Putin, seine Optionen und Denkweisen

19. Mai 2022 1 Von Holger Stümpel

Putins Optionen im Krieg gegen die Ukraine und ein Versuch zu den Grundlagen seines Denkens.

Glauben wir der NZZ vom 10.05.22 (1) hat Wladimir Putin nach seiner Rede zum 09.05. genau noch drei unterschiedliche Handlungsoptionen. Grob vereinfacht sind dies:

1. Rascher Waffenstillstand und diplomatische Lösung

Russland könnte versuchen die jetzigen Geländegewinne festzuschreiben, weiteren militärischen Widernissen aus dem Weg zu gehen und die nächste imperialistische Offensive gegen die Ukraine auf einen günstigeren Zeitpunkt zu verschieben. Die Herstellung einer Landbrücke zur annektierten Krim und bescheidene Geländegewinne im Donbass müssten dann zu einem vorläufigem Sieg umgedeutet werden.

Diese Variante ist recht unwahrscheinlich, denn zum einen fühlt sich die Ukraine (zumindest nach eigener Propaganda) im Aufwind und hat wohl kein rechtes Interesse an Verhandlungen, die auf neuerliche Gebietsverluste hinauslaufen könnten.

Zum anderen ist auch Putin aktuell wohl nicht an einer solchen Lösung gelegen. Zu offensichtlich wäre der Eindruck des Scheiterns, nach der Verkündung der Kriegsziele „Entnazifizierung“ (Regimechange und Marionettenregierung) und „Entmilitarisierung“ („Umerziehung“ eingeschlossen) der Ukraine.

2. Ausweitung des Krieges

Putin müsste die Generalmobilmachung anordnen, alle personellen und Ausrüstungsressourcen mobilisieren und durch parallele Angriffe auf die ukrainischen Millionenstädte Kiew, Charkiw, Odessa und Dnipro die ukrainische Abwehr überdehnen, um massive Durchbrüche zu erzeugen. Diese Variante beinhaltet auch eine Erhöhung der Gefahr des Einsatzes von ABC-Waffen mit begrenzter Wirkung.

Ob Russland überhaupt materiell in der Lage wäre eine solche Variante zu realisieren, ist strittig zwischen den unterschiedlichen „Protagonisten“ der Russlandexperten. Putins Herleitung der „Kriegsgründe“ ließe eine solche Option allerdings möglich erscheinen. Er spricht von der Alternativlosigkeit des russischen Einfalls, da ansonsten ein Einmarsch des „Westens“ in „unsere historischen Ländereien“ (schön feudalistisch) bevorgestanden hätte. Die „militärische Erschließung“ von Gebieten an der Grenze zu Russland durch die NATO, wird nicht als Folge der Krim-Annexion und als Verteidigungshilfe für die Ukraine interpretiert, sondern zur unmittelbaren Kriegsvorbereitung des Westens gegenüber Russlands umgedeutet. Wie immer, ist Russland dann das arme Opfer, das nun leider präventiv zuschlagen musste. Außerdem wird der Ukraine angedichtet, sie wäre dabei (natürlich mit Hilfe der USA), nach Chemie- und Atomwaffen zu streben.

Wie realistisch wir diese Option zur eruptiven Kriegsausweitung nehmen müssen, hängt davon ab, für wie leistungsfähig wir einerseits russisches Militär und zugehörige Rüstungsindustrie halten und für wie wahrscheinlich wir annehmen können, dass Putin zumindest Teile seines Unsinns selbst glaubt.

Die Leistungsfähigkeit der russischen Rüstungsindustrie – bezogen auf die zügige Nachproduktion moderner Waffen und Ausrüstungen – schätze ich als sehr eingeschränkt ein. Zum Einen was die Produktivität betrifft (der Sektor ist wahrscheinlich am heftigsten von Korruption durchzogen) und zum Anderen was Beeinträchtigungen durch westliche Liefersanktionen anbetrifft. Außerdem hat Russland deutlich zu wenig gut ausgebildete Soldaten, um so eine Option erfolgversprechend ziehen zu können.

Schwieriger wird es an dem Punkt, wo es um die Frage geht, ob und inwieweit Wladimir Putin in einer idelogieüberladenen Parallelwelt lebt. Um dies vorweg zu sagen: Ich bin nicht der Meinung, dass Putin im klassischen Sinne verrückt geworden ist, sondern unsicher inwieweit idelogieinduzierte Wahrnehmungstrübungen mittlerweile sein Handeln beeinflussen bzw. bestimmen. Mit dieser Frage will ich mich im späteren Teil beschäftigen. An dieser Stelle, ist mir nur wichtig festzuhalten, dass ich die Variante „Ausweitung des Krieges“ – trotz einiger rationaler Gegenargumente – keinesfalls ausschließen würde.

3. Hoffen auf bessere Zeiten

Dies ist die Variante, bei der Putin hoffen müsste, wenn er schon keinen aktuellen Sieg erringen kann, die Niederlage doch so lange wie möglich hinauszuzögern und zu hoffen, dass sich zwischenzeitlich irgendetwas ergibt. Für die Menschen in der Ukraine würde diese Variante bedeuten, das der Krieg etwas abkühlt, aber die Bombardierungen und Beschüsse großer Teile der Ukraine weitergehen und diese Landstriche in das Mittelalter zurückgebombt werden. Die humanitäre Situation würde sich sukzessive weiter verschlechtern und der Druck auf die ukrainische Regierung zu „Kompromissen“ würde national wie international höchstwahrscheinlich steigen.

Darüber hinaus wäre es sicherlich Putins Kalkül darauf zu hoffen, dass sich die westliche Phalanx von NATO, EU und G7 nicht auf Dauer so konfliktarm darstellen wird, wie es die ersten Kriegsmonate gewesen ist. Hier sind bereits deutliche Anzeichen zu erkennen, ob wir die Türkei bei der NATO-Aufnahme von Finnland und Schweden nehmen, oder Ungarn, die Slowakei und Tschechien beim Embargo für russisches Öl. Außerdem kalkulieren die Russen sicherlich ein nachlassendes Interesse der westlichen Öffentlichkeiten bei dieser Variante.

Ob nun die Variante 3. oder 2. wahrscheinlicher sind, ist auch ein wenig Spekulation. Noch halte ich 3. für wahrscheinlicher, gleichwohl auch diese Variante immer die zusätzliche Gefahr birgt jederzeit zu Variante 2. eskaliert werden zu können. Dies halte ich auch gerade dann für wahrscheinlich, wenn sich Putin zunehmend einer ukrainischen Armee gegenüber sieht, deren militärische Ausrüstung der russischen überlegen ist. Die Variante „Hoffen auf bessere Zeiten“ lebt auf Dauer davon, dass sich für die Russen keine gravierenden Nachteile ergeben und die Zeiten nicht so deutlich schlechter werden, dass die Option „auf Zeit spielen“ aus russischer Sicht komplett irrational wird. Dann ginge es um die Frage wird alternativ 1. oder 2. gewählt.

Ich halte es – auch zur Implementierung einer erfolgversprechenden Verhandlungsstrategie – für notwendig, sich das ideologische Umfeld der Kremlmachthaber einmal etwas genauer anzuschauen, auch um keine Fehler zu machen und Prozesse irrational (aus westlich-ukrainischer Sicht) zu eskalieren.

Die ideologischen Strömungen um Putin herum

Wenn wir einen Blick auf „Ideologien“ werfen, die im heute herrschenden russischen Machtapparat und um ihn herum en vogue sind, fällt sofort auf, dass es sich um eine selten krude Mixtur handelt. Der russische Politologe Wladimir Pastuchow sagt dazu:

Es liegt mir fern, dem Präsidenten Plagiat vorzuwerfen. Aber neu ist an dem, was Putin heute sagt, nur die Tatsache, dass es Putin sagt. All diese Ideen sind Zersetzungsprodukte der kommunistischen Ideologie, die erst jahrzehntelang im Untergrund der sowjetischen Stagnation vor sich hin gerottet und dann nutzlos in den Hinterhöfen der „wilden 1990er“ herumgelegen haben.“(2)

Sein Text ist eine radikale Abrechnung mit dem was – aus seiner Sicht – die drei ideologischen Hauptströmungen Russlands (die fundamentalistische christliche Orthodoxie, die Slawophilie und der Stalinismus als radikale Version des russischen Bolschewismus) für Schäden in der russischen Gesellschaft angerichtet haben.

Vom Prinzip her gibt es in Russland traditionell eine nach Westeuropa orientierte politisch-kulturelle Strömung (die sogenannten Westler) und eine große Mehrheit in der Bevölkerung, die dem „Westen“ eine mehr oder weniger fundamentale Skepsis bzw. Ablehnung entgegenbringt. Die Westler reichen von Trotzki über Sacharow und Nemzow, bis zu Gorbatschow, Muratow (3) und Aljochina (4). Sie standen und stehen immer unter Druck, da ihre kulturell-politische Position eine strukturelle Minderheitsmeinung darstellt. Grundsätzlich fördert die sich auch in Russland vollziehende Urbanisierung zwar die demokratisch-westlichen Sichtweisen gerade bei jüngeren Leuten, wir müssen allerdings zur Kenntnis nehmen, dass Russland ein riesiges Land ist, dass sich zu großen Teilen (zumindest außerhalb der städtischen Bereiche) sozio-ökonomisch als auf dem Niveau eines Schwellenlandes darstellt. Die Armut in vielen Bereichen des Landes ist eklatant, die Ausprägung einer konsum- und partizipationswilligen Mittelschicht – außerhalb großstädtischer Zentren – ist gering. Es herrscht Paternalismus, Kampf um die alltäglichen Dinge des Lebens, Chauvinismus, geringe Bildung, Korruption, Alkoholismus und Perspektivlosigkeit in weiten Räumen des Riesenreiches. Die sich jetzt aktuell enorm verschärfte Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Drangsalierung oppositioneller Szenen, wird die Apathie und den Rückzug in das Private mehrheitlich fördern und höchstwahrscheinlich nicht zu größeren Widerstandsaktionen führen.

Worauf fußt dann aber die ideelle und ideologische Überzeugung der russischen Mehrheitsgesellschaft und des amtierenden Herrschaftsapparates ?

Die größte Rolle dabei spielt dabei für die Masse der Menschen erst einmal die russisch-orthodoxe Kirche. Die Orthodoxie, war dem Westen gegenüber schon immer skeptisch bis feindlich eingestellt. Dies hat Gründe, die weit zurückreichen.

Die Kirchenspaltung 1054, die Erstürmung und Plünderung Konstantinopels durch das hauptsächlich französische Kreuzfahrerheer während des vierten „Kreuzzuges“ 1204 und die dynastische Verbindung des Zarentums mit dem byzantinischen Kaiserreich nach dessen Untergang. (siehe hier und sehr zu empfehlen Abdrift I bis III).

Grundsätzlich lässt sich die Botschaft wie folgt zusammenfassen:

Der Westen ist verlogen (siehe Irakkrieg) und verräterisch (siehe Byzanz). Er ist moralisch verkommen und beschäftigt sich hauptsächlich mit abseitigen Themen wie Gender-Chi-Chi und LGBTQ-Behüdelung. Niemand weiß mehr, auf welche Toilette er oder sie abends gehen will und alle sind extrem verweichlicht und feige.

Aber für was ist der russische Machtapparat ? Sind das einfach Faschisten, bigotte Spinner, homophobe Irre, pathologische Lügner, Besoffene, Blutsäufer, Stalinisten, Imperialisten, oder was ?

Ich fürchte fast, es ist ein bisschen von allen und bei jedem der Typen anders. Die enge Clique um Wladimir Putin selbst ist eine tschekistische Seilschaft (5) aus seinen Petersburger Anfängen. Sie betrieben im damaligen Hafen von Leningrad allerlei illegal-korrupte Geschäfte und sind im Ursprung eher eine der typischen lokalen russischen Mafiosigruppen gewesen, als sowjetische Ideologen. Putin und seine Gruppe arbeiteten damals aber schon fast alle in sowjetischen Geheimdienstorganen, natürlich hauptsächlich KGB. Putins Karriere verlief zeitweilig recht schleppend. Zum Beispiel war er während des Zusammenbruchs der Sowjetunion einer der KGB-Residenten in Dresden und hatte gar keine relevante Innensicht auf den Prozess, den er heute immer lauthals beklagt. Da aber Putin ein eingeschworener Gegner von Gorbatschow war, näherte er sich dessen Gegenspieler Jelzin und beschäftigte sich in den 90er Jahren hauptsächlich mit der – in diesen Kreisen üblichen – legalen, halblegalen und illegalen Geschäftemacherei. Seinen Aufstieg verdankte Putin letztlich dem Versprechen an Jelzin, auch nach Ende dessen Amtszeit, ihn niemals für seine korrupten Exzesse, zur Verantwortung zu ziehen. Daraufhin setzte Jelzin Putin als seinen Kronprinzen durch.

Putin zog seine Petersburger Seilschaft nach und auch heute ist er noch von sehr vielen Mitgliedern dieser Gruppe umgeben. Ideologisch waren sie wenig festgelegt, zwar alle stark russisch-orthodox, agierten aber vorwiegend machtorientiert und im Sinne ihrer persönlichen Bereicherung. Die ganze Gruppe war immer sehr durch Männlichkeitswahn, chauvinistischen Einstellungen und obsessiven Kult von Gewalt und Stärke geprägt, aber zunehmend wurde klar, dass da doch ein wenig Überbau fehlt, der dem Volk die Politik etwas verblasener „verklärt“. Bei der Suche nach solchen Angeboten stießen Putin und seine Gefolgsleute auf den religiös-eurasischen Untergrund. Hierzu noch einmal Wladimir Pastuchow: „Eine kleine, aber eingeschworene Gruppe von „Petersburgern“ hatte Kraft nur teilweise zufälliger Umstände fest die Zügel der Macht an sich gerissen und brauchte für ihre politischen Ambitionen dringend einen ideologischen Überbau. Da sie selbst alle Merkmale einer esoterischen politischen Sekte aufwies, tendierte sie naturgemäß zu einer sektiererischen Weltanschauung. Aus diesem Grund gab es von Anfang an eine gegenseitige Anziehung zwischen den „Petersburgern“ und dem „orthodoxen Untergrund“. Die Frucht dieser Liebe ist das Oxymoron der Putin-Ära: die „orthodoxen Tschekisten“ – und ihr Manifest, das zwischen 2005 und 2010 anonym herausgegebene mehrbändige Werk „Projekt Russland“.

Bis 2012 blieb der „Geheimbund der Schwerter und Pflugscharen“ allerdings weitgehend unbekannt. Die Kontakte fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die außerehelichen Ideen, die aus ihnen geboren wurden, versuchte der Kreml nicht an die große Glocke zu hängen. Erst nach der gescheiterten Revolution von 2011 bis 2013 wurde der Schleier gelüftet. Den russischen Machthabern, die seit Anfang der 1990er Jahre nach einer Massenideologie gesucht hatten, wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit durch goldenen Sand gelaufen waren. Sie mussten nichts erfinden, es stand quasi alles schon bereit. Also hat der Kreml die „russischen Eurasier“ behutsam aus dem Dreck gefischt, sie gewaschen, gestriegelt und ihnen eine Krone aufgesetzt.

Der Effekt übertraf die kühnsten Erwartungen. Das orthodox-slawophile Mantra, das in der russischen Geisteskultur tatsächlich nicht weniger tief verwurzelt ist als das Westlertum, schlug wie eine Granate ein beim Volk, das durch jahrzehntelanges Chaos zermürbt und durch Gewalt korrumpiert war und den Schock des plötzlichen Zusammenbruchs des Imperiums noch nicht überwunden hatte. In seiner dekadentesten, bis ins Absurde getriebenen Form trat der russische Eurasianismus aus dem Untergrund empor und geradewegs auf die Bühne von Lushniki.“ (6)

Es entstand ein Gebräu aus nationalistischen Geheimdienstlern, Mafiosis, fundamentalistischen Russisch-Ortodoxen und Eurasiern. Die Eurasier träumen von einem russischem Großreich mit dem Kern durch die Russische Föderation, die Ukraine und Belarus, ergänzt durch Satelliten im gesamten Zentralasien (zentral dabei Kasachstan) und dem Baltikum und immer mit der Option der Ausweitung in die slawische Welt. Ihre schillerndste Gestalt ist Alexander Dugin (7), aber auch Alexander Solschenizyn war bekennender Eurasier.

Die Kremlreligion hat sich aber fortentwickelt und ist zu einer durchaus als faschistisch zu bezeichnenden politischen „Philosophie“ geronnen, die widerspüchlich und unlogisch erscheint. Da das aber fast ein Markenzeichen von Religionen und extremistischen Philosophien ist, kann dies nicht beruhigen. Noch einmal Pastuchow:

Wenn man zum ersten Mal mit der neuen Kremlideologie konfrontiert wird, verspürt man ein intellektuelles Unbehagen, so sehr wirkt dieses Produkt wie eine krude Ansammlung von Alogismen (8). Aber sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt man langsam durchaus vertraute und keineswegs neue Gestaltungselemente, die das Konzept als eine latente Spielart der Rassentheorie entlarven.“

Aus welchen Elementen besteht die Kremlideologie nun aber genau ?

1. Die Überlegenheit der russischen Nation

Wie bei den deutschen Nationalsozialisten existiert im Kreml eine völlig übersteigerte Annahme von Rolle und Bedeutung der russischen Nation, der eine existenzielle Aufgabe und quasi religiöse Sendung angedichtet wird. Die Kritik am Westen bezieht sich auf viele geschichtliche Ereignisse, deren fatale Wirkungen die russische Nation und die russisch-orthodoxe Religion wieder richten und neu zusammenfügen müsste. Dieses sei die heilige Aufgabe des privilegierten russischen Volkes. Der deutsche Philisoph Boris Groys erklärt dies sehr anschaulich an einer fast 200 Jahre alten Auseinandersetzung, die der Philosoph Pjotr Tschaadajew mit einem Brief ausgelöst hatte, in dem er die These aufstellte, dass Russland ein kulturelles Niemandsland sei, das alles was es kulturell habe vom Westen übernommen habe und dann noch nicht einmal richtig. Denn im Land herrsche überall noch ein Ressentiment gegen den Westen. Die Orthodox-Konservativen tobten:

Die kritische Reaktion auf Tschaadajew war gewaltig. Die Kritiker nahmen dabei vor allem Bezug auf die Trennung zwischen Ost- und Westkirche im Jahre 1054 als jenen historischen Punkt, an dem die eigenständige russische Kultur entsteht – und zwar direkt in der Opposition zum Westen. Und die ist interessanterweise bis heute ein großes Thema für die russische Staatsideologie. Demnach verwalte Russland das Erbe von Byzanz. Und Byzanz galt hierbei als das wahre römische Reich, die Zaren als die wahren Nachfolger Cäsars, die Orthodoxie als der wahre Glaube. Deshalb sei Russland, so die Kritiker Tschaadajews, der einzig verbliebene Ort der Wahrheit in der Welt. Seit diesen Reaktionen hat sich ideologisch nicht viel verändert. Auch heute sehen viele Russland als das zeitgenössische Byzanz, als Hort des wahren Christentums – und den Westen als Feind, der mit seinen Kreuzzügen Konstantinopel zerstörte und jetzt sein Erbe zunichtemachen will. Wenn man nun aber fragt, was dieses Erbe denn genau ist, weiß man dazu wenig zu sagen. Man weiß, wer der Feind ist und dass man gegen ihn irgendwas verteidigen soll, aber was das exakt ist, weiß man nicht. (9)

Die Russen müssen also etwas verteidigen was der verräterische Westen preisgibt. Das ist ihre heilige Mission als auserwähltes Volk. Noch einmal Goys:

Das hat damit zu tun, dass Russland immer der bessere Westen sein wollte, nicht der eigentliche Westen. Verteidigte man schon Byzanz als das wahre Erbe Roms, wird auch der heutige Westen als dekadente Verfälschung seines ursprünglichen Selbst gesehen. Als 1935 in Paris der internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur aufrief, bemerkte Stalin, der Westen zeige sich unfähig, das große westliche Erbe zu verteidigen. Deshalb sei es nun die Aufgabe der Sowjetunion, dies zu übernehmen. Dementsprechend wurde auch in den Schulen der Sowjetunion gelernt, diese sei das Ergebnis der besten westlichen Traditionen: von Aufklärung, Hegel’scher Dialektik, deutschem Idealismus, Adam Smiths wirtschaftlicher Analyse, westlichen sozialistischen Utopien. Schaut man sich die gegenwärtige Propaganda des russischen Regimes an, findet man Ähnliches: Letztlich verteidige man das Beste der westlichen Kultur. Der Westen selbst habe durch Multikulturalismus, LGBTQ-Ideologie und allgemeine Dekadenz nämlich seine Wurzeln verraten. Jetzt versucht Russland wieder einmal den wahren Westen zu retten. Hatte die Sowjetunion sich also als progressive Seite der westlichen Kultur verstanden, sieht sich das heutige Russland als ihre reaktionär-konservative Seite. In beiden Fällen versteht Russland sich selbst als den wahren Westen, den real existierenden Westen hingegen als pervertierten Westen.

Nun wissen wir es endlich. Der Westen muss von den Russen vor sich selbst verteidigt werden. Das ist deren deren heilige Mission und zwar notfalls mit Feuer und Schwert.

Nur als Gimmick. Es gibt natürlich auch in dieser „auserwähltes-Volk-Summserei“ noch einmal einen Schwachmaten-Flügel, der faschistische Ideologie dann nochmal zur Realsatire verdichtet. Der ehemalige Kulturminister (!) der Russischen Föderation Medinski (amtierte von Mai 2012 bis Januar 2020) hatte zeitweilig Veranstaltungen durchgeführt zum Thema, dass die Russen ein Chromosom mehr hätten und deshalb privilegiert unter den Völkern seien. Na daher, dachten wir doch schon.

Und das Beste kommt noch:

Neue Mission für den Chefhistoriker

Vordenker des Neo-Imperialismus: Ex-Kulturminister Wladimir Medinski prägte Putins Geschichtsbild. Nun leitet er die Friedensverhandlungen mit der Ukraine.

Aus: Tagesspiegel Online 01.03.2022

2. Die Minderwertigkeit der anderen Nationen

2.1 Der Westen

Die Russen erklären die gesamten Staaten der westlich-kapitalistischen Demokratien – mit Ausnahme der USA – als unfähig einen vollwertigen souveränen Staat zu unterhalten. Sie seien so abhängig von den USA, dass sie überhaupt keinen Spielraum hätten und sie seien so feige, dass sie auch gar keinen wollten. Deshalb brauche man auch nicht mit ihnen verhandeln, sondern müsse nur mit der USA reden, die anderen kämen dann schon hinterhergetrippelt. Entwickelt dargelegt hat diese Sichtweise einer der wichtigsten Berater Putins Wladimir Surkow in dem Text „Der langwährende Staat Putins“. Dass es bei der russischen Auffassung nicht um reine Propaganda handelt, wird auch an Reaktion Putins auf europäische Vermittlungsversuche deutlich

2.2 Die Ukrainer

Die Russen behaupten fortwährend die Ukrainer hätten keine Geschichte, keine Sprache, keine Kultur und sie seien komplett außerstande ein Armee aufzustellen und einen Staat zu unterhalten. Dass dieser Unsinn immer noch verbreitet wird, entgegen allen auch militärischen Fakten, zeigt, dass die Putin-Clique finster entschlossen scheint, sich auch nicht von der Realität nicht dumm kommen zu lassen. Aber jenseits aller Verrücktheiten, ist mit dieser Haltung natürlich jedweden Gräueln gegen die ukrainischen „Faschisten“ (als Synonym für die nationalsozialistischen „Untermenschen“) Tür und Tor geöffnet.

3. Die Existenz eines natürlichen Feindes

In den Wirren der Kreml-Ideologie gibt es einen Blutfeind. Die Angelsachsen. Ja lacht nicht. Auch wenn es noch so bescheuert ist und die Angelsachsen ja schon vor einiger Zeit von den Normannen zerstreut worden sind. Das ist der Erb- und Blutfeind. Je weniger real die Angelsachsen sind, umso besser, sagt Pastuchow. So lassen sich alle Opponenten ganz instrumentell als Handlanger der Angelsachsen (alle Wege führen nach Washington) deklarieren. Seien es nun belarussische Demonstranten, Ukrainer, oppositionelle Russen, Balten, Polen, der Papst, die Deutschen oder das Wetter.

4. Die Ukraine als Heiliger Gral

Pastuchow sagt: „In der Tradition von Solschenizyn und anderen Eurasiern misst der Kreml der Kontrolle über die Ukraine besondere, mythische Bedeutung zu. Die von niemanden rational begründete These, dass das Russische Reich nicht existieren kann, wenn nicht die Ukraine dazugehört, wird als unbedingtes Axiom akzeptiert und ist grundlegend für alle geopolitischen Konstruktionen des Kreml. Die Ukraine ist nach seinem Verständnis sowohl heilige Messen wert als auch eine „Spezialoperation“, die man im Zentrum Europas als letzte und entscheidende Schlacht inszenieren kann.“

Stimmt diese Sichtweise und einiges spricht dafür, wird die Auseinandersetzung um die Ukraine nicht vorbei sein, bevor sich die russischen materiellen und militärischen Ressourcen soweit erschöpft haben, dass ein „weiter so“ systemgefährdend wird. Das ist eine sehr schlechte Nachricht für die ukrainischen Militärs und Zivilisten, macht aber gleichwohl deutlich, dass die militärische Unterstützung der Ukraine, am Limit dessen liegen muss, was noch vertretbar ist.

5. Das Recht auf Krieg

Grundsätzlich erklärt der Putinismus ein „Recht auf Krieg“ zu haben. Bezogen wird sich auf Carl Schmitt, Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger und Martin Heidegger. Allein das Vorhandensein eines heiligen Ziels rechtfertigt Krieg zu seiner Durchsetzung. Die Gewaltverherrlichung als quasi göttlich-alttestamentarisches Herrschaftsprinzip ist allumfassend und spiegelt sich auch in den Austragungsformen innergesellschaftlicher Konflikte (Mordanschläge, Zerschlagung von Demonstrationen, Illegalisierung aller Einrichtungen der Zivilgesellschaft, Abschaffung von Meinungs- und Koalitionsfreiheit).

In dem Verhalten nach außen bezieht man sich u.a. auch auf

Dostojewski: „Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht ?“ In der Vorstellung des Kreml bedeutet „können“ sowohl „das Recht dazu haben“, als auch „müssen/sollen“. Die neue Ideologie ist in dieser Hinsicht eine Apotheose jenes Kults der Stärke, der jahrelang die esoterische Religion des Petersburger Clans war. Der Militarismus der neuen Ideologie ist keine Notwendigkeit, sondern ihr innerster Kern.“ (Pastuchow)

6. Die Idee von der Normalität des Krieges

Das von Putin ja auch jetzt immer wieder gehörte Axiom, der Krieg sei unvermeidlich, da die USA ihn ohnehin entfesseln würden und dann könne man auch gleich selbst anfangen, treibt die mythische Gewaltverherrlichung auf ihre Spitze. Es ist aber genau das, was wir aktuell von Putin andauernd hören und was es so schwer vorstellbar macht, sich mit ihm auf irgendeinen akzeptablen Modus Vivendi zu einigen. Die Schwächung der russischen Armee bis zur mittelfristigen Interventionsunfähigkeit (wie vom US-Verteidigungsminister Lloyd Austin unlängst formuliert), halte ich unter diesen Voraussetzungen, für ein legitimes Ziel.

7. Die Macht der Ideologie

Dazu Wladimir Pastuchow im Zitat:

Der ohrenbetäubende Erfolg der militaristischen Propaganda, den wir heute von Moskau bis in die entlegensten Winkel des Landes beobachten können, ist keineswegs zufällig oder spontan. Er wurde nur möglich, weil der Kreml tatsächlich im Besitz einer umfassenden und perfekten „ideologischen Massenvernichtungswaffe“ ist. Die Ideologie des russischen Hypernationalismus hat es geschafft, die Eliten im Kreml zu vereinen, und zwar nicht von außen, sondern von innen heraus, nicht durch Furcht, sondern durch den Glauben. Ich vermute, dass die erdrückende Mehrheit der Umgebung des Präsidenten tatsächlich mit diesem Virus infiziert ist und das, was wir beobachten, keine Verstellung, kein Zynismus ist, sondern eine Art kollektive Ekstase der Mitglieder eines semireligiösen Ordens.

Dabei ist nicht gesagt, dass alle auf dieselbe primitive Weise glauben, in jener karikierten Form, in der die Solowjows und Kisseljows (10) uns diese Irrlehre darbringen. Es kann auch eine ausgefeilte Philosophie sein. Diese neue Ideologie wird künftig bei politischen Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen, die individuellen Unterschiede und Interessen der einzelnen Führer dagegen eine immer kleinere. Entsprechend werden der Militarismus und die Aggressivität des Regimes nur zunehmen. Es wird versuchen, sämtliche verfügbaren Räume auszufüllen, die man ihm lässt, solange, bis es auf eine andere Kraft stößt, die es nicht imstande ist zu bezwingen.“

Auch keine schöne Aussicht, aber wahrscheinlich realistisch.

Was machen wir jetzt mit der Frage, ob es sich bei Putins Russland um ein faschistisches System handelt? Ich würde sie mit eindeutig ja beantworten. Folgende Kriterien sind alle erfüllt:

Nach innen:

Formierte Gesellschaft mit Unterdrückung von Meinungsfreiheit, Koalitions- und Versammlungsfreiheit.

Drangsalierung der demokratischen Zivilgesellschaft

Verfolgung von Oppositionellen, Scheinwahlen

Führerkult, Heldenkult, Siegeskult und Totenkult

Verherrlichung von Krieg und Gewalt als Mittel der Politik

Implementierung von Vorstellungen der Überlegenheit des eigenen Volkes

Nach außen:

Permanente Kriegs- und Gewaltdrohungen, Führen von Angriffskriegen

Massaker an Zivilbevölkerung,

Terrorisieren der Zivilbevölkerung durch permanente Bombardierung ihrer Wohn- und Lebensräume,

Imperialistische Absicht der Gebietsvergrößerung

Bedrohung eines Volkes mit Völkermord

Vertreten von Konzepten wie „Kulturraum“ und absorbieren fremder „Kulturräume“.

Ich denke, wir müssen alle lernen, die herrschende russische Clique als das zu nehmen, was sie ist. Die moderne Gestalt des Faschismus im Hier und Jetzt. Nicht umsonst finanziert Russland auch die Lega Nord, Marine Le Pen und die AFD mit. Die Einflußnahme auf die Trumpwahl 2016 (Hack der Clinton-Mails) und der englischen Brexit-Kampagnen (durch Geld und Beratung für Nigel Farrage) ergänzten das Arsenal außenpolitischer “tschekistischer” Aktionen. Mordanschläge auf Dissidenten, Jornalisten und Journalistinnen und Austeigern aus dem Geheimdienstmilieu wurden so zahlreich, das auf sie kaum noch relevante westliche Reaktionen folgten.Unseren alten antifaschistischen Freunden wäre doch vielleicht anzuraten, dass es keine schlechte Sache sei, wenn man den Faschismus doch auch mal erkennen könnte, wenn er vor einem steht. Putin ist das stärkste Glied des Neuen Faschismus und der rechtsradikal-identitären Bewegung. Auch dagegen kämpft die Ukraine aktuell für uns mit. Lassen wir sie damit nicht allein.

Abdrift I

Die historischen Zerwürfnisse zwischen Orthodoxie und Lateinern und Moskau als drittes Rom

Das Schisma

Die Ereignisse die zur Kirchenspaltung von 1054 (Morgenländisches bzw. Großes Schisma) führten sind vielfältig und waren zu guten Teilen schon seit Kirchengründung (1. Konzil von Nicäa 325 n.C.) virulent. Dazu gehörten so megaspannende Fragen wie die nach der korrekten Form der Eucharistie /des Abendmahls, dem Verhältnis Jesus – Gottvater und kommt der Heilige Geist nur von Gott oder auch vom Sohn. Viele solch theologischen Fragen waren letztlich nicht zur Zufriedenheit der späteren orthodoxen Ostkirche geklärt worden und brachen im Laufe der Zeit immer wieder auf. 1054 wurde die Spaltung dann vollzogen, wobei dort auch die machtpolitische Streitfrage um die Einzigartigkeit und Herausgehobenheit der Stellung des Papstes, im Verhältnis zum byzantinischen Patriarchat, eine große Rolle spielte. Ich halte die kulturelle Entfremdung der griechischsprachigen Byzantiner von den lateinischsprachigen Katholiken für eine ganz wesentliche Ursache der späteren Kirchenspaltung. Man konnte ja damals nicht Google zur Übersetzung zu Rate ziehen, sondern musste Texte mühselig übersetzen. Mit der Zeit ging dann auch die Beherrschung der jeweils anderen Sprache verloren. Trotzdem das Alte Testament aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt wurde und das Neue Testament in griechisch verfasst war, beherrschten z.B. wichtige Kirchenväter wie Augustinus schon Ende des 4. Jahrhunderts kein griechisch mehr. Auf der anderen Seite waren viele byzantische Bischöfe, Metropoliten und Patriarchen des Lateinischen nicht mächtig. Grundsätzlich verstehen sich die orthodoxen Kirchen als bodenständiger, spiritueller und volksnäher im Vergleich zur katholischen Kirche mit ihrer griechisch(!)-römischen Philosophenintellektualität.

Slawenmissionierung durch Kyrill und Method

Kyrill (eigentlich Konstantin) und sein Bruder Method (eigentlich Michael) waren zwei byzantinische Gelehrte und Priester aus Thessaloniki. Sie hatten wahrscheinlich eine slawische Mutter, sprachen jedenfalls leidlich slawische Dialekte. 862 machten sie sich auf nach Mähren und begannen ihre Slawenmissionierung. Der Fürst von Großmähren Ratislav wandte sich vorher an den byzantinischen Kaiser Michael III, mit der Bitte ihm doch christliche Priester zu schicken, da sein Volk bereits seine „heidnischen“ Überzeugungen über Bord geworfen hätte und jetzt religiöse Lehrer benötige. Das Missionsleben hatte für die beiden Byzantiner viele Auf-und-Abs zu bieten. Auf jeden Fall war ihre Missionierung sehr erfolgreich und verbreitete sich fast im Selbstlauf oder durch Herrschaftsausweitungen missionierter Fürsten. Ein wesentliches Merkmal für die Orthodoxie schufen beide und ihre Schüler mit der altkirchenslawische Schriftsprache, die später – am Hofe des bulgarischen (!!) Zaren – in das kyrillische Alphabet transformiert wurde. Neben der Herstellung einer allgemeinen slawischen Schriftsprache, übersetzten sie auch die Bibel ins slawische und ermöglichten dadurch, lange vor Luther, volkssprachliche Kirchentexte und Liturgie. Dies war für die Verbreitung und Wirkung der späteren orthodoxen Kirchen (so auch der russischen) von immenser Bedeutung. All dies taten sie in unmittelbarer Konkurrenz zu den Slawenmissionierungskampagnen von Franken und Bayern und blieben dabei – trotz deutlicher geographischer Nachteile – sehr erfolgreich und methodisch (deshalb Method) überlegen.

Abdrift II

Die historischen Zerwürfnisse zwischen Orthodoxie und Lateinern und Moskau als drittes Rom

Die Eroberung und Plünderung von Konstantinopel durch das Kreuzfahrerheer 1204

Im Jahre 1198 rief Papst Innozenz III zum vierten Kreuzzug auf. Dieser sollte wie immer Jerusalem „befreien“ und die Heiligen Stätten wieder in Besitz nehmen. Es wurde verabredet, dass Venedig die Schiffe (mehr als 200 für ca. 34.000 Ritter und Knappen)) stellen sollte und dafür 85.000 Mark Silber und die Hälfte der eingenommenen Gebiete erhalten sollte. Tatsächlich kamen dann aber nur ca. 11.000 hauptsächlich französische Ritter zusammen. Die Venezianer – in echter Sorge um ihre reichliche Beförderungsvergütung – einigten sich mit den Kreuzfahrer darauf, zur Unternehmensfinanzierung erst einmal die christliche Stadt Zara (an der heutigen kroatischen Adriaküste) zu überfallen. Im November 1202 gelang es dem Kreuzfahrerheer Zara zu erobern. Die Beute wurde mit dem Ticketkosten der Kreuzfahrer verrechnet und so waren die Venezianer schon einmal auf der sicheren Seite. Man entschloss sich in Zara zu überwintern. Das Kreuzfahrerheer, das sich schon vor Abfahrt mit den Venezianern darauf geeinigt hatte, statt Jerusalem mit dem mächtigen Sal-ad-Din doch lieber das reiche Ägypten zu überfallen, überlegte sich während des Winterlagers, warum es statt Ägypten nicht das reiche Konstantinopel sein könnte. Die Venezianer hatten massiven Ärger mit Byzanz und die deutsch-flämisch-französische Ritterschaft war sowieso immer an erfolgreicher Raubritterschaft interessiert. Als dann noch im Frühjahr ein Abgesandter einer in den ortstypischen byzantischen Palastrevoltenkonflikten gerade unterlegenen Fraktion in Zara auftauchte und das Kreuzfahrerheer als Söldner anwerben wollte, war der Entschluss schnell gefasst. „Auf nach Konstantinopel“. Als die Söldner/Kreuzfahrer, nach einigen Machtwechseln innerhalb Konstantinopels, dann nicht bezahlt werden sollten und sich eine Gegenseite der Auftraggeber in Byzanz durchgesetzt hatten, schalteten die Kreuzfahrer in den Angriffsmodus. Am 09.04.1204 erfolgte der Angriff auf die byzantinischen Mauern, am 13.04.2004 fiel die Stadt, nachdem sich der Machthaber abgesetzt hatte. Was folgte war eine beispielslose Gewaltorgie und Plünderungswelle. Es starben nach Schätzungen der meisten Historiker zwischen 50.000 und 100.000 Einwohner und es wurden Reliquien und Kunstschätze geraubt, wie sie keine Stadt der Christenheit jemals besessen hatte (auch Rom nicht). Der Markusdom in Venedig ist regelrecht vollgestopft mit Raubgut aus Konstantinopel. Der Brand der von den Kreuzfahrern entzündet wurde konnte bis in den Herbst nicht vollständig gelöscht werden.

Das byzantinische Reich zerfiel in mehrere kleine Staaten und Despotate (so hießen die wirklich) und konnte den Turnaround , hin in die Nähe einstiger Größe nie mehr schaffen. Letztlich war es klar, dass der byzantinische Staat und seine Kultur jetzt zum Untergang verurteilt waren. Die Frage war lediglich, wer diesen Untergang final herbeiführen würde. Später wurde klar, dass dieser Part

dem aufstrebenden osmanischen Reich zufallen würde.

Für die russische Orthodoxie ist der Verrat des „Westens“ am „zweiten Rom“, auf das sich die russische Kirche in ihrer Gründungsgeschichte natürlich bezieht, der historischen Beweis für dessen Verkommenheit und die Verlogenheit der westlichen Kultur.

Abdrift III

Die historischen Zerwürfnisse zwischen Orthodoxie und Lateinern und Moskau als drittes Rom

Die krude Story von Moskau als drittem Rom

Wie schon erwähnt, hatte sich Byzanz von der Kreuzritterzerstörung nie wieder wirklich erholt. Gleichzeitig wuchs dem osmanischen Reich eine immer größere Machtfülle zu und territorial war Konstantinopel als Stadt um 1450, eng von osmanischen Herrschaftsgebiet umschlossen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Sultan Mehmet II vor den Toren der byzantinischen Landmauer auftauchen würde. Dies war dann Anfang April 1953 der Fall. Alle Hilferufe Konstantinopels verhallten. Niemand aus dem Westen kam zur Hilfe. Nach langem Artilleriebeschuss erfolgte am 29.05.1453 um 1.30 Uhr der türkische Sturm auf Konstantinopel. Um 8.30 Uhr morgens war die Stadt endgültig gefallen. Der letzte byzantinische Kaiser Konstantinos XI Paleiologos starb, wahrscheinlich bei der Verteidigung der Mauern. 15 bis 20 Schiffen mit christlichen Belagerten gelang der Durchbruch der osmanischen Belagerungskette auf der Seeseite. So kam es, dass – bis auf den Kaiser – vielen Mitgliedern der kaiserlichen Familie die Flucht gelang. Sie wandten sich den byzantinischen Besitzungen auf dem Peloponnes zu. Einige siedelten später nach Rom über. Zu den nach Rom übergesiedelten Familienmitgliedern gehörte auch die Nichte des letzten Kaisers (Tochter seines Bruders Thomas) Zoe Sofia Paleiologa. Sie war beim Fall Konstantinopels cirka 5 Jahre alt und wurde zum Mündel des Papstes Sixtus IV ernannt. Als die junge Frau verheiratet werden sollte, kam es nicht recht zu ernsthaften Angeboten. Wahrscheinlich war die auch untereinander sehr blutige Geschichte der byzantinischen Herrscherfamilien kein echtes Verkaufsargument. Denn um ein Geschäft handelten sich bei Heiratsverbindungen aus solchen Kreisen. Der ebenfalls aus Byzanz stammende (und zum Lateinertum konvertierte) Kardinal Bessarion erhielt von Papst Sixtus den Auftrag für Zoe einen passenden künftigen Gemahl zu finden. Die Wahl fiel auf den Moskauer Großfürsten Iwan III, der auch sofort zustimmte. Der Moskauer Großfürst erschien dem Papst als attraktiver Bündnispartner gegen die Osmanen, was sich aber im weiteren geschichtlichen Verlauf als Trugschluss herausstellte. Zoe jedenfalls wird mit großen Gefolge nach Moskau gebracht und heiratet dort am 12.November 1472 den Großfürsten Iwan. Sie nennt sich nach der Heirat Sofia Paleiologina. Nun hat der Großfürst eine Frau aus echtem oströmischen Kaisergeschlecht. Ein echter genealogischer Durchbruch und der Beginn der Erzählung von Moskau als drittem Rom. Iwans Sohn aus erster Ehe (und deshalb eigentlich sein Nachfolger) stirbt an einer rätselhafter „Beinfäule“. Zum Nachfolger Iwans wird Zoe/Sofias Sohn Wasili erklärt. Da unsere Zoe aus einer Familie und Kultur der beinhart und blutig durchgeführten Nachfolgeränke kommt, vermute ich mal … na ja „Honi soit qui mal y pense“ (etwa: ein Schelm, der Böses dabei denkt).

Wasili wird in der Folge der erste Moskauer Großfürst der sich Zar nennen lässt, wenn er auch noch nicht gekrönt wird.

Aber der heutige Anspruch der rückwärtsgewandten Russen ist klar: Russland durch oströmisches Kaiserblut legitimiert zum Kampf gegen Dekadenz (Untergangsgrund des ersten Rom) und Teufel (durch den Sieg ungläubigen Osmanen der Untergangsgrund des zweiten Rom) ist das dritte Rom und der wahre Westen.

Russland muss wieder zusammenfügen, was westliche Dekadenz und westliche Verräter zerstört haben. Dieser Salmon erscheint immer wieder in Putinreden und das russisch-ortodoxe Patriarchat steht hinter ihm, lächelt beifällig und segnet die Waffen.


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Neue Zürcher Zeitung 10.05.2022, Andreas Rüesch, „Putin hat im Krieg gegen die Ukraine nur noch die Wahl zwischen schlechten Optionen“

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Wladimir Pastuchow, „Totale Aufarbeitung“ 23.03.2022 erschienen in der Novaya Gazeta fünf Tage bevor sie bekannt gab, ihr Erscheinen bis zum Ende des Krieges einzustellen. Zitiert nach Dekoder Totale Aufarbeitung дekoder DEKODER Journalismus aus Russland in deutscher Übersetzung.html

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Dmitri Muratow, Chefredakteur der Novaya Gazeta, Friedensnobelpreisträger 2021.

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Maria Aljochina, Leadsängerin der Punkband „Pussy Riot“, gerade spektakulär – als Lieferservicemitarbeiterin verkleidet – aus dem Hausarrest nach Deutschland geflohen. Tourt mit alten und neuen Mitgliederinnen durch Deutschland und agitiert gegen Putins Angriffskrieg „Putin mag eure Gleichgültigkeit“. Konzert in Hamburg: 23.05.22 in der Elbphilharmonie (sorry, nun leider schon ausverkauft).

5

Tschecka, bolschewistischer Geheimdienst von 1917. Eigentlich Abkürzung für: Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution,Spekulation und Sabotage. Heute gebräuchlich für alle Figuren der russischen Geheimdienstkreise egal ob KGB, NKWD oder heute Inlandsgeheimdienst FSB

6

Lushniki ist das moskauer Olympiastadion und gemeint ist Putins absurde Propagandaveranstaltung zu Beginn des Krieges vor 81.000 Zuschauern in Goebbelsmanier (ein bisschen modernisierter Sportpalastauftritt)

7

Siehe Beitrag „Alexander Dugin – Putins Rasputin“ bei Feininger im März

8

unlogisch, widersprüchliche Konstruktionen

9

Boris Groys. Interview bei Zeit Online „Russland versteht sich als der wahre Westen“ 11.05.2022

10

Solowjow und Kisseljow sind zwei „Journalisten“ im russischen Staatsfernsehen, die unablässig ins Propagandamegafon schreien.