HANNAH ARENDT

HANNAH ARENDT

20. September 2023 0 Von Uli Gierse

Die Faszination der Radikalität auf Massen wie Eliten

Viele politische Analysten wundern sich, dass gerade auch in Deutschland eine Partei wie die AfD, gerade weil sie sich radikalisiert, so erfolgreich ist.

Das hätte Hannah Arendt kein bisschen gewundert, eine bis heute zutreffende Analyse steht in ihren Buch „Elemente und Ursprünge totalen Herrschaft“ von 1951. Ich hab das mal für euch zusammen gefasst. Die Angaben in Klammern beziehen sich auf ihr Buch[1]

„Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen.“ (TH 663) und sie sind die einzige Organisationsform der Massen. Parteien sind entweder Interessen- oder Weltanschauungsparteien, die im Nationalstaat Klassen politisch vertreten oder in den angelsächsischen Zweiparteiensystemen die unterschiedliche Interessen in öffentlichen Angelegenheiten bündeln. Massenbewegungen dagegen haben nur dann Erfolg, wenn sie große Teile der Bevölkerung mobilisieren können.

Massen werden nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten, und ihnen fehlt jedes spezifische Klassenbewusstsein, das sich bestimmte, begrenzte und erreichbare Ziele setzt. (TH 668) Arendt verwendet den Ausdruck „Masse“ daher nur für Gruppen von großer Zahl, die weder durch Parteien, keinen Interessenverbänden, keiner lokalen Selbstverwaltung, keinen Gewerkschaften und keinen Berufsverbänden vertreten werden können. Sie bilden meistens die Mehrheit in den industrialisierten Ländern, bleiben aber in „neutralen Zeiten“ politisch neutral, geben ihre Stimmen häufig nicht ab und treten Parteien nicht bei. 

Arendt sieht als Hauptprofiteure dieser Massen die faschistischen und kommunistischen Parteien, die ihre Mitglieder „aus der Masse jener scheinbar politisch ganz uninteressierten Gruppen rekurrieren, welche von allen anderen Parteien als zu dumm oder zu apathisch aufgegeben worden waren“ (TH 668).

Die Einführung neuer Methoden der politischen Propaganda sei dadurch erleichtert worden, vor allem das Totschweigen der Argumente des politischen Gegners. Das Selbstverständnis des demokratischen Parlamentarismus beruht darauf, dass man sich kritisch mit den Argumenten des politischen Gegners auseinandersetzt. Von diesem Prinzip des Parteiensystem konnten sich Bewegungen schnell verabschieden, weil ihre Mitgliedschaft damit nichts zu tun hatte und „daher auch nie durch es „verdorben“ worden war“ (TH 669). Arendt spitzt das so zu: Sie brauchten nicht zu überzeugen, wenn Überzeugung voraussetzt, dass der Überzeugte vorher eine andere Meinung gehabt hat. (TH 669) Deshalb wäre es auch völlig verfehlt gewesen, wenn sie den anderen Parteien ihre Mitglieder streitig gemacht hätten. Losgelöst von den Spielregeln der Parteienkonkurrenz konnten sie polarisierende Methoden, Bürgerkriegsmethoden, ein Freund-Feind.-Schema für ihre Politik geltend machen.

„Der Massenerfolg der totalitären Bewegungen bedeutete das Ende zweier Illusionen, die allen Demokraten und besonders allen Anhängern des europäischen Parteiensystems teuer gewesen waren. Die erste Illusion war, dass alle Einwohner eines Landes auch Bürger sind, die ein aktives Interesse an öffentlichen Angelegenheiten nehmen, und dass jeder einzelne zwar nicht notwendigerweise in einer Partei organisiert zu sein brauchte, aber doch mit irgendeiner von ihnen sympathisierte und sich von ihr vertreten fühlte, selbst wenn er nie wählte.“ (TH 670) Das bedeutet, dass es auch in funktionierenden Demokratien versteckte Mehrheiten geben kann, die durch Bewegungen gegen das System mobilisierbar sind.

Die zweite Illusion bestehe in der Annahme, dass diese politisch neutralen und indifferenten Massen auch ohne politisches Gewicht seien. Das habe sich in den 1930er Jahren in ganz Europa, auch wenn sie keine Mehrheit waren, als Irrtum herausgestellt als klar wurde, dass diese stillschweigende Duldung durch alle politisch inaktiven Elemente aufgekündigt wurde. Durch die Beteiligung an Wahlen konnten die antiparlamentarischen Parteien sichtbar machen , dass sie in der Lage waren Mehrheiten zu repräsentieren.

Und „der Zusammenbruch der Klassengesellschaft, welche die einzige zugleich soziale und politische Strukturiertheit der Nationalstaaten bildete, war zweifellos „eines der dramatischsten Ereignisse der neuern deutschen Geschichte“ und hat dem Aufstieg der Nazibewegung die gleichen günstigen Bedingungen geboten wie das Fehlen jeder gesellschaftlichen Strukturiertheit in der ungeheuren russischen Landbevölkerung dem Sturz der Kerensky-Regierung durch die Bolschewisten. Unter solchen Bedingungen einer Massengesellschaft verlieren die demokratischen Institutionen wie die demokratischen Freiheiten ihren Sinn; sie können nicht funktionieren, weil die Mehrheit des Volkes nie in ihnen vertreten ist.“ (TH 671)

 Um zu ermessen, was die Bedeutung des Klassensystem für die Moderne bedeutete, muss man zurückblicken auf deren Entstehung.

Bevor der Kapitalismus neue gesellschaftliche Klassen schuf, hat er das alte System von Sicherheit und Ordnung zerstört. Der Kapitalismus hat das Ständesystem, die Zünfte, die Gilden usw. aufgelöst. Er hat all die Kollektivgruppen, die ein Schutz für den Einzelnen waren, auch für sein Eigentum, und die ihm Sicherheit garantierten, wenn natürlich auch keine absolute – die hat er zerschlagen. An ihre Stelle hat er Klassen gesetzt, im Wesentlichen zwei: die Ausbeuter und die Ausgebeuteten. Nun hat auch die Arbeiterklasse, eben weil sie eine Klasse und ein Kollektiv war, dem Einzelnen noch einen gewissen Schutz gewährt, und sie hat dann, als sie gelernt hatte sich zu organisieren, ganz erhebliche Rechte für sich erkämpft.

Die Erosion des Klassensystems begann schon im Ersten Weltkrieg, sie zeigte sich z.B. in der Spaltung der Arbeiterklasse und der Ausdifferenzierung der bürgerlichen Parteien. Die Einführung von Fließbandarbeit und der beginnende Massenkonsum auf der einen Seite und die Massenarbeitslosigkeit als Folge der Weltwirtschaftskrise verstärkten die Dynamik der Entsolidarisierung.

Das Parteiensystems verlor dadurch sein materielles Fundament. Dank der Parteiapparate gelang es die Parteien zu Weltanschauungsparteien umzufunktionieren, die die Fiktion der alten Interessengliederungen versuchten aufrechtzuerhalten. Da sich ihre Zustimmung bei den Wahlen anfangs kaum änderte fiel ihnen zu spät auf, dass die unorganisierten Massen mit deren automatischer Unterstützung sie gerechnet hatten, ihre generelle Feindseligkeit gegen das ganze System äußerten. Diese Masse verzweifelter und ressentimenterfüllter Individuen wuchs zuerst unterschwellig, nach der Weltwirtschaftskriese allerdings exponentiell an.

Mit dem Verlust des Zusammenhangs der Klasse (egal welcher) verloren die Betroffenen die Beziehung zu einer gemeinsamen Welt und das war auch nicht durch Sozialtransfers[i] zu heilen. Himmler wusste das sehr gut und beschrieb seine SS-Leute so: Sie seien ganz uninteressiert an Problemen des Alltags, was sie interessiere, seinen nur weltanschauliche Fragen und das „große Glück“ auserwählt zu sein, an einer Aufgabe mitzuarbeiten, die in Geschichtsabschnitten rechnet und deren Spur auch nicht in Jahrtausenden untergehen kann. Das Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft ist nicht Brutalität oder Dummheit oder Unbildung, sondern Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein. Die neue Massengesellschaft war nicht wie von Marx und anderen prognostiziert eine Ausweitung der Arbeiterklasse, sondern eine Masse, die aus atomisierten Individuen aus allen alten Klassen bestand.  

Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne Unterstützung durch die von ihr terrorisierten Massen nicht möglich. Die totalitären Bewegungen sind Massenorganisationen atomisierter und isolierter Individuen mit totaler Ergebenheit oder Treue zu totalitären Ideologien und deren Repräsentanten. Die Massen ermangeln aller „Klassenbasis“ und sie reflektieren und pervertieren die Standards und Einstellungen des gesamten Volkes. Sie verkörpern so wirklich den Zeitgeist und nichts sonst und sind darum nur von allgemeinsten Parolen, die nur dem geschichtlichen Moment „überhaupt“, aber keiner konkreten politischen Situation mehr entsprechen, anzusprechen und zu mobilisieren. (TH 675)

Nun könnte man annehmen damit haben auch die Propagandisten des „Untergang des Abendlandes“ mit ihrem historischem Pessimismus Recht behalten. Doch weit gefehlt, Spengler und Co. gingen davon aus, dass die Gleichmacherei des Plebs zum Untergang von Bildung und Bildungsbürgertum führen würde.

Beim Aufstieg der Nazibewegung musste man allerdings feststellen, dass die sogenannten Eliten des Bildungsbürgertum sich spätestens Anfang 1933 gleichschalteten und die selbst ernannte Elite mit fliegenden Fahnen zu den Nazis überlief. Ja, es schien so, “dass die eigentliche Elite der europäischen Kultur für die eigentümliche Selbstverlorenheit und das Aufgeben der individuellen Eigentümlichkeit, die in den Massenbewegungen sich vollzieht, besonders anfällig ist.“ (TH 681) Das hatte niemand erwartet, das war auch kein Verrat des Geistes, sondern zeigte nur, dass die Intelligenz genauso stark von diesen Bewegungen angezogen wurden wie nicht gebildete Zeitgenossen. (TH 682) „In dem prätotalitären Meinungschaos, in dem ohnehin jeder, der etwas für wahr hielt, für einen Narren gehalten wurde, war es erheblich leichter, offenkundig absurde Behauptungen zu akzeptieren als die alten Wahrheiten, die zu frommen Banalitäten geworden waren.“ (TH 715) Das Bündnis zwischen Mob und Elite hatte sich schon in der Dreyfus-Affäre bewehrt und das Faszinosum „Radikalität“ sprach die gelangweilte Elite an.


[1] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München (Piper), Taschenbuchaufgabe von 2000


[i] Wichtiger Punkt bis heute