Hybride Kriegsführung des Kremls gegen die EU

6. August 2022 0 Von Thomas Ertl

Im Gegensatz zu militärischen Aktionen sind hybride Attacken eher subtil und manchmal auch konspirativ. Militäraktionen, Auftragsmorde und Cyber-Attacken auf Institutionen und Einrichtungen sind direkte Angriffe. Es geht auch anders. Auch diplomatische Aktivitäten zählen zum Angriffs-Repertoire: Korruption und Finanzierung von Oppositionen, Einflussnahme auf Medien oder gar Installation von „ferngesteuerten“ Medien kommen vergleichsweise harmlos daher. Im Kern geht es um Spaltung und Destabilisierung des Kontrahenten. Russland bedient diese Klaviatur schon historisch und unter Putin hat diese Doppelstrategie eine wahre Renaissance erfahren. Die Mittel für diese mitunter aufwendigen Operationen generieren sich aus den Handelsbeziehungen mit dem Westen, der sich gleichsam unterschiedlichen Behandlungen ausgesetzt sieht. Es soll nicht zum Schulterschluss gegen Russland kommen. Briefkastenfirmen wie etwa in Panama kommen dabei nicht selten zum Einsatz, um die Quellen der üppigen Zuwendungen zu verschleiern.[1]

Die Handelsbeziehung zwischen der EU und Russland hat sich in den Jahren von 2011 bis 2021 leicht abgeschwächt. Russland war im Jahr 2021 mit einem 7,5 %-Anteil fünftgrößter Import-Partner der EU. Der Export-Anteil betrug 4,5 %, so dass die EU-Handelsbilanz zu Russland mit ca. 3%[2] defizitär ausfiel. Es handelt sich beim Import überwiegend um fossile Rohstoffe. Die Volumina der einzelnen Staaten resp. des Anteils am EU-BIP sehen wie folgt aus:


[1] Doe 2022, o.S.

[2] Eurostat 2022a, o.S.

Beachtenswert ist vielmehr die Rolle Russlands in der Energieversorgung der EU. Im Jahr 2020 lag der Anteil Russlands beim Erdgas bei 43 % und beim Rohöl bei 29 % des EU-Gesamtbezugs.[3]  Insbesondere das Pipeline-Erdgas ist nicht spontan substituierbar und Russland weiß um diese Schwäche der EU-Position. Aus Sicht des Kremls ist der bloße Import kein durchschlagendes Argument für besondere Maßnahmen bezüglich der Energieversorgung. Rohöl und Ölprodukte sind anders zu werten als Gas via Pipeline, das eine komplexe Infrastruktur mit vielen Jahren Vorlauf voraussetzt. Die Schaukel-Gas-Drosselungen Mitte 2022 gegenüber einigen EU-Staaten basieren folglich nicht auf dem Tableau aus Abbildung 1. Das wäre zu simpel.

Das Diagramm der Abbildung 1 basiert auf Paul Krugmans Gravitationsformel[4] bezüglich der Handelsvolumina zwischen den nationalen Volkswirtschaften. Das Massenanziehungsgesetz wird insofern zur Anwendung gebracht, dass Volkswirtschaften mit großen BIPs sich entsprechend mehr anziehen und viel Handel treiben. Das lässt sich plausibel erklären, da solche Ökonomien i.d.R. über vielfältige Branchen verfügen und die Vorteile der Economies of Scale und/oder besonderer Bodenschätze nutzen. Allein die Distanzen zwischen den Handelspartnern minimiert das Handelsvolumen. Ein Grund, warum Litauen und Finnland überproportional viel Handel mit Russland treiben und Spanien eher weniger. Die Waren werden kostengünstig über die Grenze geschoben. Deutschland exportiert aufgrund seiner industriellen Potenz viel Waren nach Russland, so dass das Handelsdefizit (Abbildung 2) relativ klein ausfällt. Auch hier ist die geografische Nähe bedeutsam.

Die 45-Grad-Linie zeigt an, wer über- oder unterproportional aus Russland importiert. Solange die Importe einfach substituierbar sind, ist auch ein übermäßiger Import wie im Fall der Niederlande kein Problem. Abbildung 1 rückt diesen Staat visuell in eine gefährliche Abhängigkeit, während Italien vermeintlich viel besser dasteht. Der Schein trügt, was weiter unten gezeigt wird.

Fast alle Handelsbilanzen der EU-Staaten sind gegenüber Russland negativ:


[3] Eurostat 2022b, o.S.

[4] Krugman/ Obstfeld 2006, S. 40f

Die differenzierte Behandlung der EU- und anderer Kunden-Staaten zeigt eine Komponente der hybriden Kriegführung Russlands. Der Kreml legt sich die Staaten geordnet nach „freundlich“ und „unfreundlich“ zurecht und bedient den Gashahn entsprechend.  Die echten Abhängigkeiten offenbart Abbildung 3.

Die „gefährdeten“ Abweichler aus Abbildung 1 sind es nun nicht mehr. Polen, Niederlande, Litauen, Belgien und Finnland sind „safe“, während Italien, Österreich und Ungarn deutlich in die Gefahrenzone abgewandert sind. Die Niederlande beziehen hauptsächlich Öl und raffiniertes Öl aus Russland, was sich durch andere Handelspartner gut ersetzen lässt. Auch Polen, Litauen, Belgien und Finnland hängen nicht am russischen Gashahn. Auch weil sie tlw. rechtzeitig diversifiziert haben. Für Deutschland gilt die Gefahr der Abhängigkeit bereits schon aufgrund der hohen Anteile Russlands am EU-Gasimport und dem entsprechend großen Anteil Deutschlands daran. Und im Gegensatz zu den Flüssiggas-Beziehern Frankreich und Spanien befindet sich Deutschland in der infrastrukturellen Falle der Pipelines. Ganz ähnlich verhält es sich mit Italien, dass auch zu gut einem Drittel russisches Gas via Pipeline bezieht. Ähnliches gilt auch für das Nicht-EU-Land Türkei, dass einerseits abhängig vom russischen Gas ist, aber auch als „freundlicher“ Partner eingestuft ist, der die Sanktionen des Westens nicht mitträgt. Und die Türkei ist ein wichtiger Gatekeeper im Schwarzen Meer. Außerdem bediente sich die Türkei als NATO-Mitglied im russischen Militär-Supermarkt im oberen Regal (Raketensysteme).[5] Das schafft im Kreml große Sympathien und Abhängigkeiten auch von der Türkei.


[5] Senz 2022, o.S.

Das gilt alles nicht für die EU, auch wenn einige meinen, dass die EURO-Devisen als Abhängigkeit Russlands ausreichten.[6] Die jüngste Geschichte hat das widerlegt. 

Es hat viele Jahre Appeasement bedurft, diese Abhängigkeiten mit einem autokratischen Staat mit militärischer Supermacht-Dimension entstehen zu lassen. In diesem Kontext hat Deutschland eine wahrhaftige Führungsrolle übernommen, die mit günstigem Gas belohnt wurde.  Das gilt – wenn auch abgeschwächt – ebenso für Italien und Österreich. Das sind die Staaten, die sich in der Vergangenheit besonders für diesen Handel mit Russland eingesetzt haben. Die kleineren osteuropäischen Staaten wie Ungarn, Slowakei und Tschechien hängen tlw. an den Pipelines dran und sind somit eben auch tlw. von Kollateralschäden bedroht, sollte Russland mit Pipeline-Gas erpressen.

Die Pipeline-Versorgung lief über Jahrzehnte, während Russland das eine oder andere osteuropäische Land überfallen hatte. Die EU reagierte so gut wie gar nicht auf diese Aggressionen ihres wichtigen Handelspartners. Deutschland setzte sich trotz vieler Einwände durch, das Nordstream2-Projekt zu verwirklichen[7]. Frankreich, dass wenig Gas zur Energieversorgung einsetzt, konnte sich nicht durchsetzen, wohl auch, um einen Kompromiss über die Nutzung von Atomenergie mit Deutschland nicht zu gefährden. Präsident Macron erkannte das Problem Deutschlands, ohne Ausbau der Gas-Versorgung die Lücke durch das Zurückfahren von Kohle- und Atomkraft nicht rechtzeitig schließen zu können. Letztlich wurden Atomenergie und Gas von der EU „green“ gelabelt, was unter Umweltschützern berechtigterweise Entsetzen ausgelöst hat.

Frankreich setzt auf Atomkraft und Deutschland wollte russisches Gas als Brücken-Energie nutzen, bis die Erneuerbaren Energien ausreichen würden. Frankreich hatte es mit den Erneuerbaren Energien gar nicht erst ernsthaft versucht und hatte als einziges EU-Land die Zielvorgaben der EU im Jahr 2020 verfehlt.[8] Frankreich erweist sich faktisch als großer Bremser der Energiewende und versteckt sich hinter nebulösen Atomkraft-Visionen. Frankreich hofft auf AKWs, die kaum Atommüll erzeugen und zudem kostengünstig sind. Beide Charaktermerkmale sind in der Realität nicht auffindbar.

Russland erkannte sowohl das spezifisch deutsche als auch das französische Interesse. Um innerhalb der EU die Zustimmung für Nord Stream 2 zu erhöhen, wurden alle nennenswerten Gas-Abnehmer umgarnt, auch Frankreich als führende und meinungsstarke Nation der EU. Frankreich und Deutschland intervenierten nicht gegenseitig bei Gas und Atomkraft, um die eigenen Interessen nicht zu gefährden. Lediglich Luxemburg und Österreich haben Klagen gegen die EU-Taxonomie angekündigt.[9]   

Nord Stream 2 war ein Übertölplungsversuch

Russland war es über die lange Zeit gelungen, allen voran Deutschland, Italien und Österreich für Pipeline-Gas zu gewinnen. Die Nord-Stream-Projekte tragen die besondere Tücke der Umgehung der Ukraine in sich, um Transitgebühren für den strapazierten Haushalt der Ukrainer zu verhindern. Mit großer Vehemenz wurde das Projekt vorangetrieben, um mit Nord Streams 1 und 2 die Gasmengen zu reduzieren, die über ukrainisches Territorium fließen. Im Westen der Ukraine treffen drei Pipelines zusammen. Aus Sibirien kommt die Trasse „Bratstvo“ (Bruderschaft), die Yamal-Pipeline hat ihren Ursprung auf der Jamal-Halbinsel und „Soyuz“ (Einheit) führt aus Zentralasien nahe Kasachstan gen Westen.[10]

Einen Vorgeschmack auf Gas-Erpressungen lieferte Russland schon während der demokratischen Bewegungen der Ukraine in den Jahren 2004 und 2009, als Gaslieferungen gestoppt wurden. Auswirkungen bis nach Südeuropa der EU waren nicht zu vermeiden.[11] Aus russischer Sicht ein Nachteil des ukrainischen Transits. Nord Stream sollte das Problem lösen und die EU von der Ukraine getrennt werden.

Die Ukraine wäre den Transit-Status los, vom Westen abgekoppelt und könnte separat erpresst werden. Schon im November 2021 hatte Yuriy Vitrenko, Chef des ukrainischen staatlichen Energieunternehmens Naftogaz gegenüber den Financial Times daraufhin hingewiesen, dass Putin Nord Stream 2 als geopolitische Waffe gegen die Ukraine und Europa einsetzen würde.[12] Fast wäre der Plan aufgegangen, denn viel hat nicht gefehlt. Die Parallelität von zunehmender Aggression gegen die Ukraine und Vorantreiben des Nord-Stream-2-Projekts ist evident. Und die deutsche Politik besonders unter dem Kabinett Schröder ist verantwortlich für das Desaster. Russland hatte es geschafft, einen Keil zwischen die EU-Staaten treiben und darüber hinaus auch den Zwist zwischen USA, EU und Deutschland zu schüren. Die spätere Berufung Gerd Schröders in den Aufsichtsrat des Öl-Staatskonzerns Rosneft ist schon fast als übermütig einzustufen. 

Die „gekauften“ Politiker

Der Kreml hatte während der Nord-Stream-Projekte dem Westen stets Avancen gemacht und auf die Vorteile der russischen Gas-Versorgung verwiesen. Andererseits wurden westliche Politiker „eingekauft“, um das Stimmungsbild in deren Heimatländern zu verbessern. Neben Gerhard Schröder war der ehemalige Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns Erwin Sellering zu sonderbaren Ehren gekommen. Die eigens vom Kreml initiierte Stiftung Klima und Umweltschutz MV und der Verein Deutsch-Russischer Partnerschaft wurden von Sellering geführt. Der dritte Manager im Bunde des Nord-Stream-2Projekts ist der ehemalige Stasi-Offizier Matthias Warnig, der als Geschäftsführer für das Pipeline-Projekt zuständig war.

In Österreich wurde wurden der ehemalige Kanzler Wolfgang Schüssel (Verwaltungsrat Lukoil) und die umtriebige kurzzeitige Außenministerin Karin Kneissl (Ex-Kollegin von Schröder im Rosneft-Aufsichtsrat) akquiriert. Ein weiterer Ex-Kanzler, Christian Kern, zog es in den Aufsichtsrat der russischen Stadtbahn RZD. Die österreichische Liste ließe sich fortsetzen.[13]

In Finnland konnte der ehemalige Ministerpräsident Esko Aho für einen Posten im Verwaltungsrat der größten russischen Bank (Sperbank) gewonnen werden. Auch Frankreichs Ex-Ministerpräsident Francois Fillon konnte nicht widerstehen und bekam einen Job beim Petro-Konzern Sibur.[14] Italiens Expremier Matteo Renzi wollte nach dem Überfall auf die Ukraine seinen liebgewonnenen Posten im Board der russischen Carsharing-Gruppe Delimobil nicht weiter wahrnehmen.[15] Der Kreml mag den Einfluss alternder PolitikerInnen ohne Ämter überschätzt zu haben, aber der Versuch einer Stimmungsbeeinflussung ist deutlich.

Im Fall von Karin Kneissl ist der Ansatz noch gravierender, da die ehemalige Chef-Diplomatin auch regelmäßig für die inzwischen im Westen verbotene Russia Today (RT) aktiv war. Die u.a. vom angeblichen Genozid an russisch-sprachigen Ukrainern berichtende RT sollte so den Schein eines offenen und demokratischen Mediums verliehen bekommen. Politiker korrumpieren und Desinformationen verbreiten sind Teil der Hybriden Kriegsführung. Bei Kneissl gab es für Russland einen Jackpot. Sie war Putin auch besonders ergeben. Dafür gab es denn auch schon mal teure Saphir-Ohrringe vom Despoten höchstpersönlich auf Kneissl Hochzeitsfeier überreicht.[16]

Die Kausalkette hybrider Kriegsführung

Der Krieg in Syrien, an dem Russland maßgeblich beteiligt ist, setzt seit vielen Jahren eine Migration gen EU in Bewegung. Die EU, die den Konflikt nicht verantwortet, versucht mehr schlecht als recht mit dieser Herausforderung fertig zu werden. Die Verteilung der Geflüchteten setzt die strapazierten Budgets der Länder weiter unter Druck, so dass neuer Konfliktstoff zwischen sozial Schwächeren, vermeintlich Schwächeren und deren Staatsführungen entsteht. Das ist der Nährboden für rechten Populismus, der von Russland mit Propaganda und mehr oder weniger verdeckter Finanzierung flankiert wird. Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen finanzierte ihren Wahlkampf aus Mitteln russischer Herkunft und unterstützte Putin in der Krim-Annexion.[17]

Die europaweite Unterstützung von rechten Populisten ist für Russland eine wichtige Destabilisierungsmaßnahme. In Italien wurde der Effekt besonders sichtbar. Der rechte Oppositionspolitiker und ehemalige Innenminister Matteo Salvini wurde in der Einfädelung eines Öl-Milliarden-Deals mit Russland abgehört. So sollten über den Deal 65 Mio. USD in die Parteikasse Salvinis fließen.[18] Letztlich konnte ein monetärer Transfer nicht ermittelt werden, aber der Zusammenhang zu den nachgewiesenen veruntreuten 49 Mio. EUR Wahlkampfgeldern durch Salvini ist brisant.[19] Der Zulauf der Populisten durch den Druck der Migration musste aus Sicht Russland politisch kanalisiert werden. Die finanzielle Unterstützung der politischen Fragmentierung und Destabilisierung war und ist das Gebot der Stunde im Kreml. Das gilt auch für den Brexit und die Unterstützung der Trump-Wahlkampagne. Im Abschlussbericht des britischen Geheimdienstes wird die russische Einflussnahme mittels Spionage, Cyber-Angriffen, Wahlmanipulationen und Geldwäsche hervorgehoben.[20] Beim Leaken einer russischen Hacker-Gruppe namens Conti wurde die Verbindung zum russischen Geheimdienst und Auftraggeber FSB offengelegt.[20a]

Ob Le Pen, Salvini oder die AFD in Deutschland. Die Nähe zu Russland ist signifikant und erst der Ukraine-Überfall[21] aus dem Februar 2022 versetzte die rechten Populisten in Erklärungsnot. Und da waren sie in bester Gesellschaft mit Schweizer Rohstoffhändlern und britischen Oligarchen-Unterstützern in der City of London. Rechte Populisten und „schmutzige Gelder“ sind Bestandteile des russischen Werkzeugkastens.

Der Gashahn gegenüber Italien wurde wieder mehr geöffnet, als Mario Draghi, der ein klares Zeichen gegen Russland befürwortet, im Sommer 2022 entmachtet wurde. Anstatt der restriktiven 21 wurden plötzlich unerwartet 36 Millionen Kubikmeter geliefert. Vorher hatte Draghi dafür gesorgt, dass Italien mehr Gas über Algerien bezieht, um die Abhängigkeit von Russland abzuschwächen. Russland setzt auf die Kräfte in Italien, die sich für gute Beziehungen zu Putin-Russland aussprechen und der Ukraine empfehlen, ein Verhandlungsergebnis mit Russland unter territorialem Verzicht anzustreben. Darunter befinden sich Salvini und auch der Führer der Fünf-Sterne-Bewegung Guiseppe Conte[22]. Beide hatten die EU während ihrer Regierungszeit (Mitte 2018 bis Mitte 2019) bereits auf die Probe gestellt, als es um die Flüchtlingsfrage ging.[23]Diese Vereinigung versucht nun erneut, die Regierung in Italien zu stellen. Das wäre im Sinne Putins.

Viktor Orban und Aleksandar Vucic

Eine ähnlich unrühmliche Rolle nimmt Viktor Orban in Ungarn ein. Orban wurde Anfang 2022 wieder gewählt. Er konnte sich durchsetzen, nachdem die Opposition durch mannigfache Behinderungen unsichtbar gemacht wurde. Orban weiß um die konstruktive Schwäche der EU, dass nur gemeinsame Beschlüsse wirksam sind. Also torpediert Orban auch die Sanktionen gegen Russland, wo es nur geht. So wurde auch die geplante EU-Sanktion gegen das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt gestrichen, obwohl Patriarch Kirill den Aggressionskrieg Russlands unterstützt. Orban bestand darauf, denn er setzt keine Sanktionen gegen Russland um, weil Putin-Russland immer „fair“ zu Ungarn gestanden hat. Der Überfall auf die Ukraine berührt Orban nicht. Demokratie und Völkerrecht sind in seiner Interpretation Handelswaren im Tausch gegen EU-Gelder. Im Gegenzug zur Sanktions-Blockade erhält Ungarn Sonderkonditionen beim Gas-Deal mit Russland.[24]  

Eine ähnliche Beziehung besteht auch zum Nicht-EU-Land Serbien, dass aber gern in die EU eintreten würde. Angesichts eines BIPs im Jahr 2021 (63 Mrd. EUR) in der Höhe der Hälfte von Hamburg (127 Mrd. EUR) bei fast 9 Mio. Einwohnern ist eine Unterstützung durch die EU attraktiv. Aber es würde sich ein zweites Ungarn anbahnen. Serbien beteiligt sich nicht an den Sanktionen gegen Russland und erhält im Gegenzug beste Konditionen in der Gas-Versorgung.[25] Die serbische Schaukelpolitik besteht in moderaten Tönen Vucics gegenüber der EU und weniger diplomatischen Äußerungen des Innenmisters Aleksandar Vulins, der sich damit rühmt, dass Serbien sich nicht an der antirussischen Hysterie beteilige und auch keine Befehle des Westens annehme. Völkerrecht:[26] Fehlanzeige.

Die Positionen Ungarns, Serbiens und auch der Türkei aus Abbildung 3 sind demnach durch diese besonderen politischen Beziehungen zum Kreml als energetisch abgesichert anzusehen. Serbien und Türkei würden gern die Vorteile der EU nutzen. Ungarn hat es bereits geschafft, den Einfluss Putins in die EU zu tragen. Der Opportunismus springt ins Auge.

Vasallenstaat Belarus

Ein besonders perfides Manöver in der Ausnutzung humanitärer Notfälle spielte sich an der Grenze zwischen Belarus, Polen und Litauen ab. Der russische Vasall und Belarus-Diktator Alexander Lukaschenko organisierte über Schlepper und Reisebüros Flüge für Flüchtende aus dem Irak und Afghanistan. Die Flüchtenden mussten den Transfer komplett selbst finanzieren.

Es wurde ihnen eine leichte Einreise in den Westen vorgegaukelt, die ein jähes Ende an den Grenzen zur EU fand. Die EU wurde dadurch erneut unter moralischen Druck gesetzt, nach Lösungen für die Geflüchteten zu suchen.[27] Die betroffenen EU-Staaten blockierten den Zugang, was nicht mit EU- Vereinbarungen zu legitimieren war. Lukaschenkos Ziel war die Rücknahme der EU-Sanktionen gegen sein Land, die sich auf die Zerschlagung der demokratischen Opposition beziehen. Lukaschenko wollte die Flüchtenden gar mit Waffen ausrüsten, um den Konflikt zu schüren. Der Kreml schaute scheinbar teilnahmslos zu und unterstützte seinen treuen Vasallen mit diversen Solidaritätsbekundungen.

Eines wurde erreicht: Die EU hat mit der Schließung der polnischen Grenze hin zu Belarus das Asylrecht faktisch abgeschafft und damit diplomatisch eine Schlappe erlitten.[28] Die westlichen EU-Länder konnten und/oder wollten sich nicht gegen Polen und Litauen durchsetzen. Die Spaltung der EU wurde dennoch nicht erreicht, aber zum Preis einer Verweigerung des Asylrechts, dass sich in einem Zustand hybrider Kriegsauseinandersetzung nicht einfach durchhalten lässt.

Die EU sanktioniert Russland mit Export-Rückgang industrieller Produkte

Die Sanktions-„Kriegsführung“ auf Seiten der EU setzt Russland stark zu. Die russische Wirtschaft leidet unter den Restriktionen des Westens, wenn auch mit weniger spontaner Wirkung als das Abschneiden energetischer Ressourcen. Die mittlere Frist wird zeigen, ob diese EU-Solidarität gemeinsam mit UK und USA einen zermürbenden Effekt auf Russland ausüben kann. Wer kann besser substituieren?

Die großen Staaten der EU haben einen Anfang gemacht. Auch USA und UK haben den Handel mit Russland drastisch zurückgefahren. Die Zerreißprobe im kommenden Winter wird zeigen, ob die EU das Problem der Energieversorgung lösen kann und die Gesellschaften Europas den Sanktionskurs weiter unterstützen werden. Wenn sich allerdings die Gewinne der Energiekonzerne vervielfachen zu Lasten der Haushalte, wird die Unterstützung erodieren. Spanien und Belgien haben einen Anfang in der Einführung einer Übergewinn-Steuer gemacht. Wir finden diese Staaten nicht im Tableau der gefährdeten EU-Members, was die geplanten Maßnahmen moralisch aufwertet.

Auch sind Italien, Österreich und Frankreich in einer fortgeschrittenen Diskussion um die Einführung einer Extra-Abgabe. Der deutsche Finanzminister lehnt das kategorisch ab. Er fürchtet einen Standortnachteil und betrachtet hohe Gewinne als einen Investitionsanreiz.[29] Dieses Argument für die oligopolistische Energieindustrie ins Feld zu führen ist mehr als gewagt. Es wäre eine große Chance, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, wenn es diesen Transfer aus Energie-Extra-Profits hin zu den durch Energie-Preise in Not geratenen Gruppen geben würde.


[6] Sommer 2019, o.S.

[7] Wagner 2019, o.S.

[8] Bauer-Bebef 2021, o.S

[9] Fischer 2022, o.S.: EU-Taxonomie: Finaler Vorschlag zur Nachhaltigkeit von Gas und Atomkraft kommt an diesem Mittwoch. https://www.handelsblatt.com/politik/international/green-finance-eu-taxonomie-finaler-vorschlag-zur-nachhaltigkeit-von-gas-und-atomkraft-kommt-an-diesem-mittwoch/28028154.html. 03.08.2022

[10] Stock 2022, o.S.: Ukraine leitet russisches Gas nach Westen und erhält Milliarden von Putin. https://www.focus.de/finanzen/news/gas-aus-russland-ukraine-erhaelt-dafuer-milliarden-von-wladimir-putin_id_79153723.html. 04.08.2022.

[11] Tamme 2022, o.S.: Ostsee-Pipeline Nord Stream: Als Russland den Gashahn aufdrehte. https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Ostsee-Pipeline-Nord-Stream-Als-Russland-den-Gashahn-aufdrehte,nordstream622.html. 04.08.2022.

[12] Olearchyk, Seddon und Sheppard 2021, o.S.: Ukraine gas chief urges EU to Russia pressure on Nord Stream 2. https://www.ft.com/content/8c02955c-de12-4caa-9716-0f6507d4f254. 03.08.2022

[13] Marchart 2022, o.S.

[14] Höltschi/ Daniel Imwinkelried 2022, o.S.

[15] Grimm 2022, o.S.

[16] Euronews 2022, o.S.

[17]  Gatehouse 2017, o.S.

[18]  Rüb 2019, o.S.

[19]  Kirst 2019, o.S.

[20] SRF 2017, o.S.

[20a] Zantow 2022, o.S.

[21] Die Haltung Putins zur Ukraine ist nicht mit NATO und EU zu ergründen, sondern mit dem russischen Nationalbewusstsein in der Lesart des rechts-nationalen Iwan Iljin, der spätestens seit 2014 die ideologische Vorlage Putins bildet und zur Pflichtlektüre im Kreml wurde. Iljin setzte die Ukraine in Anführungszeichen, um der Nation das Recht auf Eigenständigkeit abzusprechen. (Michael Schornstheimer 2019, o.S.: der Weg in die Unfreiheit. https://www.frankfurter-hefte.de/artikel/der-weg-in-die-unfreiheit-2762/. 05.08.2022.  

[22] Seisselberg 2022, o.S.

[23] Meier 2019, o.S. [1] Verenkotte 2022, o.S.

[24] Verenkotte 2022, o.S

[25] Zick 2022, o.S

[26] ebanda

[27] Emendörfer 2021, o.S.

[28] Interview mit Olaf Kleist 2021 in „Migrationspolitik: Die Situation an der EU-Auengrenze.

https://www.deutschlandfunk.de/lukaschenko-gegen-die-eu-wie-belarus-gefluechtete-als-100.html. 04.08.2022

[29] Tilmann 2022, o.S.

Literaturverzeichnis

Bauer-Bebef, Carl 2021: Frankreich in Sachen erneuerbarer Energie wohl nicht „Fit for 55“. https://www.euractiv.de/section/energie/news/frankreich-in-sachen-erneuerbare-energie-wohl-nicht-fit-for-55/. 04.08.2022 

Doe, Joe 2022: Der Whistleblower hinter den Panama Papers spricht. https://www.sueddeutsche.de /projekte/artikel/politik/whistleblower-der-panama-papers-spricht-interview-mit-john-doe-e025032/?reduced=true. 24.07.2022

Emendörfer, Jan 2021, o.S.: Belarus-Konflikt spitzt sich zu. https://www.rnd.de/politik/fluechtlinge-in-belarus-woher-kommen-die-migranten-und-warum-wollen-sie-nach-deutschland-QNIZSV2Z7VA3ZIUQ2ZTKYTZBF4.html. 05.08.2022.

Eurostat 2022a: „Woher importieren wir Energie?“. https://ec.europa.eu/eurostat/ cache/infographs/energy/bloc-2c.html. 31.07.2021

Eurostat 2022b, o.S.: Russia-EU – international trade in goods statistics. https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Russia- EU_%E2%80%93 _international_trade_in_goods _statistics#Trade_with_Russia_by_%E2%80%A6. 31.07.2022

Euronews 2022: Wo sind von Putin an Kneissl verschenkte Ohrringe im Wert von 50.000 Euro?. https://de.euronews.com/2022/03/18/wo-sind-von-putin-an-kneissl-verschenkte-ohrringe-im-wert-von-50-000-euro. 04.08.2022

Fischer, Eva 2022: EU-Taxonomie: Finaler Vorschlag zur Nachhaltigkeit von Gas und Atomkraft kommt an diesem Mittwoch. https://www.handelsblatt.com/politik/international/green-finance-eu-taxonomie-finaler-vorschlag-zur-nachhaltigkeit-von-gas-und-atomkraft-kommt-an-diesem-mittwoch/28028154.html. 03.08.2022

Gatehouse, Gabriel 2017: “Marine Le Pen: Who’s funding France’s far right?“, https://www.bbc.com /news/world-europe-39478066. 04.08.2022

Grimm, Peer 2022: „Ex-Ministerpräsident Italiens und Finnlands verlassene russische Unternehmen – was macht Altkanzler Schröder?“. https://www.businessinsider.de/politik/ex-ministerpraesidenten-italiens-und-finnlands-verlassen-russische-unternehmen-was-macht-altkanzler-schroeder/. 04.08.2022

Höltschi, René /Imwinkelried, Daniel 2022: Gas, Geld und Gier: „Was suchen westliche Ex-Politiker in russischen Verwaltungsräten?“. https://www.nzz.ch/wirtschaft/westliche-ex-politiker-in-russischen-firmen-gas-geld-und-gier-ld.1671772. 04.08.2022.

Kirst, Virginia 2019: „Hat Italiens rechte Lega jetzt ihren eigenen Ibiza-Skandal?“. https://www.welt.de/politik/ausland/article196693845/Matteo-Salvini-unter-Druck-Die-Lega-hat-jetzt-einen- Ibiza-Skandal.html. 04.08.2022.

Krugman, Paul/ Obstfeld, Maurice 2006, S. 40f: Internationale Wirtschaft. 7. Aktualisierte Auflage; Pearson Studium 2006.

Marchart, Jan Michael 2022: Der teils lukrative Draht der heimischer Ex-Politiker nach Moskau. https://www.derstandard.de/story/2000133566003/der-teils-lukrative-draht-heimischer-ex-politiker-nach-moskau. 04.08.2022.

Meier, Albrecht 2019, o.S.: Salvini passt die ganze Richtung nicht. https://www.tagesspiegel.de/politik/die-eu-und-die-italien-krise-salvini-passt-die-ganze-richtung-nicht/24888978.html. 04.08.2022

Olearchyk, Roma/ Seddon, Max und Sheppard, David 2021: Ukraine gas chief urges EU to Russia pressure on Nord Stream 2. https://www.ft.com/content/8c02955c-de12-4caa-9716-0f6507d4f254. 03.08.2022

Rüb, Matthias 2019: Salvini muss fast 50 Millionen Euro zurückzahlen. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wahlkampfmittel-veruntreut-lega-muss-millionen-zurueckzahlen-16322385.html#void, 04.08.2022.

Seisselberg, Jörg 2022, o.S.: “Dreimal heben wir Waffen geliefert“. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/italien-streit-ukraine-101.html. 04.08.2022

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Stock, Oliver 2022: Ukraine leitet russisches Gas nach Westen und erhält Milliarden von Putin. https://www.focus.de/finanzen/news/gas-aus-russland-ukraine-erhaelt-dafuer-milliarden-von-wladimir-putin_id_79153723.html. 04.08.2022.

Tamme, Katharina 2022: Ostsee-Pipeline Nord Stream: Als Russland den Gashahn aufdrehte. https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Ostsee-Pipeline-Nord-Stream-Als-Russland-den-Gashahn-aufdrehte,nordstream622.html. 04.08.2022.

Tilmann, Steffen 2022: Andere Länder machen es doch auch. https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-08/uebergewinnsteuer-energiekonzerne-oel-gas-ampelkoaltion. 06.08.2022

Verenkotte, Clemens 2022, o.S.: Ungarn will mehr Gas von Russland kaufen. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ungarn-russland-gas-101.html. 05.08.2022.

Wagner, Marcel 2019: Votum für Nord Stream 2 wackelt. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/nordstream-frankreich-101.html. 03.08.2022 Zick, Tobias 2022, o.S.: “Äußerst günstig”: Serbien macht Gas-Deal mit Putin fix. https://www.sueddeutsche.de/politik/serbien-russland-erdgas-1.5594275. 05.08.2022

Zantow, Andre 2022: “Hier funktioniert nichts mehr”. https://www.deutschlandfunkkultur.de/hacker-angriffe-unternehmen-kommunen-100.html. 06.08.2022