Boomer-Antifa

Boomer-Antifa

10. März 2024 0 Von Uli Gierse

Bernd Ulrich verkündet in der DER ZEIT vom 7.3.24 zwei Selbstverständlichkeiten: „Zwei soziologische Muster prägen diesen Kanzler: Er ist Sozialdemokrat – und er ist Boomer.“

Doch was ist ein Sozialdemokrat und was macht einen Boomer aus?

Ulrich: „Die SPD hat in ihrer Geschichte eine zentrale Erfahrung gemacht: Der Abschied von der Revolution und überhaupt von allem Radikalen hat die Partei gestärkt und die Welt besser gemacht. Diese historische Lehre wird in einem biografisch-liturgischen Verfahren immer wieder bekräftigt: Wer als Juso radikal beginnt und womöglich mal vom Sozialismus redet, der wird ein paar Jahre und ein paar Aufstiege später besonnen und gemäßigt.“

Sein Beispiel ist Kevin Kühnert, aber man könnte auch Ricarda Lang nennen. In der Union ist es, scheint mir,  umgekehrt, da beginnt man radikal kleinbürgerlich, spießig, teilweise reaktionär und endet, wenn es gut geht in der Mitte. Aktuelles Beispiel Hendrik Wüst. Voraussetzung für diese Metamorphose ist allerdings in beiden Fällen ein erfolgreicher Aufstieg. Merz und Spahn, Bär und Klöckner sind  Gegenmodelle, die zeigen, wenn es nicht so läuft, ist Anpassung an die Realität Schnee von gestern.

Doch zurück zur SPD. Wenn man diesen Prozess vom Verbalradikalismus zum Verwalten des Stillstands, inklusive der Sicherung der Posten in der öffentlichen Verwaltung,  erfolgreich durchlaufen hat, dann ist man unfähig, radikale Schritte zu machen, auch wenn sie in der Wirklichkeit die einzige Lösung darstellen. Stimmt offensichtlich.

Bleibt Argument zwei: Scholz, der Boomer.

„Was ist ein Boomer? Das ist die Generation der Zuvielen, die daher besonders geschult ist in Machtkämpfen.“ (Ulrich)

(…) „Was die Boomer aber weit mehr prägt: Sie sind quasi noch in Hörweite des Holocausts geboren, ohne selbst schuldig zu sein. Daraus speist sich eine in den Eliten der Republik ohnehin ausgeprägte Skepsis gegenüber den – anderen – Deutschen. Üblicherweise glauben Boomer, dass man den Deutschen nichts zumuten darf, weil sie sonst ihre demokratische Contenance verlieren und sogleich wieder zur Zumutung werden. Abverlangen kann man den Deutschen ab und an etwas, wenn es um die Wirtschaft geht, aber für nichts anderes. Und nie für länger.“

Boomer, das sind die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1965, auch Baby-Boomer genannt. Wenn man annimmt, dass deren Eltern so zwischen 20 und 40 Jahren alt waren, dann sind diese zwischen 1915 und 1945 geboren. Volljährig wurde man mit 21, also kann man von Nazi-Eltern bis zum Jahrgang 1924 sprechen, die Später-Geborenen hatten  Nazi-Großeltern.

Gibt es aber eine Generationsweltsicht? Allgemein sicher nicht, aber je älter man wird, um so überraschter ist man, dass es langanhaltende Kontinuitäten in der geistigen Verarbeitung der Wirklichkeit gibt. Und diese sind wahrscheinlich davon abhängig, welche Weltsicht man in den ersten Jahren nach der Schulzeit angenommen hat.

Beispiel 68er-Generation: Deren Mantra „I can’t get no satisfaction“ übertrug sich im Alltag zu einer Haltung des Ohne mich. Und tauchte plötzlich in der Corona-Pandemie als Querdenkertum wieder auf. Antistaatlichkeit spielte dabei sicher auch eine Rolle. Ein kleiner Teil der 68er radikalisierte die eher “Sex and Drugs and Rock and Roll”- Revolution durch einen vulgären Marxismus-Leninismus, der zwar Kurzhaarfrisuren zuließ, aber den Hauptfeind im US-Imperialismus fand.

Der Kampf gegen die US-Raketen Pershing II wurde so ein Bindeglied zwischen Maoisten, Stalinisten und Hippies. Heute ist davon ein unpolitischer Pazifismus geworden, der aber von den so unterschiedlichen Kräften wie der AfD, Wagenknecht oder den Linken in der SPD instrumentalisiert wird.   

Und die Boomer-Haltung?

Die Nachkriegsgenerationen waren gegenüber ihren Eltern und Großeltern skeptisch („skeptische Generation“), besser gesagt misstrauisch. Man vermutete einen deutschen Nationalcharakter, der, so der Verdacht, eine der wesentlichen Ursachen für den Wahnsinn war.

Das war auch mit der linken Begründung, dass der Faschismus eine Form bürgerlicher Herrschaft ist, vereinbar. Denn die Erklärung, dass der Faschismus dem Kapitalismus immanent gewesen ist, hatte zumindest das Problem, dass er sich nicht überall durchsetzte, aber in Deutschland.

Da kam der Verdacht, dass die besondere Monstrosität eine Folge des „Furor teutonicus“ gewesen wäre, gerade recht. Die linke Verschwörungstheorie war nur etwas umwegiger als die rein psychologisierende. Das linke Narrativ ging so: die Bourgeoisie war des Parlamentarismus überdrüssig und spielte die Nazikarte, die Nazis in Deutschland machen diesen angeblich besonderen Nationalcharakter zu einer Ideologie der Überlegenheit. Der deutsche Arier wurde zur besondere Rasse umgedeutet, die allen anderen Rassen überlegen sei, weil der DEUTSCHE dieses besondere Unterwürfigkeitsbedürfnis gekoppelt mit einer herausragenden Kampfmoral hätte.

Man sah sich deshalb von links durch eine Wiederholung des Faschismus (Faschisierung-These) bedroht und ging in den bewaffneten Kampf (RAF) oder kultivierte sein Anti-Deutschtum. Mag sein, dass Bernd Ulrich recht hat, wenn er die Zögerlichkeit von Scholz mit der Angst vor diesem Nationalcharakter begründet.

Diese Angst ist allerdings nicht links, sondern die Vorstellung eines Nationalcharakters ist nur die Reproduktion der nationalsozialistischen Ideologie unter umgekehrten Vorzeichen. Die einen finden es gut, die anderen schlecht.

Eins aber stimmt, wenn man „dem“ Volk Angst macht, dann muss man sich nicht wundern, dass  eine Politik der Veränderung und/oder der Verteidigung gegen faschistische Regime wie Russland dann scheitert und die Parteigänger Putins triumphieren.

Und die Lehre aus der Geschicht‘: Man sollte man sich immer fragen, sind meine Vorstellungen auf meinem Mist gewachsen oder unterschwellige Botschaften aus der Studentenzeit. Boomer-Antifa ist offensichtlich Teil einer Bewältigungsstrategie, welche den Sündenbock in den anderen, den blöden Idioten, dem Volk, sieht. Das Volk ist aber keine Porzellankiste und hat keine Mutter.