Eine Zäsur: Wir glaubten nicht mehr an Krieg. Jetzt sind wir im Krieg.

14. August 2022 1 Von Uli Gierse

Der 24.2.2022 sei eine “Zeitenwende”, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am 27.02.2022 im Deutschen Bundestag.

Wikipedia bietet für Zeitenwende sechs mögliche Bedeutungen:

Zeitenwende steht für:

Beginnt jetzt ein neues Zeitalter?

Nein, es ist eher umgekehrt, das, was die meisten Deutschen, inklusive ihrer Regierungen, als die neue Normalität angesehen haben, dass die Grenzen in Europa von allen akzeptiert werden und niemand auf die Idee käme eine Revision dieses Zustandes anzustreben, erweist sich nun als reines Wunschdenken. Die Russische Föderation hat mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine alle friedenssichernden Verträge (UN-Charta, OSZE-Vertrag, Budapester Memorandum u.a.)  ) gebrochen. Und zwar nicht erst 2022, sondern schon 2014.

Die euroatlantische Sicherheitsarchitektur ist komplett ruiniert. Die westlichen Staaten und vor allem die Ukraine können Russland nicht mehr trauen – nach all den Lügen und Manipulationen, die zum Krieg in der Ukraine geführt haben, ist das Vertrauen gänzlich weg. Nach den Gemetzeln von Butscha und anderswo geht es für die Ukraine ums nackte Überleben, das weiß auch jede Ukrainerin. Wie die neue Sicherheitsordnung nach diesem Krieg aussehen wird, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch kaum erahnen.

Für Bundeskanzler Scholz heißt das nicht, sich aktiv an die Spitze zur Unterstützung der Ukraine zu setzen sondern er schaltet in den Modus Vorsicht. Nur deshalb bringt man auch vorsichtshalber die Bundeswehr auf einen einsatzfähigen Zustand (100 Milliarden-Programm). Eine neue Außen- und Sicherheitspolitik würde erfordern über die Fehleinschätzungen in den letzten 16 Jahren der GroKo zu reden, um dann eine realitätstaugliche Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik zu beschließen. Davon ist jedoch nicht die Rede, Lars Klingbeil deutet vorsichtig an, dass als Folge der „Zeitenwende“ eventuell Deutschland mehr Führung auch in sicherheitspolitischen Fragen in Europa übernehmen müsste. Alles im Konjunktiv. Zuerst müsste man feststellen, dass die deutsche Außenpolitik komplett gescheitert ist.

Die Union und vor allem die SPD hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Zerfall des Warschauer Pakts und dem Desaster der jugoslawischen Bürgerkriege in den 90-er die außenpolitische Strategie entwickelt, Frieden über wirtschaftliche Abhängigkeiten (Frieden und Wohlstand) in Europa zu generieren. Das war auch nur zum Teil ein Fehlschluss. In Bezug auf die Osterweiterung der EU war es ein Erfolg, in Bezug auf Russland hat sich die Strategie als Flop erwiesen.

Es ist nicht gelungen, Russland durch Integration in europäischen Wirtschaftsraum zu einer nachhaltigen Aufgabe des alten Strebens nach imperialer Größe zu bewegen. Insbesondere die Übernahme der Präsidentschaft Jelzins durch Putin war eine Stärkung der Kräfte, die auf Revision des Verlustes der Supermachtposition in der Welt drängten. Militär und Geheimdienst in engem Schulterschluss mit der russisch-orthodoxen Kirche haben kontinuierlich auf eine Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes finanziert durch die Rohstoffexporte. Eine Integration in den EU-Wirtschaftsraum hätte dagegen die Forcierung der russischen zivilen Industrie erfordert, doch das war den Kreml-Chefs offensichtlich nicht wichtig. Im Gegenteil wichtige Industrien wurden an korrupten Günstlingen (Oligarchen) ohne betriebswirtschaftliche Kenntnisse verschachert.

Das hätte man im Westen sehen können. Erst recht nach den kriegerischen Interventionen Russland in Tschetschenien, Georgien, Syrien und 2014 der Annektierung der Krim und der Besatzung von Teilen der Ostukraine.

2016 skizziert Karl-Heinz Kamp, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, also ein Teil des Behördenapparats, Moskaus neuen Kurs so: Das russische Staatsmodell positioniere sich als Gegenentwurf zur westlichen Vorstellung von liberaler Demokratie und sei in das alte Denkmuster von Einflusssphären zurückgefallen und habe das Völkerrecht verletzt. Eine Aussöhnung zwischen Osten und Westen erschiene momentan als aussichtslos. In erster Linie sei es wichtig, Abschreckung und Verteidigung auf Seiten der NATO und der EU wiederherzustellen, so Kamp. 

Doch dieser Rat stieß offensichtlich auf taube Ohren. Ein Jahr nach der Annektion der Krim wurde Nord-Stream II, trotz erheblichen Widerstands in den östlichen EU-Ländern von der Merkel-Steinmeiner-Regierung in Gang gesetzt. Für dieses Projekt sprachen keinerlei ökonomische Gründe, denn eine Landpipeline wäre wesentlich billiger gewesen, sondern rein geostrategische Gründe. Man wollte die gegenseitige Abhängigkeit von russischem Gas erhöhen in der vagen Hoffnung, dass das Russland von weiteren kriegerischen Aktivitäten gegen die Ukraine anhalten würde. Das war schon 2014 Quatsch und reines Wunschdenken, 2015 aber ein Desaster. Die von den Schröder- und Merkel-Regierungen forcierte Energieabhängigkeit von Russland erweist sich jetzt als einer der größten strategischen Fehler der westlichen Politik, er rangiert in der Fehler-Hitparade kurz nach dem völkerrechtswidrigen Krieg der Bush-Administration.

Deutschland hat sich energiemäßig von Russland so abhängig gemacht, dass eine klare Sanktionspolitik 2022 extrem schwierig wurde. Aber noch schlimmer ist das notwendige Eingeständnis, dass Deutschland wesentlich die militärische Aufrüstung Russlands bezahlt hat und auch während des Krieges noch bezahlt.

Nun hätte man von Zeitenwende-Scholz erwarten können, dass nach dem 22.2.2022 wenigstens die militärische Unterstützung der Ukraine oberste Priorität gehabt hätte. Man hatte schließlich erhebliche Mitverantwortung für den Krieg.

Aber Scholz und Co. trauen der Ukraine offensichtlich nicht zu, Russland militärisch zu besiegen. Das Kriegsziel aus sozialdemokratischer Sicht ist daher, Russland darf den Krieg nicht gewinnen, übersetzt, darf nicht alle seine Ziele erreichen. Eine Kapitulation der Ukraine, die einen Diktatfrieden zur Folge hätte, ist nicht Ziel der deutschen Politik. Deshalb liefert man „vorsichtig“ schwere Waffen, die zur Verteidigung super geeignet sind, zu einer Wende im Kriegsverlauf jedoch nicht, da sie in der Regel Abwehrsysteme sind. Panzer, die reichlich noch aus dem Bestand vor der Wende 1989 vorhanden wären, werden nicht geliefert, denn damit könnte man ja in die Offensive gehen.

Scholz und Co. bleiben in der deutschen Binnensicht gefangen. Dabei ist dieser Krieg, jedenfalls für Europa eine Zurückbombung in die Zeiten von Imperialismus und Faschismus. Die Friedensordnung nach 1990 ist krachend zerstört worden. Völkerrecht und die Verbindlichkeit von Verträgen sind auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Russland ist als Vertragspartner ohne jede Vertrauenswürdigkeit. Wenn das Modell Schule machen würde, dann bedeutet es das Ende jeglicher globalisierten Politik und Ökonomie.

In Deutschland hat es die Ampel-Regierung bisher geschafft, ihre inneren Widersprüche z.B. bei Waffenlieferungen nicht öffentlich werden zu lassen. Olaf Scholz verhält sich im Gegensatz zum ersten Eindruck seiner Zeitenwende-Rede am 27.2. weiter scholzig, sprich passiv. Es wird das Merkel‘sche Mikado aufgeführt, wer sich zuerst bewegt, hat verloren.

Das ist aber faktisch eine Unterstützung der russischen Kriegspolitik, denn sie tut nicht alles, um die Ukraine zu unterstützen, obwohl das immer wieder gesagt wird. Man macht sich damit weiter zum Spielball der Putinschen Strategie, vor allem die deutsche Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen.

Real ist der Vormarsch der russischen Armee zum Stillstand gekommen und die Ukrainer erreichen mit westlichen Raketenwerfern große Effekte im Rücken der russischen Armee. „Der russisch-ukrainische Krieg läuft auf einen Wettlauf zwischen dem schwächelnden politischen Willen westlicher Demokratien und den sich verschlechternden militärischen Mitteln der Diktatur Wladimir Putins hinaus.“[1]

Selenskyj und der ukrainischen Generalität ist jedoch klar, dass Russland jetzt auf seine alten Verbündete setzt. Putin setzt auf zwei Faktoren, die Russland immer wieder in kriegerischen Auseinandersetzungen beistanden: Feldmarschall Zeit und General Winter (Väterchen Frost). Die Zeit spielt eigentlich aktuell gegen Putin, denn seiner Armee gehen die High-Tech-Waffen langsam aus und Nachschub ist nicht in Sicht, wenn die Chinesen weiter zurückhaltend bleiben. Russland wird daher versuchen sich (wie immer) in den Winter zu retten.

Und bis dann könnte sich die hybride Kriegsführung Russlands (Energie als Waffe und russische Propaganda) zersetzend auf die Demokratien des Westens auswirken und ein Zwischen-Waffenstillstand wäre für Russland erreichbar. Diese gewonnene Zeit könnte in eine Wiederaufrüstung zum nächsten Feldzug investiert werden.

Die demokratischen Regierungen des Westens müssten also erstmal klar kommunizieren, dass Energieverteuerung und Probleme das russische Gas vor allem in Deutschland durch andere Gaslieferungen zu kompensieren nicht Schicksalsschläge sind, sondern Teil der globalisierten hybriden Kriegsführung Russlands. Die Provozierung von Hungersnöten und damit verbundenen Flüchtlingsströmen gehört auch dazu.  Russland führt gegen uns Krieg! Nicht mit Raketen, sondern mit Gas, Getreide und Propaganda durch rechtsradikale wie linkssektiererische Bündnispartner Putins im Westen.

Demokratische Führer des Westens müssten ihre Bürger also auf einen langen Kampf um die Ukraine vorbereiten – und auf einen harten Winter. Das passiert aber nirgendwo. Demokratien sind für eine Marathonauseinandersetzung nicht vorbereitet. Es erfordert die Anerkennung, dass sich unsere eigenen Länder in gewisser Weise auch im Krieg befinden – und eine entsprechende Politik der Langstrecke.

Und ist das ein Thema in den aktuellen Wahlkämpfen in Italien, den USA oder im Wettstreit um den Vorsitz der Tories? Nein. Olaf Scholz beharrt darauf, dass das Putins Krieg sei und man die russische Bevölkerung weiter mit Touristenvisa belohnen sollte.

Entscheidend werden die Zwischenwahlen in den USA am 8.November sein. Gewinnen die Republikaner, und Trump erneuert seine Kandidatur, dann wird die massive Unterstützung der Ukraine vorbei sein.

Deshalb gilt es jetzt, vor dem 8. November alles was an Waffensystemen mobilisierbar ist, den Ukrainern zur Verfügung zu stellen. Auch Marder und Leopard 2 – Panzer.

Andernfalls werden durch die künstlich erzeugte Energiekriese, den steigenden Kosten, der Inflation die Stimmen der Unterwerfungspazifisten lauter werden. Das wird die EU spalten. 


[1] Timothy Garton Ash im The Guardian vom 5.August 2022