Sind die Russen betrogen worden?
Wenn man Putins Jammerelogen über die Niedertracht der westlich-kapitalistischen Länder – zur eigentlichen Rechtfertigung des Überfalls auf die Ukraine – verfolgt, taucht zügig die Frage auf : Ist da eigentlich etwas dran? Hat der Westen die Russen belogen und durch falsche Versprechungen über die Linie gezogen – die er von vornherein – niemals halten wollte ?
Gerade in unseren links-alternativen Kreisen, ist die Unschuldsvermutung gegenüber den westlich-kapitalistischen Ländern nicht besonders ausgeprägt und unsere politische Genetik warnt uns, dass die doch eigentlich immer noch moralisch mehr oder weniger „Scheiße“, geldgierig und imperialistisch sind. Unabhängig davon, dass dies ja auch nicht immer absurd ist, müssen wir aber in unserem Fall den Blick vor allem auf die konkreten Geschehnisse richten, im Laufe derer das Putinregime sich als betrogen illuminiert.
- Die 2+4 – Verhandlungen 1990
Russland behauptet immer, die Osterweiterung der NATO sei bei den 2+4-Verhandlungen 1990 (Mai bis September 1990) ausgeschlossen worden. Dies ist nicht richtig. Es gab im Vorfeld der Verhandlungen Sondierungen ( durchgeführt von Hans-Dietrich Genscher und dem damaligen US-Außenminister James Baker) in denen auch Modelle angedacht wurden, ob die Gebiete der ehemaligen DDR vielleicht nicht in das NATO-Gebiet integriert werden sollten. Allerdings zeigte sich schnell, dass dies nicht praktikabel sei und es wurde auf den Verhandlungen selbst dann von keiner Seite mehr vorgetragen. Bei den Verhandlungen ging es grundsätzlich nur um das Gebiet der DDR, auf dem ja zu der Zeit auch noch große Einheiten der Roten Armee stationiert waren. Der Westen verzichtete dann darauf das Beitrittsgebiet sofort in die militärische Zuständigkeit der NATO-Kommandostruktur zu integrieren, sondern dies erfolgte absprachegemäß erst sukzessive nach Abzug der Roten Armee. Gleichzeitig sagte der Westen zu, auf dem Gebiet der DDR dauerhaft keine Atomwaffen zu stationieren. Dies gilt bis heute und ist natürlich auch nicht geschehen. Weitere Absprachen über die militärische Bündniszukunft der mittel- und osteuropäischen Länder waren kein Gegenstand bei diesen Verhandlungen. Dies hatte einen ganz einfachen Grund. Diese Länder waren damals noch Mitglieder des Warschauer Paktes (Polen, Tschechoslowakei etc.) bzw. Bestandteil der Sowjetunion (Baltikum, Ukraine). Der Warschauer Pakt und die Sowjetunion lösten sich erst 1991 auf. In seinen Memoiren schrieb der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse, dass die Vorstellung der Warschauer Pakt würde sich kaum ein Jahr später auflösen als „außerhalb unserer Vorstellungswelt liegend“ betrachtet wurde.
2. Hat die NATO Russland bei der späteren NATO-Osterweiterung übergangen?
Auch dies ist falsch. Der Warschauer Pakt sollte reformiert werden in die Richtung eines demokratischen Zusammenschlusses souveräner Staaten. Dies fand schon im Juni 1990 bei einem Treffen in Moskau statt. Damals ging aber noch niemand von einer Auflösung des Bündnisses aus. Allerdings verzichtete die Sowjetunion auf die zukünftige Vormachtstellung über die Länder des Ost-Blocks, was letztlich stark zur Erosion des Zusammenhanges beitrug. Im November 1990 kam es – im Rahmen des KSZE-Prozesses – zur Verabschiedung der „Charta von Paris“. In der Charta von Paris ist den Unterzeichnerstaaten volle Souveränität und freie Bündniswahl zugesichert. Die heute in der NATO befindlichen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, sind ebenso Unterzeichner dieser Charta, wie die Sowjetunion. Damalige Sowjetrepubliken – wie die heutigen baltischen Länder – konnten naturgemäß damals diese Charta noch nicht unterzeichnen, allerdings scheint der Geist durchaus übertragbar.
Als erste Länder bekundeten Polen, Ungarn und die Tschechische Republik – nach Auflösung des Warschauer Paktes im Sommer 1991 – den Wunsch der NATO beizutreten und teilten dies den Russen mit. Zum damaligen Zeitpunkt hatte sich die NATO noch auf gar keine Erweiterungsstrategie verständigt und es kann als gesichert davon ausgegangen werden, dass die Länder des ehemaligen Warschauer-Paktes ihre Mitgliedschaft aus gänzlich eigenen Motiven und zur Absicherung ihrer neugewonnenen Souveränität anstrebten. Die westeuropäischen Staaten – vor allem Deutschland – waren damals mit ganz anderen Problemen der Auswirkungen der aktueller Veränderungen beschäftigt, als dass sie vordringlich an der Schädigung russischer bzw. sowjetischer Einflusssphären gearbeitet hätten. Trotz sicherlich auch vorhandener Einflüsse von US-Amerikanern und Briten ist der Warschauer Pakt – wie auch die Sowjetunion – vordringlich an eigenen Widersprüchen implodiert.
Gleichwohl wurde über den möglichen NATO-Beitritt ehemaliger Ostblockstaaten mit den Russen lang und zäh verhandelt. Erstes Ergebnis dieser Verhandlungen war die Zustimmung Boris Jelzins 1993 in Warschau bezüglich des NATO-Beitrits Polens.
1994 trat dann die russische Föderation dem NATO-Programm „Partnerschaft für den Frieden“ bei. Es gab damals sogar Ideen, dass Russland ebenfalls NATO-Mitglied werden könnte. Auch wenn gerade osteuropäische Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes von dieser Vorstellung nicht eben gerade begeistert waren, hatte der Plan auch Anhänger, besonders in Deutschland. Fakt ist aber definitiv, dass Russland weder jemals diese Mitgliedschaft beantragte, noch ihm diese von irgendjemand verwehrt wurde. Es war für eine solche Lösung dann irgendwann im Laufe der späten 90er Jahre das Momentum nicht mehr vorhanden.
1997 wurde die NATO-Russland-Grundakte verabschiedet. In ihr wurden – in der Form einer völkerrechtlichen Absichtserklärung im Gegensatz zu einem völkerrechtlich bindenden Vertrag – der Verzicht auf Gewaltanwendung, Gewaltandrohung, die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zugesichert. Darüber hinaus sicherte die NATO zu, keine substanziellen Truppen in den neuen Mitgliedsländern zu stationieren und Russland sicherte „Zurückhaltung bei der Dislozierung konventioneller Streitkräfte“ zu. Die Verabschiedung der Grundakte bildete die Basis für die daraufhin erfolgte NATO-Erweiterung in mehreren Schritten.
1999 traten dann Polen (sechs Jahre (!) nach dem Jelzin-Besuch in Warschau), Tschechien und Ungarn der NATO bei.
2002 wurde der in der NATO-Russland-Grundakte eingerichtete Ständige Gemeinsame Rat zum NATO-Russland-Rat aufgewertet. Die NATO-Staatschefs und Vladimir Putin (!) unterzeichneten aus diesem Anlass auch die Erklärung von Rom in der der Aspekt der Sicherheitspartnerschaft betont und fortgeschrieben und für die anstehende Stufe der NATO-Erweiterung festgelegt wurde, dass z.B. keine NATO-Tuppen in den Ländern der zweiten Stufe dauerhaft stationiert werden dürfen (noch heute rotieren die wenigen NATO-Truppenteile noch alle 6 Monate). Die Erklärung war vordringlich im Hinblick auf die Wahrung russischer Sicherheitsinteressen formuliert.
2004 fand dann die zweite Stufe der NATO-Osterweiterung statt. Es traten die Länder Bulgarien Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien der NATO bei.
3. Wird Russland durch die NATO-Erweiterung bedroht und eingekreist ?
Mal abgesehen davon, dass es recht anspruchsvoll erscheint, das mit Abstand flächenmäßig größte Land der Erde einzukreisen, ist das Gezeter absolut gegenstandslos. Die gemeinsamen Grenzen von NATO und Russland schnurren bei genauer Betrachtung auf ein bisschen Polargegend am Nordkap (Norwegen) und ein paar Hundert Kilometer Grenze zum Baltikum zusammen. Dabei dann über Einkreisung zu fabulieren, scheint schon ein wenig pathologisch. Auch die etwas entfernten Grenzen (wenn wir mal Belarus und die Ukraine nach putinscher Lesart als Hinterhof oder genauer Vorzimmer definieren) ist weit von Einkreisung entfernt. Irgendwann kommen einen immer mal andere Staaten auf der Landkarte entgegen. Im seltensten Fall handelt es sich dabei aber – im Falle Russlands – um Staaten der NATO. Einen Rechtsanspruch darauf oder irgendeine moralische Legitimität zwischen sich und NATO-Staaten einen Ring von Vasallen zu stationieren, existiert selbstredend nicht. Der Versuch führt nach Georgien und Krimkrise zum aktuellen Überfall auf die Ukraine.
Zur vermeintlichen militärischen Bedrohung Russland durch die NATO, braucht man sich nur die Truppenstärken jeweilig vor Augen zu führen. Den 19 NATO-Batallionen im Baltikum stehen 40 russische in unmittelbarer Grenznähe gegenüber. In Weißrussland stehen direkt hinter der belarussisch-polnischen Grenze 3 russische Divisionen (2 sind gerade in die Ukraine eingefallen und sind sind gerade durch belarussische Einheiten ersetzt worden) 2 Divisionen der polnischen Armee gegenüber. Es ist also völlig absurd, dass sich Russland durch seine Nato-Nachbarn „bedroht“ fühlt. Umgekehrt wird ein Schuh draus, ist doch Russland den konventionellen NATO-Truppen in den Grenzbereichen bei weitem überlegen. Ein Angriff – selbst bei unterstellt übelsten Motiven der NATO – ist schlicht nicht möglich, mangels vorhandener militärischer Masse.
Dieses weiß natürlich auch Putin. Ihm erscheint aber der Moment günstig. Die Amerikaner mitten in der Umorientierung auf den pazifischen Raum und eine bis vor Kurzem stark zerstrittene EU ohne Drive, stellt für seine Großmachtbestrebungen ein dankbares Umfeld dar. Darüber hinaus steht eine starke Gefährdung seines wirtschaftlichen Geschäftsmodells ins Haus. Die angestrebte Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in den westlichen Ländern, führt zu geringerer zahlungsfähiger Nachfrage nach Russlands einzigen Exportschlagern den fossilen Brennstoffen. Damit entfällt die ökonomische Voraussetzung für extreme Aufrüstung, Kleptokratenversorgung und Bestechung der Mittelschicht. Zumindest alles gleichzeitig wird absehbar nicht mehr möglich sein. Putin und dies ist vielleicht das einerseits Beängstigende, als auch andererseits das letzte Rationale seiner ansonsten paranoiden Verhaltensweisen: Er will das Eisen schmieden, solange es noch heiß ist.
Ich habe auch immer behauptet, dass die russischen Erzählungen dazu ein Mythos sind. Jetzt weiß ich es. danke!
Eine rationale Politik liegt in der Spieltheorie dann vor, wenn es eine Kosten-Nutzen-Abwägung gibt. Im Fall des russischen Überfalls auf die Ukraine stellt sich also die Frage, was kann Russland gewinnen, was verlieren? Für die NATO/EU gilt dann ebenfalls die Frage, was kostet Nichtstun ( wie bisher), was ein Zurückschlagen?
Beide Lager werden offensichtlich ökonomisch verlieren, politisch könnte der Gewinn der Ukraine für Russland dann Sinn machen, wenn die NATO/EU- Staaten um des lieben Profits willen nach zwei Jahren die neuen Realitäten anerkennen würden. Aktuell erscheint diese Perspektive eine Fehlkalkulation zu sein, denn die Ukraine lässt sich nicht wie von Putin erwartet, leicht ins russische Imperium wieder eingliedern. Und solange es eine Stimme der Freiheit in der Ukraine gibt, wird es keine Aufgabe der Sanktionen geben. Im Gegenteil wird die EU sich im Rahmen der Dekarbonisierung, wie du richtig beschreibst, von dem fossilen Rohstoffhändler mit Blut an den Händen befreien.
Ein Argument wiill ich noch erwähnen, obwohl ich es nicht teile: Die Russen handeln rational als Vorhut eines chinesischen Angriffs auf Taiwan und haben weitgehende chinesische Garantien.