Putin erlässt Teilmobilmachung. Was nun ?

Putin erlässt Teilmobilmachung. Was nun ?

21. September 2022 1 Von Holger Stümpel

Heute morgen meldeten die Nachrichtenticker, dass die russische Föderation eine Teilmobilmachung ausgerufen hat. Dies bedeutet sicherlich eine Verschärfung der Lage, ist aber gleichwohl ein Ausdruck zunehmender Ratlosigkeit im russischen Führungskader und bei seinem vorsitzendem Autokraten.

Was sind dafür die wesentlichen Ursachen ?

1. Die Sanktionen wirken nun doch

In Russland beginnen die Sanktionen nachhaltig zu wirken, oder wie Lion Hirth von der Hertie School in Berlin aktuell sagt: „Putin hat den Bogen finanziell gesehen langsam überspannt“. Indizien dafür sind:

1.1 Allein im August 22 hat Russland ein Haushaltsdefizit von 5,8 Mrd. € (360 Mrd. Rubel) aufgehäuft. Nachdem Russland in den ersten 7 Monaten des Jahres noch einen Überschuss von 500 Mrd. Rubel erzielt hatte, ist dieser – innerhalb eines Monats – auf 136 Mrd. zusammengeschnurrt. Weitere Prognose: Dramatisch (Tagesspiegel vom 14. und 16.09. auf Basis von Zahlen der Financial Times).

1.2 Nachdem es zeitweilig so aussah, als könne Russland seine Einnahmen aus dem Export von fossilen Energien – trotz deutlich geringerer Mengen – monetär über die Weltmarktpreise signifikant steigern, hat sich dieser Trend komplett umgedreht. Unter Einbeziehung des August realisiert Russland bei Öl und Gas in 2022 ein Minus von 18 % gegenüber dem Vorjahr. Gazprom gab für den Gassektor ein Minus von 15 % an, die europäischen Gasimporte sanken in 2022 um mehr als ein Drittel (ebenda, Zahlen beziehen sich auf €, nicht auf Mengen ).

1.3 Wer weiß, dass Russland seinen Staatshaushalt zu ca. 50 % aus Energieexporten finanziert und die „exponentielle“ Entwicklung des Defizits betrachtet, kommt zum Schluss, dass viele auf Zeit spielen können, aber nicht Russland. Der immer wieder gebetsmühlenartig wiederholte Satz, „die Sanktionen müssen Russland stärker wehtun als uns“, kann aktuell als Fakt unterstellt werden.

1.4 Das russische Wirtschaftsministerium gab aktuell bekannt, dass die russische Wirtschaft im Juli 2022 (im Vergleich zum Vorjahresmonat) um 4,3 % geschrumpft ist. Nachdem Wladimir Putin vor zwei Wochen noch einen Haushaltsüberschuss behauptete, gibt der russische Ministerpräsident Mischustin vor einigen Tagen folgende Prognosen zum Besten: Erwartetes Haushaltsdefizit für 2023 2%, für 2024 1,7% und für 2025 0,7%. Wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass diese Zahlen noch deutlich geschönt sind (ebenda).

1.5 Die Sanktionen haben mittlerweile dazu geführt, dass Russland an einem extremem Mangel an westlicher Technologie leidet. Auch von dem gern zitierten Gassenhauer abgesehen, in dem angeblich „Plantinen aus Kühlschranken ausgebaut und in Panzer neu verbaut werden“, ist es sicherlich ein Faktum, dass diverse Bereiche der zivilen russischen Wirtschaft und des militärisch-industriellen Komplexes nur noch bestenfalls einen Low-Level-Betrieb durchführen können. Verschärft wird dies zudem dadurch, dass China und Indien sich -zumindest bisher – weigern, dort wo sie substituieren können, zu substituieren.

Fazit: Das einige Zeit vorhandene Momentum, in dem es so aussah, als säße Putin ökonomisch am längeren Hebel, scheint vorbei zu sein. Die Russen werden dies besser wissen als wir, befinden sich aber dadurch unter extremem Zeitdruck. Die Zeit spielt – wenn nicht alles täuscht – für die Ukraine. Es wäre Zeit etwas weniger hysterisch auf den Winter zu blicken und gleichzeitig die Anstrengungen zur militärischen Unterstützung der Ukraine hochzufahren.

2. Die militärische Situation scheint zu kippen

2.1 Russland hat nach dem militärischen Desaster im Oblast Charkiv, enorme Probleme die Lage zu stabilisieren. Die „Umgruppierung“, wie die russische Propaganda die heillose Flucht euphemistisch verballhornte, hat mehrere Dinge zu Tage gefördert, die wahrscheinlich nicht nur mich überrascht haben. Es scheint um die „Moral“ der russischen Soldaten katastrophal bestellt zu sein, zumindest aus Sicht ihrer Befehlshaber. Die russische Armee besteht mehrheitlich aus Vertragssoldaten, die – aus den nicht zentralen Bereichen kommend – sich nur aus ökonomischer Not in der Armee verpflichten und absolut schwerpunktmäßig am Sold interessiert sind. Woran sie ganz sicher kein Interesse haben ist, als Kanonenfutter gegen überlegene Waffen und hochmotivierte Gegner verheizt zu werden. Der Verlauf war entsprechend und bietet unter anderen den Grund für Gesetzesverschärfungen bezüglich „Desertation“ in der Staatsduma.

2.2 Russlands ist offenbar ein „Scheinriese“ was militärische Führung, Taktik und Strategie anbetrifft. Das streng hierarchische Organisationsmodell der russischen Armee, ist den nach aktuellen NATO-Standards ausgebildeten Strukturen des ukrainischen Offizierskorps und den hochmotivierten ukrainischen Soldaten und Reservisten, offensichtlich deutlich unterlegen.

2.3 Die westlichen Waffenlieferungen zeigen Wirkung. Die weitreichenden schweren Waffen, die die westlichen Länder der Ukraine lieferten, haben zumindest ein Patt geschaffen, in dem dann die bessere Motivation und größere Beweglichkeit immer öfter den Ausschlag gibt.

2.4 Neben den Motivationsproblemen leiden die Russen ganz offensichtlich unter einem massiven Mangel an Personal, Großgerät und Munition. Ob dieses ein Stück weit auch schon ein Ergebnis der Sanktionen ist, vermag ich nicht zu beurteilen, scheint mir aber möglich. Der britische Militärgeheimdienst vermeldete am Ende der letzten Woche, dass den Russen nur noch Munition und Raketen bis zum Ende des Jahres verbleiben und die Nachproduktion stoppt.

2.5 Die Teilmobilisierung versucht zumindest den Personalmangel zu mildern, wobei dies aktuell erst einmal gar keine Auswirkungen hat, da die Leute ja erst einmal alle ausgebildet reaktiviert werden müssen.

2.6 Die Ukraine muss jetzt befähigt werden, das militärische Momentum zu nutzen. Ihre westlichen Helfer müssen gepanzerte Fahrzeuge, Schützen- und Kampfpanzer kurzfristig zur Verfügung stellen, um möglichst große Teile des Donbass und der Oblaste Saporischschja und Cherson zu befreien. Das Momentum verstreichen zu lassen, führt nur zu größeren Opfern unter der Zivilbevölkerung und den ukrainischen und russischen Soldaten.

2.7 Die Ukraine muss auch noch nachhaltiger befähigt werden, defensiv ihre Bevölkerungszentren durch moderne Luftabwehr zu schützen. Die Bombardierung der Zivilbevölkerung muss ein Ende haben bzw. zumindest erschwert werden. Hier ein Stück weit die Bundeswehr zu „kannibalisieren“, halte ich für durchaus legitim.

Putins Möglichkeiten nach der Teilmobilmachung

Putin muss schon aus ökonomischen Gründen den Krieg möglichst schnell entscheiden. Er kann in dieser Situation gar nicht auf mehr hoffen, als das Halten großer Teile des Donbass und Teilen der Südukraine. Die slapstickartig anmutenden Versuche eine Scheinlegitimation zu erzeugen, werden nicht funktionieren. Gegenüber der Weltöffentlichkeit nicht und noch nicht einmal vollständig gegenüber der eigenen Bevölkerung. Die Mobilisierung ist sicherlich extrem unpopulär und lässt sich auch nicht mehr auf die entlegenen Gegenden des russischen Großreiches konzentrieren. Putin ist auch Gefangener seiner Allianzen mit allen möglichen Faschisten, fundamentalistischen Orthodoxen und abseitigen Mystikern der eurasischen Revolution und der „Russischen Welt“. Die treiben ihn jetzt vor sich her, mit unsicherem Ausgang („wärest du nur Kleptokrat geblieben“). Wie dem auch sei, die Chancen der Ukraine auf Befreiung der annektierten Gebiete und auf Wiederherstellung ihrer staatlichen Integrität sind besser als zuvor in den letzten sieben Monaten.

„Der Westen“ und die „wertegeleitete Außenpolitik“ darf in dieser Situation nicht versagen. Wir alle sollten den – uns möglichen – kleinen Teil dazu tun.