Krise des Pazifismus

18. März 2022 2 Von Gastautor

Gastbeitrag von Hans Dall, Hamburg – Eimsbüttel

“Frieden schaffen ohne Waffen” – dieser alte Slogan der Friedensbewegung aus dem letzten Jahrhundert wurde auch auf den Solidaritätskundgebungen für die angegriffene Ukraine getragen. Ein frommer Wunsch, der die Aggressoren aus dem Kreml wohl nur milde lächeln lässt. Dies ist ein Versuch, ethische, historische und sicherheitspolitische Fragen zu klären, Fragen, deren Antworten im pazifistischen, liberal-grün-linken Milieu für Irritationen sorgen.

1. Militärische Gegenwehr – ethische Grundlagen

Die UN-Charta verbietet Angriffskriege, legitimiert aber, dass der Angegriffene sich militärisch wehrt. In Konflikten zwischen Staaten ließe sich die Unterscheidung von Max Weber zwischen “Gesinnungsethik” und “Verantwortungsethik” auch dafür heranziehen, ob militärische Gegenwehr ethisch geboten und sinnvoll ist: Der Gesinnungsethiker ordnet dem idealen Prinzip der Gewaltlosigkeit andere Werte unter: Freiheit und Sicherheit sind dann weniger wert als Unversehrtheit und Leben, was als höchster Wert, oberstes Menschenrecht angesehen wird. Wenn die Armee und die Bevölkerung der Ukraine sich gegen die russische Aggression wehrt, kostet das Menschenleben auf beiden Seiten, was negativ zu bewerten wäre. Leider hat eine konsequente pazifistische Haltung Folgen, die ein Fokussieren auf ein ideales Prinzip, das der Gewaltlosigkeit, nicht berücksichtigt: das Leiden und die Entwürdigung unter einem diktatorischen Regime. Letztlich übernimmt der  Gesinnungsethiker keine Verantwortung für ein solches Ergebnis seiner Haltung.

Als Pazifist auf dem westeuropäischen Sofa könnte man sich als nicht direkt am Krieg Beteiligter prinzipiell aus dem Konflikt heraushalten. Diese Haltung verkennt, dass Menschen nicht nur verantwortlich sind für das, was sie tun, sondern auch für das, was sie nicht tun. Das Nicht-Eingreifen in Srebrenitza und Ruanda hat tausende Menschenleben gekostet, weil sich die Aggressoren nicht an das Gebot der Gewaltfreiheit gehalten haben und keiner den Aggressoren mit Waffengewalt Einhalt geboten hat. Als gesinnungsethischer Pazifist müsste ich zum Schluss kommen, den 27. Januar nicht als Gedenktag für die Befreiung von Auschwitz zu begehen, weil diese Befreiung nur mit militärischen Mitteln möglich war. Solche Widersprüche einer prinzipiell pazifistischen Haltung kann man nicht mit Hinweis auf “passiven Widerstand” oder Vermeidung von Opfern auflösen.

Der Verantwortungsethiker wägt verschiedene Werte ab und versucht, ein optimales Ergebnis  zu erzielen, was vielleicht nur mit Kompromissen möglich ist: Freiheit, Sicherheit und Leben sind gleich wichtig, weil ein Leben im russischen Straflager, ein Leben ohne die Möglichkeit einer freien Meinungsäußerung, immer bedroht durch die Macht des Stärkeren, fehlende Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch für künftige Generationen abzulehnen ist: demütigend, entwürdigend, quälend.

Der ethische Ansatz der Utilitaristen, die danach gehen, welche Entscheidung das meiste Glück und das wenigste Leid bringt, müsste davon ausgehen, dass die Opfer, die ein militärisches Wehren gegen den Aggressor kostet, doch letztlich ein positives Ergebnis für die große Mehrheit der Bevölkerung bringt, nämlich in Freiheit und Sicherheit leben zu können. Unser Grundgesetz stellt die Individualrechte auf Leben, Unversehrtheit und Freiheit ganz vorne an. Ganz am Anfang steht allerdings die Unverletzlichkeit der Würde, die auf Kant zurückgeht, der sie als unverhandelbar darstellt.  Im Prinzip lehnt Kant gewalttätige Konflikte ab, aber wenn sie stattfinden, steht die Würde höher als das (gedemütigte, entwürdigte) Leben. Welchen Ansatz man auch verfolgt: Opfer gibt es immer bei Aggression.

In dieser Abwägung zwischen Leben einerseits und Würde andererseits geht es vor allem um

Minimierung des Leidens, das verbunden ist mit der Einschränkung beider Werte. Diese

Optimierung im Sinne der Verantwortungsethik bedeutet ein Festhalten am Ideal der

Gewaltfreiheit, aber mit Einschränkungen, wie es das Optimum erfordert, damit die Lage vom Schlechten zum etwas Besseren sich entwickelt. Eine Abschaffung der Leiden durch Frieden um jeden Preis wird es nicht geben. Praktisch heißt das gerade: Defensiv-Waffen für diejenigen, die ihre Freiheit und ihre Würde in der Ukraine verteidigen wollen. Ob die Verteidiger ein zweites Aleppo in Kiew riskieren, da sollten wir die Ukrainer nicht bevormunden.

Solidarität mit den Aggressionsopfern, mit den Schwächeren ist auch ein ethischer Wert. In die Rechnung der Verantwortungsethiker muss aber auch eingehen, dass der Konflikt nicht noch größere Dimensionen einnimmt, die nicht mehr beherrschbar sind. Verhältnismäßigkeit ist gefragt. Die materielle Unterstützung der Aggressionsopfer bedeutet nicht, dass friedliche

Mittel: Verhandlungen, Vermittlungen, Sanktionen, Öffentlichkeit herstellen vermieden werden.

2. Aufrüstung?

Willst du im Frieden leben, rüste zum Krieg, meinten schon Platon und Cicero. Dieser Satz kann interpretiert werden als aggressiven Ansatz: Ein Staat rüstet sich so, dass er andere Staaten dominieren kann, somit ein Friedhofsfrieden entsteht. Oder man liest diesen Satz so, dass ein Staat sich stark machen soll, um nicht von anderen dominiert zu werden. Potenzielle Aggressoren werden so abgeschreckt, aus einer Position der Stärke lässt es sich leichter verhandeln. Wolfgang Ischinger: Abrüstungsverhandlungen unbedingt, aber aus der Position der Stärke, weil sonst nichts nachzugeben wäre. Die westlich orientierten Staaten Europas müssten dafür aber erstmal ihre Stärke wiederherstellen.

Entscheidend für die Einschätzung ist, welche Werte die Staaten in einem potenziellen Konflikt vertreten: die Werte des friedlichen Miteinanders und der Menschenrechte oder die Macht der Unterdrückung. Die Führung Russlands hat gezeigt, dass ihr Verhältnisse wie unter Assad in Syrien oder in Belarus oder China lieber sind als demokratischer Pluralismus und Menschenrechte. Das ist bei den Nato-Staaten eindeutig anders. Die USA gaben allerdings immer wieder Anlass zu Vorbehalten: Vietnam, Cuba, Nicaragua, Irak u.a.m.. Guantanamo und AbuGraib passen nicht zu den sog. westlichen Werten. Im Gegensatz zum Verhalten Russlands ist die Nato an sich aber nicht als aggressiv zu bezeichnen, zumal nicht ihr europäischer Teil. Sie ist entstanden 1949 als Schutz vor stalinistischer Herrschaft in Europa. Sie sollte Werte schützen, die auch heute in Russland immer weniger gelten. Das militärische Gleichgewicht der Blöcke hat zum jahrzehntelangen Frieden beigetragen. Das russische Gegenstück zur Aufzählung der US-Gewalttaten sind die russischen Interventionen in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der

Tschechoslowakei 1968, in jüngster Zeit  die Zerstörung der Städte Grosnij und Aleppo. Das Guantanamo in der Sowjetunion hieß Gulag. Kein Wunder, dass sich osteuropäische Staaten unter den Nato-Schirm geflüchtet haben, nachdem sie selbst intensiv die Aufnahme in die Nato betrieben haben.

Deutschland hat seit 1990 massiv abgerüstet, die Bundeswehr, auf ein Fünftel reduziert, ist zur

Landesverteidigung kaum noch in der Lage, weil wir uns von Freunden umgeben sahen. Die Bundeswehr hat bei (wie auch immer zu bewertenden) Auslandseinsätzen Kampfhandlungen möglichst vermieden, hat sie den Partnerstaaten überlassen. Wenn Deutschland entsprechend seiner Wirtschaftskraft ein entsprechender Teil dieses Verteidigungsbündnisses sein will, müssen auch die kleineren Partner in Europa sich darauf verlassen können, dass Deutschland seinen Beitrag an militärischer Stärke dazu leistet, auch im Sinne der Abschreckung. Man könnte auch 100 Milliarden Euro in den Klimaschutz oder in die Entwicklungshilfe stecken. Das hilft aber nicht gegen (potenzielle) Aggressoren, die sich nach alter Größe sehnen oder nach geostrategischer Dominanz. Gerade wenn man den Einsatz von Atomwaffen nicht will, muss Europa stark genug sein, dass ein Gegner wie Russland abgeschreckt wird. Und Europa sollte stark genug werden, bevor ein politischer Hazardeur wie Trump noch mal an die US-Regierung kommt.

Im “System Jalta”, benannt nach dem Konferenzort auf der Krim, in dem die Alliierten des 2.

Weltkriegs 1945 Deutschland und Europa in Einflusszonen aufgeteilt haben, hat die

Abschreckung 45 Jahre lang funktioniert und zum Frieden im Kalten Krieg beigetragen. Das “System Helsinki”, benannt nach dem Konferenzort, in dem das Miteinander in Europa unter den Bedingungen des Kalten Krieges formuliert wurde, ist vorerst gescheitert: Wirtschaftliche Kooperation, Ideenaustausch, Öffnung, Rüstungskontrolle und die Gründung der OSZE durch den Helsinki-Prozess beförderten seit der Neuen Ostpolitik Willy Brandts das Miteinander (und förderten den Untergang der Sowjetunion). Die Lieferung von russischer Energie gehörte zu dieser Idee der friedlichen Kooperation, die militärische Stärke (mindestens in Deutschland) nicht mehr für wichtig hielt: Wer miteinander Handel treibt, schießt nicht aufeinander, war die Idee. Dies führte allerdings zu einer von Russland gewollten Energie-Abhängigkeit, die das Putin-Regime nun strategisch ausgenutzt hat. Gegnerschaft  statt friedliche Kooexistenz zeigte sich auch durch russische Einflussnahmen beim Brexit und der Trumpwahl. Die russische Führung kehrt mit dem Krieg in der Ukraine zum “System Jalta” zurück: Einteilung Europas in

Einflusszonen der Großmächte. Demokratisierungsprozesse im ehem. sowjetischen

Einflussbereich, gescheitert in Belarus und Kasachstan, bisher auf gutem Weg in der Ukraine, passten nicht zu diesem Denken in Einflusssphären. Wenn “Helsinki” (vorerst) gescheitert ist, sollte der Westen dafür sorgen, dass Russland seine Idee von “Jalta” nicht z.B. auf die inzwischen demokratisch strukturierten Baltischen Staaten beziehen kann, nämlich durch Stärkung der Nato-Abschreckung. Angesichts der Aggression in der Ukraine läge dies ohne ihre Nato-Mitgliedschaft im Bereich des Wahrscheinlichen.

3. Nato-Osterweiterung

Neben Scheinbegründungen wie die Bekämpfung einer Nazi-Regierung in Kiew, Vorbereitung eines Krieges der Ukraine gegen Russland, Völkermord in der Ostukraine oder Produktion von

Biowaffen (die mit Zugvögeln nach Russland gebracht werden sollten! so der russ. UNBotschafter) diente dem Kreml als Begründung für den Krieg, die Nato hätte Russland aggressiv eingekreist. Tatsächlich gingen die Bemühungen für einen Nato-Beitritt von den osteuropäischen Ländern selbst aus. In einigen Staaten verloren Regierungsparteien in den 1990er Jahren die Wahlen, weil sie sich gegen einen Nato-Beitritt aussprachen. Die Nato reagierte auf Beitrittsbegehren zunächst zögerlich. Nur einmal, 2008, kam es zu einem aktiven Angebot, von US-Präsident Bush eingebracht, an die Ukraine und an Georgien, der Nato beizutreten. Frankreich (Sarkozy) und Deutschland (Merkel) legten ein Veto dagegen ein. Völkerrechtlich bindend und kooperativ angelegt war der Vertrag von 1997: Die Nato-Russland-

Grundakte – Gewaltverzicht, Annerkennung der Souveränität und Integrität der Staaten in

Osteuropa, Rüstungskontrolle, Selbstbestimmungsrecht der Völker, “Achtung des Rechts, die Mittel zur Gewährung ihrer Sicherheit sowie die Unverletzlichkeit von Grenzen… selbst zu wählen”, keine Nato-Atomwaffen in Osteuropa, aber für Russland in Kaliningrad erlaubt (nukleare Iskander-Kurzstreckenraketen).

Es bestehen berechtigte Zweifel, dass der Kreml an einer Lösung der Krise in der Ostukraine interessiert war. Die im Rahmen der Minsker Abkommen vorgesehene Kontrolle der Grenze zwischen dem Donbas und Russland durch die OSZE wurde von Russland unterbunden, schwere Waffen (Panzer, Kanonen) gelangten über Russland in die Ostukraine, russische Soldaten, angeblich “in ihrer Freizeit”, waren seit 2014 dort aktiv, auch reguläre russische Truppen (durch das private Recherche-Netzwerk Bellincat nachgewiesen). Tatsächlich wurden einige Hundert ausländische Nato-Soldaten erst seit 2014 aufgrund der Krise um die Krim und im Donbas an die Nato-Ostgrenze verlegt. (Das 2-Prozent-Ziel der Nato für Militärausgaben wurde nach der Annexion der Krim und der Stationierung von russischen Truppen und schweren Waffen in der Ostukraine beschossen.) Schon vor 2014 hat der Kreml in osteuropäischen staaten interveniert: Moldau (Transsinistrien), Georgien (Abchasien, Südosetien), ohne, dass der Westen reagiert hätte.

Auch ein Rückgriff in die mittelalterliche Geschichte, der russische Staat, die russische Kirche seien doch in Kiew entstanden, wurde als Begründung für die Aggression bemüht. In diesem Sinne sprach Putin am 21.2.2022 der Ukraine die Eigenstaatlichkeit ab (was mehreren völkerrechtsverbindlichen Verträgen der 1990er Jahre widerspricht).

Eine strategisch bewusste Einkreisung Russland durch die Nato ist m.E. nicht zu erkennen:   Die beigetretenen Staaten Osteuropas haben sich freiwillig, in einem demokratischen Prozess für den Nato-Beitritt entschieden, weil sie den großen Nachbarn Russland aus der Geschichte kannten und begründeterweise misstrauten. Insbesondere Polen und die Baltischen Staaten haben gedrängt, weil sie fürchteten, dass sich das Zeitfenster für eine Westbindung schließen könnte. Das vorsichtige Taktieren der Nato bei der Unterstützung der Ukraine zeigt, dass die Nato einen militärischen Konflikt mit Russland zu vermeiden sucht und erst sehr spät Waffen lieferte. Dazu haben sicherlich die dramatischen Hilferufe von Präsident Selenskij beigetragen.

Vor 2014 gab es verschiedene Bemühungen zur Kooperation zwischen “dem Westen” und Russland:

Wirtschaftliche Verflechtungen, gemeinsame wissenschaftliche Projekte (ISS),

Städtepartnerschaften, Reiseerleichterungen sollten ein friedliches Miteinander fördern.

Die institutionalisierte Einbindung Russlands sollte Kommunikation und Vertrauen ermöglichen:

“Partnerschaft für den Frieden” (1994), Nato-Russland-Rat, Erweiterung der G7 zu G8.

Rüstungskontrolle, Manöverbeobachtung, OSZE, Verzicht auf Raktenabwehrsystem in Polen 2009 durch US-Präsident Obama (der Russland allerdings ehrenrührig als “Regionalmacht” bezeichnet hatte).

Einflussreiche Staatschefs in Europa (Schröder, Merkel, Holllande, Macron) haben stets eine ausgleichende Haltung gegenüber Russland gezeigt, trotz offensichtlicher Menschrechtsverletzungen und Mordanschlägen gegen russische Oppositionelle.

Die These, dass die Nato aggressiv Russland einkreise, hat auch in der deutschen Linken ihre Anhänger. Das mag mit dem traditionellen Anti-Amerikanismus seit dem Vietnamkrieg begründet sein. Nicht übersehen werden sollte aber: Zeitlich parallel zur russischen Einkreisungsthese entwickelte sich die russische Innenpolitik zu einem autokratischen, diktatorischen Regime, das Kritiker mundtot macht, Wahlen manipuliert (“gelenkte Demokratie”) und Wahlen und Abstimmungen im Westen versuchte zu beeinflussen (Trump-

Wahl, Brexit). Es drängt sich der Verdacht auf, dass das nationalistische Narrativ von der Einkreisung durch die Nato, von der Russlandfeindschaft des Westens, von innenpolitischen, sozialen Problemen in Russland ablenken soll. Russland hat als Rohstofflieferant (zugunsten einer Oligarchenschicht) den technologischen Anschluss verpasst. Russland unterlag dem

“Fluch der Rohstoffländer”, weil der Reichtum durch Energie-Exporte nicht in die

Transformation hin zu einer modernen Wirtschaft gesteckt wurde, sondern in Luxusimmobilien, Luxusyachten, Offshore-Gesellschaften oder Fußballclubs. Korruption und einer postsowjetischen Mentalität der Kritkvermeidung mögen auch eine Rolle gespielt haben. In einer globalisierten Wirtschaft geraten dann reine Rohstofflieferanten ins Hintertreffen. (Das vor 50 Jahren noch arme Norwegen oder auch AbuDhabi haben es vorgemacht, wie

Rohstoffreichtum wirtschaftlich sinnvoll genutzt wird.) Das heißt, weniger die Nato als vielmehr der globalisierte Kapitalismus und die Nähe der hoch effektiven EU sind eine Bedrohung für Russland und seine politischen und wirtschaftlichen Eliten.

Mit der Rolle als Rohstofflieferant hängen die sozio-ökonomischen Machtstrukturen in Russland zusammen, wo einige Menschen ziemlich reich geworden sind und die meisten anderen weiterhin arm geblieben sind. Jene Oligarchen-Schicht bildet zusammen mit dem Militär und dem Geheimdienst FSB, in dem Putin aufgestiegen ist, die Machtbasis für das Regime. Als Legitimation verlangt dieses System nach einem äußeren Feind. Sicherlich konnte der Kreml auch den Schmerz ausnutzen, den viele Russen durch den Zerfall der Sowjetunion empfanden. Das Streben vieler osteuropäischer Staaten in die Nato und die EU war nützlich für ein nationalistisches Narrativ.

Putin hat auch die nationalistische Idee des Panslawismus (unter dem großen Bruder Russland) aus der Mottenkiste von 1900 geholt, indem es nationalistische Kräfte in Serbien unterstützt, ebenso die Abspaltung der bosnischen Teilrepublik der Serben oder den Wahlkampf von EUkritischen Parteien in Nordmazdonien. Bei einem Putschversuch in Montenegro waren (angeblich) prorussische Kräfte am Werk.

Von den neuen Nato-Staaten und der Nato insgesamt geht für Russland keine Gefahr aus, wohl aber von einer Eskalation, wie sie von Russland betrieben wird.

Konsequenzen:

Die westdeutsche Linke muss sich überlegen, ob sie angesichts der russischen Aggression und der Fakten zur Nato-Osterweiterung der Illusion des Pazifismus weiter anhängen will.

Es ist nach den oben aufgezählten ethischen Prinzipien legitim, dass die Ukraine sich militärisch verteidigt. Die Aggression Russlands nicht einfach hinzunehmen, stärkt die Position bei Verhandlungen, und nur die können den Krieg beenden. Das stärkt auch den Ansatz einer regelbasierten Weltordnung: gegen das Recht des Stärkeren. Die militärische Gegenwehr der Ukraine hat dazu geführt, dass das Putin-Regime nicht mehr davon spricht, der Ukraine die Staatlichkeit abzusprechen oder das vermeintliche “Nazi-Regime” in Kiew zu beseitigen.

Vielmehr geht es jetzt um Neutralität.

Ohne die Waffen aus dem Westen könnte die Ukraine nicht so lange standhalten gegen die Macht des Stärkeren. Sonst würde der Kreml vielleicht gleich weiter marschieren nach Moldau und Georgien.

Die Baltischen Staaten mit ihren russischen Minderheiten sehen in der Nato ihre

Lebensversicherung. Dieses Bedürfnis nach Sicherheit kleiner Staaten kann man nicht einer russischen Befindlichkeit opfern.

Der Kreml hat den Weg der völkerrechtlichen Verträge verlassen und setzt auf militärische Stärke. Die Appeasementpolitik seit 2014 ist gescheitert, die Verhandlungen vor dem Krieg auch, weil die russische Führung aus Lügnern  besteht. Deshalb ist es wichtig, dass Verhandlungen aus der Position der Stärke (oder nach einer Schwächung des russischen Militärs in der Ukraine) stattfinden. Deshalb dürfen die europäischen Staaten nicht erpressbar sein: nicht militärisch und nicht in Bezug auf den Energiebedarf. Die Aufrüstung in Deutschland ist ein Beitrag zur Sicherheitssolidarität in Europa.

                                                                                                Hans Dall, März 2022