Goretex- Republik sucht Orientierung

11. Mai 2022 0 Von Uli Gierse

Nils Minkmar skizziert in der SZ von heute drei Phasen in der deutschen Nachkriegsgeschichte, zwei sind vergangen und die „Zeitenwende“ nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine erfordere nun, sich neu zu orientieren. Es sei an der Zeit, ein Gründungsmanifest für die Dritte Republik zu entwerfen. Ich finde das einen inspirierenden Gedanken, den ich aus meiner Perspektive interpretieren und erweitern will.

Das Schöne an Geschichte ist ja, man sieht klarer, wenn die zu beschreibende Zeit durch eine „Zeitenwende“ abgrenzbar wird.

Minkmar beschreibt die Erste Republik der westdeutschen BRD als „ein vom Kalten Krieg geprägtes Gebilde mit großer Armee, einer Bundeshauptstadt voller Spione und sonst im Wesentlichen ein Flugzeugträger der U.S. Air Force“[1]. Aus meiner Sicht ein langweiliges, spießiges Etwas mit Nazivergangenheit, das sich auf’s Geschäftemachen und Fußball-Gucken konzentrierte. Dieses Gebilde ging 1989 unter. Aber da war, aus heutiger Sicht betrachtet, noch mehr, was nicht unterging, sondern Phase Zwei unterschwellig prägte:

Zum einen eine partielle Loslösung von der US-Politik durch eine eigenständige Politik mit der Sowjetunion durch die sozialdemokratischen Kanzler Brandt und Schmidt. Die BRD intensivierte die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zum Ostblock[2], anerkannte die Jalta-Aufteilung Europas in zwei Blöcke und erreichte billige Gasimporte und Reiseerleichterungen für DDR-Rentnerinnen. Innenpolitisch war der Bonner Kapitalismus davon geprägt, dass Kapital und Arbeit kooperativ zusammenarbeiteten. Die Absicherung des neuen Wohlstands auch der Arbeiterklasse war ein wichtiges Stabilisierungselement auch in der Systemkonkurrenz zum Alter-Ego DDR. Und wie immer entwickelte sich gegen den Mainstream eine Opposition, die  damals popkulturell, friedenspolitisch und gegen den Ausbau der Atomkraftwerke war. Waren „Sex and Drugs and Rock’n’roll“, „Frieden schaffen ohne Waffen und „Atomkraft – nein danke!“ noch vom Mainstream der Achtziger abgelehnte Forderungen, wurden sie dann zum Fundament der Zweiten Republik nach 1989.

Nach 1989 wurde Deutschland „europäischer, wandte sich vom Militär ab und prosperierte“[3]. Diese Phase der „Goretex-Republik[4] endete am 24.Februar 2022. Wie in der Werbung für Outdoor-Funktionskleidung sollte es drinnen warm und trocken sein, während alles Kalte und Nasse draußen bleiben sollte. Mutti Merkel sorgte für den kleinen deutschen Michel.  „Nach allen deutschen Irr- und Sonderwegen war Genuss der Gegenwart angesagt, es waren die Sommer der Loveparade, der Fußballmärchen und der politischen Gesamtentspannung.“[5] Selbst die Boomer, die den Kalten Krieg noch erlebt hatten, waren überwältigt und hielten Krieg für abgeschafft.

Der deutsche Traum vom ewigen Wachstum und vom ewigen Frieden, garantiert von Putins Billigenergie, endete am 24.2.2022 unwiederbringlich.

Die Politik „Wir können alles kaufen“ von Schröder, Merkel, Steinmeier und Scholz war gescheitert.

Wie abrupt die Zeitenwende kam, sieht man daran, dass Scholz erst fünf Monate vorher als Merkel 2 gewählt worden war. Und jetzt die Zeitenwende?

Geht das überhaupt, dass ein Politiker der alten Epoche, die neue Epoche prägen kann? Kohl schaffte noch die Organisation der Wiedervereinigung unter Westdiktat, musste dann aber an der neuen Zweiten Republik scheitern. Dessen Repräsentant wurde der Putinfreund Schröder, der zudem zusammen mit den Grünen, den ersten Krieg, den langsamen Atomausstieg und den neoliberalen Umbau des Sozialsystems zu verantworten hatte.

Doch die wahre Republik Zwo wurde von Angela Merkel repräsentiert. Merkel sozialdemokratisierte die Union und beendete damit die innenpolitische Polarisierung des Kalten Krieges.

Was sie aber perfektionierte, war das Merkel-Mikado, wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Als kluge Politik galt, möglichst so lange notwendige Reformen zu vertagen, bis sie unausweichlich geworden waren. Man könnte das auch als Warten auf Mehrheiten als Parameter für Handlung bezeichnen. Die dann vollzogene Politik brauchte nicht mehr erklärt werden.

Politik wurde zum Rechenexempel, deshalb konnte Merkel, obwohl sie es intuitiv besser wusste, auch die sozialdemokratische Politik der Äquidistanz zwischen Moskau und Washington aufrechterhalten, denn das entsprach ja dem Mehrheitswunsch.

Was sich auch aus den Zeiten des Kalten Krieges herüberrettete, war der Gedanke, dass man mit dem Kauf von fossile Energien Russlands Wunsch nach imperialer Größe (Revisionismus) stoppen könnte. Der Witz war jedoch, dass die deutschen und europäischen Devisen den Überfall auf die Ukraine erst möglich machten. Sind wir also zurück in den 1980er Jahren?

Nein, denn der klerikale Militärfaschismus Putins hat mit dem Sowjetkommunismus nur eine personelle Kontinuität der Macht der Geheimdienstfunktionäre, aber keine ideologische.

Und auch der Krieg gegen die Ukraine ist nicht vergleichbar mit den Stellvertreterkriegen im Kalten Krieg, denn Putin geht es nicht um den Gewinn des Territoriums, sondern um die Vernichtung jeglicher ukrainischen Identität. Das macht auch eine Verhandlungslösung unmöglich. Die schlichten Gemüter des Offenen Briefes (Alice Schwarzer und Co.) irren daher, wenn sie meinen, Verhandlungen könnten, vom Westen durch Stopp der Waffenlieferungen erzwungen werden. Das wäre die Erzwingung einer Kapitulation, der Vernichtung der Ukraine.

Minkmar hat Recht, das ist nicht nur ein inhaltliches Problem von mangelnden historischen wie politisch aktuellen Kenntnissen, sondern ist Produkt von Überheblichkeit, von Arroganz, von Hybris deutscher Schaumschläger, auch in der Politik.

Diese Haltung muss sich ändern: gefragt ist eine neue Bescheidenheit und vor allem ein Interesse an anderen Ländern und ihren Problemen. Wir müssen lernen, zuzuhören. Toni Hofreiter sagte dazu gestern bei Lanz, linke Politik zeichne sich darin aus, dass sie den Opfern erstmal zuhöre.

Es gibt riesige Probleme, die in einer Republik Drei gelöst werden müssten:

  • Der Stopp des Klimawandels,
  • Die Zertrümmerung der internationalen Friedensordnung durch Russland rückgängig machen.
  • Die neue Blockkonfrontation zwischen westlich, demokratischen und autoritären Regimen. (Stichwort China) selbstbewusst annehmen.
  • Eine robuste Außen- und Wirtschaftspolitik entwickeln.
  • Ungerechte Reichtumsverteilung korrigieren.
  • Eindimensionales Setzen auf wirtschaftliches Wachstum beenden.
  • Rechtsextremismus, Nationalismus, Antisemitismus, Islamismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie gehören auf die Liste der schweinemäßig nervigen Angelegenheiten, die man aktiv bekämpfen muss.

Jetzt könnten Technokraten der Macht denken, mit ein paar Euros mehr für abgehängte Landschaften, mit einer Anti-Gewalt-Pädagogik oder schärferen Ausländergesetzen seien die Probleme zu beheben. Pustekuchen!

Diese Probleme brauchen „ambitionierte Antworten, an deren Beginn die Wahrnehmung des Problems stehen sollte“[6].

Und ich stimme Minkmar zu, das Modell Republik Drei braucht vor allem ein neues Menschenbild.

Nach 1945 gab es eine Renaissance des deutschen Michels, die Biedermeierisierung der Politik: „Ein Mensch ist dann zufrieden, wenn er materiell abgesichert und privat gut aufgehoben ist. Ideologie, Werte, niedere Instinkte – damit wollte man sich nicht befassen.“[7]

Heute wird eine klare politische Haltung nötig, wie man z.B. an der Außenpolitik sieht. Man sollte sich an klaren Regeln orientieren, die wertebasiert sind. Und dann wird man feststellen, dass man häufig nicht die Wahl zwischen gut und böse hat, sondern zwischen schlecht und noch schlechter. Der Bruch mit Russland in der Energieversorgung bedeutet, dass man die weniger schlechte Variante mit Katar wählen muss, obwohl Katar auch auf der Seite der autoritären menschenverachtenden Regime steht.

Ja, Deutschland sollte sich der eigenen Interessen bewusst werden, aber vor allem braucht es eine klare Grundhaltung zu Demokratie und Menschenrechten im eigenen Land, in der EU und der ganzen Welt.

Wo sind die Anknüpfungspunkte aus Phase I und II? Ein Element könnte sein, mehr auf Frauen in Politik und Wirtschaft zu setzen. Dann sollte man Friday for Future mehr zuhören. Und sich solidarischer mit den globalen Opfern von Klimawandel und Rohstoffausbeutung zeigen.

Die Alternative steht aber auch schon bereit: Nationalismus und Chauvinismus von rechtsradikal bis linksradikal.


[1] Was sich mit dem Krieg in der Ukraine in Deutschland ändern muss – SZ.de (sueddeutsche.de)

[2] Der erste Gas-Deal wurde von Brandt und Breschnew abgeschlossen

[3] Was sich mit dem Krieg in der Ukraine in Deutschland ändern muss – SZ.de (sueddeutsche.de)

[4] Der Begriff stammt von Stephan Grünewald, einem Psychologen

[5] Was sich mit dem Krieg in der Ukraine in Deutschland ändern muss – SZ.de (sueddeutsche.de)

[6] Was sich mit dem Krieg in der Ukraine in Deutschland ändern muss – SZ.de (sueddeutsche.de)

[7] Was sich mit dem Krieg in der Ukraine in Deutschland ändern muss – SZ.de (sueddeutsche.de)