lügner ist und gar nicht verhandeln wollte.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die These von der Mitschuld des Westens ziemlich hergeholt ist und bewusst oder unbewusst dem Narrativ Russlands dient.

Vorgeschichte: Das Verhältnis des Westens zu Russland/zur Sowjetunion

Ein häufiger Ausgangspunkt der anti-westlichen Argumentation ist, dass es 1990 vom  USAußenminnister Baker einen Brief an Gorbatschow gegeben hat, dass die Nato sich nicht bis an die Grenze zur Sowjetunion ausdehnen würde und dass kooperative Sicherheitsstrukturen in Europa entwickelt werden sollten. Baker verwies dabei auf die KSZE-Grundakte, die die freie

Bündniswahl beinhaltete. In dieser Frage ging es vor allem darum, ob die neuen deutschen Bundesländer zur Nato gehören dürften. Mal ganz abgesehen davon, dass es sich nicht um einen schriftlich fixierten Vertrag zwischen Staaten handelte, sondern um eine informelle Absichtserklärung: 1989/90 gab es noch die Sowjetunion, gab es noch den Warschauer Pakt mit den osteuropäischen Staaten. Eine Ausdehnung der Nato an die Grenzen der Sowjetunion war realitätsfern. Dass der Warschauer Pakt sich auflösen, dass die Sowjetunion 1991 implodieren würde, war damals nicht absehbar. Von “Russland” war damals keine Rede. Zwar sagte die Breschnew-Doktrin anlässlich der Niederschlagung des “Prager Frühlings” 1968, dass die Sowjetunion sich ein Interventionsrecht in den osteuropäischen Bündnisstaaten vorbehielt. Allerdings hat Breschnew 1975 zur Verabschiedung des “Helsinki”-Prozesses allen Staaten die freie Bündniswahl zugesichert. Dieser Helsinki-Prozess nahm seinen Ausgang in der Ostpolitik Willy Brandts Anfang der 1970er Jahre, der die Anerkennung der bestehenden Grenzen, Gewaltverzicht und gegenseitigen Austausch (z.B. von Medienerzeugnissen), Achtung der Menschenrechte vorsah. 

Es entstand die “Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa” (KSZE). Dieser KSZE-Prozess förderte (entgegen der Intention der osteuropäischen Diktaturen) die liberalen Kräfte in diesen Ländern.

Aus der KSZE entwickelte sich dann 1995 die “Organisation für Sicherheit und

Zusammenarbeit in Europa” (OSZE) . Mit dieser Organisation sollte die sicherheitspolitische, wirtschaftliche, humanitäre und parlamentarische Kooperation zwischen den westlichen Staaten und den (nun mehr eigenständigen) Staaten Osteuropas einschließlich Russlands gefördert werden, “von Vancouver bis Wladiwostok”.  Die OSZE bekam in mehreren Konflikten

(Bosnien, Minsker Abkommen, Wahlbeobachtungen) die Aufgabe, Entwicklungen zu kontrollieren.

These 1: Diese OSZE war Anfang der 1990er Jahre ein vom Westen eingeleiteter Weg zu einem System der kollektiven Sicherheit und der inneren Konsolidierung der neuen Staaten. Dieser Weg begann bereits in den 1970er Jahren mit der deutschen Ostpolitik und dem “Helsinki-Prozess”.

Die 1990er Jahre:  diplomatische Kooperation

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im August 1991 erklärten sich die meisten ehem. Sowjetrepubliken für unabhängig, zuerst die Baltischen Staaten (wo die sowjetischen Truppen bis 1993 blieben), dann auch die Ukraine. In einer Volksabstimmung am 1.12.1991 unterstützen 90,3% die Unabhängigkeit der Ukraine, auf der Krim 54 %. (Die Krim erhält 1992 einen weitgehenden Autonomiestatus.) Die OSZE kontrollierte von 1994 an die Wahlen in der Ukraine.

Das Parlament in Kiew kündigte den Vertrag zur Bildung der Sowjetunion von 1922.

(In den sowjetischen Verfassungen von 1922, 1936 und 1977 wurde den einzelnen

Sowjetrepubliken der Austritt aus der Sowjetunion freigestellt.)

Bereits 1992 bis 1994 gab es wegen russischer Abspaltungsversuche, die Krim  abzuspalten, den ersten postsowjetischen Konflikt. (Die Sprecherin des russischen Föderationsrates Matwijenko erklärte 2014, dass 1992 ein Referendum auf der Krim zugunsten Russlands zu schwierig zu organisieren gewesen wäre.)

Auch Tschetschenien hat sich 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion für unabhängig erklärt. Im ersten Tschetschenien-Krieg 1994 bis 1996 eroberte Russland die KaukasusRepublik zurück. In diesem Krieg ging es um die nationale Unabhängigkeit, während im zweiten, besonders brutalen Tschetschenien-Krieg von 1999 bis 2009 religiöse (islamistische) Positionen eine Rolle spielten. In diesem Krieg wurde die Hauptstadt Grosnij zerstört. Diese besonders brutalen Tschetschenien-Kriege mögen für die kleinen Baltischen Staaten eine weitere Begründung gewesen sein, Putin nicht zu trauen.

Hinzu kamen russische Interventionen in Moldau (Transsinistrien, 1991) und Georgien (Abchasien 1992-94, Südossetien 2008).

Der Vertrag zur Übergabe der in der Ukraine lagernden sowjetischen Atomwaffen 1994 (Budapester Memorandum)  beinhaltete im Gegenzug die Anerkennung der Unabhängigkeit der Ukraine, ihrer territorialen Integrität sowie Sicherheitsgarantien durch Russland, die USA und Großbritannien. Dieser Vertrag ist als Beitrag zu einer europäischen Sicherheitspolitik zu verstehen. Die Sicherheitsgarantien für die Ukraine wurde in dieser Phase, in der Russland noch relativ schwach war, nicht militärisch von den beiden Westmächten abgesichert. Es wäre eine Provokation Russlands gewesen. 

Mit der “Nato-Russland-Grundakte” von 1997 wird ein weiterer Baustein der Kooperation des Westens mit Russland gesetzt. Dieser völkerrechtsverbindliche Vertrag sieht vor: Ausgleich der sicherheitspolitischen Interessen, Gewaltverzicht, Anerkennung der Souveränität und Integrität aller Staaten, Rüstungskontrolle, Selbstbestimmungsrecht der Völker, “Achtung des Rechts, die Mittel zur Gewährleistung ihrer Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen selbst zu wählen”.

Im Zuge dieser Kooperation erhält Russland einen Beobachter-Status bei der Nato. Bereits 1994 wurde die “Partnerschaft für den Frieden” vereinbart, wobei die Nato, Russland und

die Ukraine teilnahmen. Beide Seiten erlauben der anderen Seite bei Manövern Militärbeobachter zu entsenden.

2002 unterzeichneten die 19 Nato-Staaten und Russland die “Erklärung von Rom“, die eine weitgehende Kooperation zwischen Nato und Russland vorsah (regelmäßige Konsultationen zur

Abrüstung, Einladung der Gegenseite zu Militärmanövern, russische Botschaft (mit sehr viel Personal!) bei der Nato, Nato-Botschaft in Moskau. Die Botschafter tagten monatlich. Der Nato-Russland-Rat (NRR) tagte regelmäßig jährlich zweimal.

Diese Kooperation wurde sogar nach der Annektion der Krim 2014 und der russischen

Intervention in der Osturkaine beibehalten. Erst nach dem Giftanschlag auf Sergej Skripal in London musste Russland 2018 seine Nato-Botschaft um 20 Personen verkleinern. Der Kreml zog dann im November 2021, ein Vierteljahr vor dem Überfall auf die Ukraine, alle Diplomaten aus dem Nato-Hauptquartier ab.

These 2: Mit dem Budapester Memorandum (1994), der Nato-Russland-Grundakte (1997) und der Erklärung von Rom (2002) wurden Kooperationsvereinbarungen getroffen, die ein friedliches Miteinander von Nato und Russland ermöglicht haben. Die Behauptung, der Westen hätte die Kooperation mit Russland verweigert, ist falsch. Dagegen gab es unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion russische Interventionen in den Nachbarstaaten Russlands – ohne westliche Reaktionen.

Wirtschaftliche Kooperation

Schon vor 1989/91 gab es in der Folge der Entspannungspolitik  der Regierungen Brandt und

Schmidt vielfältige wirtschaftliche Kooperationen zwischen den westeuropäischen Staaten und Russland (z.B. Röhren gegen Ergas und Öl, Autowerke von Fiat, “Ostausschuss der deutschen Wirtschaft” usw.).

Die Gruppe der sieben wichtigsten Industriestaaten (G7) nahm Russland 1998 auf (>G8), um die wirtschaftliche Kooperation zu fördern. (Russland wurde nach der Krim-Annexion 2014 ausgeschlossen.)

In den 1990er und den 2000er Jahren steigerte sich die west-östliche wirtschaftliche Verflechtung (Investitionen, Handel). Die Kooperation wurde gern mit dem Wort vom “Wandel durch Handel” verbunden: gegenseitige Sicherheit durch Verschränkung der Wirtschaften. Durch die Energieimporte aus Russland entstand eine bewusst eingegangene Abhängigkeit

Deutschlands von Russland durch die Regierungen Schröder und Merkel. In gutem Glauben

(aber naiv) wurde sogar gegen den Widerstand vieler westlicher Staaten und trotz der Sanktionen wegen der Krim-annexion 2014 das Northstream2-Projekt 2015 durchgedrückt, das eindeutig als Umleitung für die gefährdete Gasleitung durch die Ukraine gedacht war. Noch 2019 wurden die wichtigsten deutschen Gasspeicher an die staatliche Gazprom verkauft, das dann im Frühjahr 2021 zielstrebig die Speicher leer laufen ließ und sie im Sommer 21 mit strategischem Kalkül und Blick auf den kommenden Krieg nicht wieder auffüllte.

Der Rückzug westlicher Firmen aus Russland nach Kriegsausbruch 2022 war mit schmerzlichen Abschreibungen verbunden. Die Strategie über wirtschaftliche Kooperation politische Stabilität zu erreichen, war gescheitert.

These 3: Die wirtschaftliche Verflechtung ist als Kooperationsangebot des Westens zum gegenseitigen wirtschaftlichen Vorteil und als Faktor der angestreben politischen Stabilität zwischen dem Westen und Russland zu verstehen. Genauso die Angebote auf politischer Ebene. Eine Nato-Bedrohung lässt sich aus dieser Entwicklung nicht ablesen.

Osterweiterung der Nato

Im Jahr 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der Nato bei. (Alle drei Länder grenzen nicht unmittelbar an Russland und haben durch sowjetische Interventionen ähnliche Erfahrungen.) 2004 kamen die Baltischen Staaten nach 13 Jahren des Abwartens dazu.

Damit grenzte die Nato zum ersten Mal direkt an Russland. (Abgesehen vom Gebiet

Kaliningrad, in dem Russland Iskander-Raketen stationiert hat, die ggf. in fünf Minuten Atomsprengköpfe nach Berlin tragen können.)

Alle Neu-Mitglieder sind nicht als Konfrontation gegen Russland von der Nato gedrängt worden, sondern haben um Aufnahme gebeten, was innerhalb dieser Staaten demokratisch legitimiert war. Dieser Beitritt ist von der völkerrechtswirksamen Nato-Russland-Grundakte, die Russland 1997 aus freiem Entschluss unterschrieben hat, gedeckt. Für die Baltischen Staaten erscheint diese Nato-Mitgliedschaft heute als Lebensversicherung und wirkt gegen das Trauma der russischen und stalinistischen Besetzung. Allerdings waren in den ersten zehn Jahren keine fremden Nato-Soldaten in den drei Staaten stationiert (erst nach der Krim-Annexion 2014), die drei Staaten haben sich darüber beschwert, dass sie im Falle einer Konfrontation mit Russland die Rolle des “Stolperdrahts” übernehmen sollten.  Die Armeen der drei Baltischen Staaten bestehen zusammengenommen aus etwa 30.000 Personen. Das ist keine echte Bedrohung für Russland. Es bestanden (und bestehen) keine Waffensysteme oder Militärverbände der Nato in Osteuropa, die Russland wirkungsvoll angreifen könnten.

Wegen des Ukrainekriegs hat Lettland die Wehrpflicht wieder eingeführt.

Aus Angst vor russischer Aggression ist nun auch das traditionell neutrale Finnland der Nato beigetreten. Hätte man den Baltischen Staaten und Finnland die Nato-Mitgliedschaft verwehren sollen, nur weil Russland Bedrohungsgefühle hat, deren Realitätsgehalt sehr fraglich erscheinen? Umgekehrt: Es gibt gute Gründe, wegen potenzieller russischer Aggression sich unter den Schutz der Nato zu begeben.

Alle vier Staaten an der Ostsee waren lange von Russland besetzt und haben kriegerische

Erfahrungen mit der Sowjetunion. Finnland hat im “Winterkrieg” 1939 Karelien an die Sowjetunion verloren. Als ein größeres Trauma als dieser Verlust gilt in Finnland, dass damals der Westen Finnland nicht beigestanden hat (Süddt.Ztg 5.4.23).

Georgien und die Ukraine wollten 2008 gern der Nato beitreten, was der US-Präsident Bush vorgeschlagen hat. Da dies für Russland bedrohlich gewirkt haben könnte, haben u.a. die Regierungen Merkel und Sarkosy dieses Vorhaben abgelehnt. Auch ein Zeichen gegen Einkreisung und Konfrontation.

These 4: Das Streben der ost- und nordosteuropäischen Staaten in die Nato ist ihren historischen Erfahrungen mit Russland und der Sowjetunion geschuldet sowie ihrer Schwäche im Vergleich zu Russland. Die Nato hat sich in den letzten 24 Jahren aufgrund der neuen Mitgliedern nicht aggressiv gegen Russland gezeigt.

Entwicklung in der Ukraine

Um das Jahr 2000 herum war die Ukraine geprägt von Korruption und Oligarchentum.

Aus der Präsidentenwahl im November 2004 ging der Russland-freundliche Janukowitsch mit 0,3% Vorsprung als “Wahlsieger” hervor. Der unterlegene Juschtschenko litt im Wahlkampf unter einer Vergiftung von einer Dioxinverbindung, die vor allem in Russland hergestellt wurde. Putin gratulierte seinem Kandidaten sofort. Die OSZE-Wahlbeobachter gingen allerdngs aufgrund von gefälschten Wahlzetteln, mehr als 100 % Wahlbeteiligung im Donbass, abgehörten Telefonaten und manipulierten Wahlmaschinen-Servern von einer Wahlfälschung aus. Es folgten massive öffentliche Proteste mit der Farbe des westlich orientierten Juschtschenko: Orange Revolution.

Nach wochenlangen friedlichen Protesten erklärte das Oberste Gericht die Wahl für ungültig.

Aus der Neuwahl ging Juschtschenko deutlich als Sieger hervor. Seine Partei und die

Koalitionspartnerin Julia Timoschenko zerstritten sich dann, so dass in der Präsidentenwahl von 2010 Janukowitsch siegte. Die Verfassung wurde geändert, u.a. Julia Tymoschnko verhaftet.

2013/14 kam es erneut zu Protesten, weil Präsident Janukowitsch das vom Parlament beschlossenen Assoziierungsabkommen mit der EU in letzter Minute nicht unterzeichnen wollte. Gleichzeitig kündigte er eine Annäherung an Russland an. (Putin versprach u.a. einen Rabatt auf den Gaspreis.)

Während der Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew (Euro-Maidan) ließ der Präsident auf die Demonstranten schießen. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit ca 100 Toten, an dessen Ende Jutschenko abgesetzt wurde. Er floh über die Ostukraine nach Russland.  Tymoschenko wurde aus dem Gefängnis entlassen und die alte Verfassung wieder in Kraft gesetzt. Wahl Poroschenkos zum Präsidenten.

Nach dieser Revolte annektierte Russland die Krim und unterstütze die Donbass-Separatisten.

In der Wahl von 2019 setzte sich Selenskij gegen den Amtsinhaber Poroschenko durch. Dies war ein demokratischer Machtwechsel. Selenskij wurde als Schauspieler und Komiker in der Fernsehserie “Diener des Volkes” bekannt, eine Sendung, die aufgrund ihrer Ironie und ihrer kabarettistischen Kritik an Korruption, postsowjetischen Verhaltensweisen und Kritik an der politischen Klasse zu diesem Zeitpunkt niemals in Russland hätte gezeigt werden können.

These 5: Die revolutionären Maidan-Proteste für Demokratie, die Entwicklung hin zu einem westlichen Staats- und Gesellschaftsmodell, die Orientierung an der EU stellte für die russische Regierung unter Putin eine Gefahr für sein Modell der “gelenkten Demokratie” dar. Nicht die Nato, sondern Liberalität und Demokratie nach EU-Standard bedeutete eine Gefahr für die Macht Putins.

Der Beginn des Krieges 2014

Unmittelbar nach den Euro-Maidan-Protesten im Februar 2014 und der Flucht Janukowitschs nach Russland besetzten “grüne Männchen”, Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, aber mit russischen Waffen, die Krim. Schon am 18. März 2014 erklärte Russland die Annexion der Krim.

Noch 2008 war der ukrainisch-russische Freundschaftsvertrag verlängert worden, der  die territoriale Integrität der Ukraine garantierte wie schon die Verträge von 1994 und1997. Die UN-Vollversammlung  vom 27. März 2014 verurteilte die Annexion und erklärte das von Russland initiierte Referendum auf der Krim für ungültig.

Im März 2014 riefen bewaffnete Gruppen im Donbass die Volksrepubliken Donezk und Luhansk aus, die von russischen Truppen und Waffen unterstützt wurden. Gefangen genommene russische Soldaten waren anhand ihrer Kennmarken zu identifizieren. Putin erklärte dazu, dass russische Soldaten in ihrem Urlaub sich an den Kämpfen beteiligt hätten. Diese Soldaten hätten wohl auch schwere Waffen mitgenommen (Originalton in Arte-Dok.). Im

April 2014 begann die ukrainische Regierung mit einer (erfolglosen) Gegenoffensive gegen die “Autonomisten”. Im Juli 2014 wurde das Passagierflugzug MH 17 von den Niederlanden auf dem Weg nach Malaysia mit einer russischen Bug-Rakete abgeschossen. Die Separatisten verweigerten eine Untersuchung am Absturzort und den Rücktransport der Leichen. Auf der Feier zum Jahrestag der Normandy-Invasion 2014 versuchte der französische Präsident Hollande zwischen Putin und Poroschenko zu vermitteln. Putin leugnete die Existenz russischer Truppen auf der Krim und im Donbass. (Merkel an Putin: Ach, hören Sie doch auf!) Obama deutet das militärische Vorgehen Russlands als Zeichen der Schwäche einer Regionalmacht. Obama erklärt den Konflikt zur europäischen Angelegenheit.

Minsker Abkommen I, September 2014, vermittelt von Merkel, Hollande und Putin: Waffenstillstand, Regionalwahlen, Überwachung des Waffenstillstands und der Grenze zwischen der Ukraine und Russland durch die OSZE. (Russland verweigert diese Grenzkontrollen durch die OSZE.) Im Februar 2015 wurde dieses Abkommen durch Abstimmung im UN-Sicherheitsrat völkerrechtlich verbindlich (aber von Russland missachtet). Im Abkommen Minsk II (Februar 2015) wurden Maßnahmen beschlossen, die Vereinbarungen von Minsk I zu realisieren. Drei Tage nach Unterzeichnung griffen in der Schlacht von Debalzewe Separatisten und reguläre russische Truppen mit Panzern die Stadt an und besetzten dergleichen weitere Ort. Man kann den westlichen Vertretrn nicht vorwerfen, sie hätten sich nicht um eine friedliche

Konfliktlösung bemüht. Von Putin-Verstehern wurde gern argumentiert, Angela Merkel hätte 2022 zum Minsker Abkommen erklärt, sie hätte für die Aufrüstung der Ukraine Zeit gewinnen wollen. (Nach dem Scheitern der deutschen Russlandpolitik mit ihrer Energieabhängigkeit mag diese Erklärung von Merkel der Versuch der Minderung der eigenen Verantwortung gewesen sein.) Tatsächlich haben westliche Staaten nach dem Desaster für die ukrainische Armee 2014/15 pensionierte Offiziere zu Ausbildungszwecken in die Ukraine geschickt, womit sich die Erfolge der ukrainischen Armee 2022 erklären ließe (SZ 24.2.23). Westliche Waffen wurden nach langem Zögern, insbesondere von deutscher Seite, erst im Sommer 2022 geliefert. Eine Bedrohung Russlands durch die Ukraine mittels westlicher Waffen im Februar 2022 bestand nicht.

Nach der Krim-Annexion beschloss die Nato bei ihrem Treffen in Wales 2014 die eigenen

Militärausgaben auf das 2-Prozent des BIP zu steigern. Von einzelnen osteuropäischen Staaten abgesehen, hat kein Land in Europa nach acht Jahren dieses Ziel erreicht. Auch diese Tatsache zeigt, dass die Nato keine bedrohliche Politik gegenüber Russland betrieben hat. Die Bundeswehr wurde soweit abgerüstet, dass sie heute zur Landesverteidigung oder gar zu einem Aggressionskrig nicht fähig erscheint. Die Truppenstärke wurde von 500.000 auf 185.000 gesenkt, von ehemals 4000 Panzern gibt es noch 319, die aber nicht alle einsatzbereit sind. Die deutsche Armee wurde zu Einsätzen wie in Mali umgerüstet.

Die Sanktionen des Westens wegen der Besetzung der Krim und eines Teils des Donbass durch Russland trafen Russland nicht besonders hart. Die Geschäfte liefen weiter.

Weitere Beispiele der Einflussnahme außerhalb Russlands zeigen, dass es Putin nicht um die Verteidigung gegen die Einkreisung durch die Nato ging, sondern um Machtpolitik: militärische Unterstützung des syrischen Schlächters Assad gegen die syrische Zivilbevölkerung, Unterstützung von Diktatoren und Putschisten in Afrika durch die faschistische Wagner-Gruppe.

Außerdem Unterstützung des Brexit in Großbritannien, Einflussnahme bei der Trump-Wahl 2016, freundschaftliche Verbindungen zu rechtsradikalen Parteien in Frankreich, Italien und Deutschland.

Begleitet wurde der aggressive außenpolitische Kurs Russlands durch massive

Einschränkungen der Menschenrechte im Innern (Zensur, Verbote von NGOs, Mordanschläge gegen Regimekritiker, regierungshörige Gerichte).

Noch am 12. Januar 2022 lud Nato-Generalsekretär Stoltenberg zu einem Nato-Russland-Rat ein, um einen Dialog über von Russland gewünschte Sicherheitsgarantien zu beraten, ohne Ergebnisse. Russland forderte die Reduktion der Nato-Staaten auf die Situation von 1997.  Am 17. Februar 2022 erklärte Außenminister Lawrow, es sei Russland nicht möglich, sich an weiteren Gesprächen zu beteiligen. Eine Woche später begann der lange vorher geplante Krieg gegen die Ukraine.

These 6: Russlands völkerrechtswidriges Verhalten seit 2014 ist evident. Die russische

Diplomatie stützte sich auf Lügen. Offensichtlich bestand auf russischer Seite trotz Vermittlungsbemühungen und Verhandlungsangeboten des Westens kein Interesse, einen möglichen Konflikt friedlich beizulegen. Eine militärische Bedrohung durch die Nato oder durch die Ukraine war nicht gegeben.  

Politische Einschätzung: Was bedeuten die in den Thesen zusammengefassten Aspekte?

Das Narrative, der Westen sei mitschuld am Krieg, dient allein der russischen Propaganda und soll die Unterstützung für das angegriffene Opfer schwächen, z.B. als öffentlicher Druck gegen Waffenlieferungen.

Grundlage dafür ist die hier widerlegte Einstellung, die Nato sei ein aggressives Militärbündnis.

Gespeist wird diese Einstellung durch einen durchaus begründeten Anti-Amerikanismus

(Vietnam, Nicaragua, Irak …). Aber in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine passt diese Argumentation nicht. Kriegerische Aggressionen und Unterdrückung von Menschenrechten sollten demokratisch gesinnte, friedliebende Menschen überall anprangern.

                                                                                                Hans Dall, 4 /2023