Ein Replik auf den “Politischen Pazifismus”

Ein Replik auf den “Politischen Pazifismus”

5. Januar 2023 3 Von Thomas Ertl

Eine Replik auf den „Politischen Pazifismus“

Hamburger Abendblatt-Kolumne „Ein Nachtmahr zum neuen Jahr, …“ vom 05.01.2023

Hier der Text aus dem HA; Kolumne stammt von Arno Luik; war Autor beim „Stern“ und Chefredakteur der „taz“

“Ein Nachtmahr zum neuen Jahr, von dem ich so sehr hoffe, dass er nur ein vorübergehender Albtraum war.

Hamburg. Plötzlich bin ich aufgewacht, nein, ich bin nicht so richtig aufgewacht, ich bin eher geschüttelt und gerüttelt worden von einem Nachtmahr, was für ein altes Wort, aber mit was er mich quälte: so modern, so aktuell. Im Kopf ging es holterdipolter zu, drunter und drüber, aber die Gedanken waren sehr klar, es ging um diesen Krieg in der Ukraine, auch um Annalena Baerbock, die Außenministerin und ihre Worte: „Russland ruinieren“, also langer Krieg, Eskalation, Unheilvolles.

Kann aus solchen Sätzen Gutes folgen? Im Ohr auf einmal auch eine Rede der Verteidigungsministerin, ich höre und ich sehe sie vor mir: freundlich, alltäglich, lächelnd, allerdings harter Mund, nur ein Strich, und da kommen Worte: die klingen wie von Kaiser Wilhelm II., wir beten für die Macht der Geschütze.

Da ist so viel verrutscht in Deutschland und der Welt

Du spinnst, denke ich noch, aber der Nachtmahr geht weiter: Da ist so viel verrutscht in Deutschland und der Welt, das übersehene Morden im Jemen, das stille Sterben in Syrien, der laute Krieg nun am Rande Europas, an den einen denkt man viel, an die anderen nicht.

Wird in ein paar Jahren ein neuer George Grosz den Horror wieder einfangen, ein Böll, ein Borchert verzweifeltverzweifelnd das unsägliche Leiden aufschreiben, wieder einmal? Wenn es zu spät ist, wieder einmal?

Beide Seiten kämpfen mit Gott auf ihrer Seite

Schon irre, quält mich dieser Nachtmahr, wegen Grenzen, die künstlich gezogen worden sind, gehen nun Hunderttausende von Menschen drauf; Grenzen, die in ihrer Geschichte alle paar Jahrzehnte verschoben worden sind; nun, wie 1914/17, auch wieder so ein Gemetzel, liegen wieder Menschen im Schlamm und Dreck und Matsch und Eis, Gewehr im Anschlag, Kanonen hochgerichtet, wie 1942/43 – und schießen, morden, verstümmeln Menschen, und die russische Kirche segnet die Bomben, und die ukrainische Kirche segnet die Granaten, beide Seiten kämpfen mit Gott auf ihrer Seite, und „stell dir vor, es gäbe keine Länder/es ist nicht schwer, das zu tun./Nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben/und auch keine Religion./Stell dir vor, alle Menschen/leben ihr Leben in Frieden.

Aber manche füllen sich die Taschen mit Euros & Dollars – gewissenlos, wie immer: Deutschland hat trotz Krimbesetzung und Waffenembargo nach 2014 Rüstungsgüter im Wert von 121,8 Millionen Euro nach Russland geliefert – 35 Prozent aller EU-Waffenexporte.

Irgendwann rufen die Menschen nach Frieden

Wer, so martert mich mein Nachtmahr: Wer hat daran verdient? Die Herren des Kriegs? Kleinaktionäre, die treuherzig ihr Geld in irgendwelchen Fonds angelegt haben? Irgendwann, man weiß das aus allen Kriegen, wenn zu viele verreckt sind, wenn man weiß, was das Wort „kriegsmüde“ tatsächlich bedeutet, muss verhandelt werden, egal, wie viele Waffen noch schussfähig sind, irgendwann rufen die Menschen nach Frieden.

Ein schönes Lied, 1971 von John Lennon gegen den Vietnamkrieg geschrieben, aber gut 50 Jahre später ist die Ultima Ratio wieder: Aufrüstung muss sein, mehr Waffen müssen in die Ukraine; Zeitenwende, Epochenbruch.

Krieg gegen die Ukraine: Diese neue Humanität ist die uralte Brutalität

Der Nachtmahr bringt mich ins Schwitzen, ich weiß, gegen die Ultima Ratio der vorherrschenden Gedanken kommt man nicht an – wenn man nicht einsehen will, dass diese „neue Welt, in der wir aufgewacht sind“, angeblich eine neue Vernunft verlangt. „Humanitär“ in den Worten eines grünen Spitzenpolitikers sind nun: Waffen. Waffeneinsatz. Kriegsfähigkeit.

Für mich, alter Träumer, vom Nachtmahr geplagt, ist diese neue Humanität die uralte Brutalität. Die unmenschlich bleibt, wenn auch viele Menschen, die gestern noch Friedensfahnen durch die Gegend trugen, mit der gleichen moralischen Inbrunst jetzt auf Panzer und Granaten setzen.

Mal sehen, wo das alles endet.

Imagine there’s no countries/It isn’t hard to do/Nothing to kill or die for/And no religion, too/Imagine all the people/Livin’ life in peace.

Aber nicht der einzige. Hoffentlich nicht.

Die Replik

Wieder setzt sich ein ehemaliger Journalist (Stern und TAZ), Arno Luik, auf die Metaebene und kommentiert das Weltgeschehen, konkret den Ukraine-Krieg, aus der Sicht eines „Pazifisten“ und weiß mit Literaten wie Böll und Borchert oder auch Lohn Lennons „Imagine“ umzugehen. Im vorletzten Absatz kommt es dann zum Showdown, denn nun benennt er die Kriegsbefürworter: Die Grünen, die „Humanität“ mit „Waffen, Waffeneinsatz und Kriegsfähigkeit“ gleichsetzen. Für ihn ist diese „neue Humanität“ „alte Brutalität“.

Mit dieser „alten Brutalität“ wurde der Hitler-Faschismus in der 1940er Jahren besiegt und die „Befreier“ haben ihr Leben eingesetzt, um die Welt von diesem „Nachtmahr“ zu befreien. Die Appeasement-Versuche, in dem sogar Polen auf Deutschland und Sowjetunion aufgeteilt wurde, oder das Einverleiben Österreichs mit einem Achselzucken hingenommen wurde, halfen nichts. Hitler überfiel die Nachbarstaaten und später auch die Sowjetunion und die Alliierten wurden aus dem „Nachtmahr“ geweckt: Ran an die Waffen, um diesen Terror zu beseitigen. Was wäre ohne den D-Day in der Normandie geschehen?

Putin hat die Ukraine bereits zum zweiten Mal überfallen. Punkt. Warum? Weil er es eigentlich für Russland hält und das trifft auch auf die anderen ehemaligen Republiken der UdSSR zu. Es ist kein irgendwie gearteter Grenzkonflikt, sondern eine ideologisch präparierte Annexion. Der politische Pazifismus, ganz nach unserem Ex-Präsidenten Gauck, verwechselt den Wunsch nach Frieden mit dem Kampf um Frieden, wenn der Feind kein Interesse am Frieden hat. Gauck: „Politischer Pazifismus ist ethisch nicht nachvollziehbar“. Es wird niemanden geben, der die Kriegsopfer gutheißt. Aber was ist die Alternative? Unterwerfung, um ein Leben in Unfreiheit oder Flucht zu leben. Der Blick nach Syrien könnte helfen, wie so etwas ausschaut. Und das war/ist Putins Artillerie-Sperrfeuer von Land und Wasser, gestützt von einer Marionetten-Regierung, die er so auch gern in Kiew sehen würde. Und nicht nur dort. Leider hat der Kolumnist nur Prosa für die Doppelmoral des Westens (Waffenlieferung) und die Opfer der Kriege genutzt, für den Widerstand fiel ihm nichts ein. Er träumt weiter und vergisst, dass die Friedensfahnen geschwenkt wurden, um Kriege zu verhindern. Hilft das, wenn er schon begonnen hat?