Kriegstreiber oder Egoist

Kriegstreiber oder Egoist

25. September 2022 0 Von Uli Gierse

Warum fällt es so schwer seine Meinung zu ändern?

In Zeiten des Krieges trifft man immer wieder auf gute Bekannte, gar Freunde oder Freundinnen, die sich als links verstehen und die Propaganda der Russländischen Föderation[1] nachplappern.

Sie finden prominente Vorbilder in den Reihen der Partei Die Linke wie zum Beispiel jüngst Dieter Dehm, ein ehemaliger Stasi-Spitzel und Ex-Bundestagsabgeordneter, der Lawrows Lügen nachbetet: „Wahrscheinlich war Butscha ein Fake.“ Etwas geschickter agiert Gregor Gysi, der, ganz rechtstaatlicher Anwalt, erstmal die Unschuldsvermutung geltend macht und eine unabhängige Untersuchung fordert. Das Ziel ist dasselbe, es sollen Zweifel an der Unterstützung der Ukraine gesät werden. Gysi könnte sich sogar Waffenlieferungen zur Verteidigung vorstellen, aber auf keinen Fall von Deutschland. Sahra Wagenknecht hält den Wirtschaftskrieg des Westens für die Ursache des Gasmangels und empfiehlt das Ende der Sanktionen. Linke Intellektuelle sind bereit die Ukrainerinnen einem gnadenlosen Vernichtungskrieg zu überlassen. Von einem Regime, welches Rechte von LGBTQ negiert, die hier verteidigt werden und gerade auch wegen seiner Homophobie wird Putin auch von Rechten hier als „Verteidiger des Abendlandes“ gefeiert wird.

Jede/r kann an sich selbst gut beobachten, dass wir unerwünschte Informationen gern vermeiden. Bestimmte Reizworte oder Reizfiguren können vor allem in den sozialen Medien schnell Fluchtreflexe auslösen, aber auch eine treue Fangemeinde zusammenhalten. Dabei hängen die Boten der Nachricht eng mit den Nachrichten selbst zusammen. Sahra Wagenknecht ist so eine Figur, die offensichtlich durch Polarisierung ihre öffentliche Rolle, ihr Aufmerksamkeitsbudget, bewusst steigert. Sie nimmt dabei die Zerstörung ihrer Partei bewusst in Kauf, denn ohne die Reibung mit der Partei wäre sie ein unwichtige Schwurblerin unter vielen anderen. Dasselbe Rollenmodell betrieb Thilo Sarrazin in der SPD und man sieht, nach seinem Parteiausschluss ist die öffentliche Wirkung dahin. Ein beliebtes Mittel bei allen Populisten, früher nannte man sie auch Demagogen, ist dabei die Täter- Opfer-Umkehr. Die deutsche Bevölkerung wird zum Opfer nicht etwa des Kriegsherrn Putin, sondern eines vom Westen angezettelten Wirtschaftskrieg gegen Russland. Bei mir führt das dazu, dass ich mir Talkshows mit Wagenknecht nicht mehr ansehe, andere werden aber gerade wegen ihr einschalten, ähnliches gilt für Alice Weidel. [2]

Eins kann man aber feststellen, je nach weltanschaulichem Gewässer, in dem die betreffende Person zu baden pflegt, unterscheidet sich die Reaktion. Es gilt die Regel, je polarisierter ein Thema diskutiert wird, desto mehr Anlässe gibt es, sich an einem Pol zu positionieren und die Gegenmeinung zu vermeiden. Das hat nichts mit Cancel Culture zu tun, denn offensichtlich haben alle Beteiligte die Möglichkeit, ihre Position unter die Leute zu bringen. Im Gegenteil je polarisierter die Position desto schneller die Einladung in eine Talkshow.

Aber! Die Haltung, Informationen, die nicht in das eigene Weltbild passen, zu vermeiden, führt nicht dazu, neue Erkenntnisse oder neuen Zusammenhalt zu organisieren. Noch tragischer ist jedoch der Effekt, dass eher unwichtige Themen wie Gendern, Impfen, Geschlechteridentität, kulturelle Aneignung von Dreadlocks oder Winnetou/ Layla wichtige Richtungsentscheidungen wie zum Krieg gegen die Ukraine, den sozialen Kosten der Energieverteuerung in Folge des Krieges oder die Klimakatastrophe in den Hintergrund geraten, weil sie nicht polarisiert genug sind.

Um wahrheitsgemäße Überzeugungen zu bilden, müssen sich Individuen verschiedenen Standpunkten aussetzen. Und doch vermeiden Menschen routinemäßig Informationen, die ihren früheren Überzeugungen widersprechen – eine Tendenz, die als “selektive Exposition” bezeichnet wird. Entscheidend ist also die Weltsicht, die man im Prozess des Erwachsenwerdens erworben hat.

Und nun wird es interessant. Offensichtlich sind Antiamerikanismus, Antikapitalismus und oft Antisemitismus starke Pole, die bei Alt- und Neulinken das Magnetfeld für die eigene Meinungsbildung darstellen. Immer noch darstellen, denn offensichtlich haben viele den Zusammenbruch des antagonistischen Weltbilds mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums nicht mitbekommen.

Der Zusammenhang von Antiamerikanismus und Antikapitalismus ist ein Produkt des Kalten Krieges, wo sich angeblich Kapitalismus und Sozialismus gegenüberstanden. Nun gibt es aber noch nicht einmal der Form nach einen Sozialismus sowjetischer oder chinesischer Bauart, sondern zumindest außerhalb von Nordkorea ist die ganze Welt ökonomisch kapitalistisch organisiert, auch die Russische Föderation und China.[3] Also der Zusammenhang von Amerika und Kapitalismus ist zwar nicht falsch, aber kein zur Polarisierung geeignete Weltbild.

Entweder haben die Linken mit antiamerikanischem Weltbild noch nicht mitgekriegt, dass es die Sowjetunion nicht mehr gibt und selbst die nie die Emanzipation des Proletariats zum Zeil gehabt hat. Oder sie beharren auf einer Vorstellung, die sich überlebt hat, weil es gut ins eigene Selbstbild als radikaler Kritiker von allem passt. Ähnliches gilt für den linken Antisemitismus wie er sich gerade wieder in der Documenta widerspiegelte. Dieser macht Israel zum Zentrum einer antikonialistischen Propaganda. Und als Bildsprache bedient man sich des Nazi-Judenbilds, Mensch mit Hakennase und Dollarzeichen in den Augen. Auch da wird nicht die Komplexheit des Problems betrachtet, sondern Feindbilder aufgebaut, die Popanze sind.

Warum?

Eine Erklärung ist, dass das Sich-Aussetzen von gegensätzlichen Ansichten negative Emotionen auslöst. Als Erklärungsansätze gelten: die Selbstbedrohung durch kognitive Dissonanz; naiver Realismus (d.h. die Illusion der persönlichen Objektivität); und Widerwillen, kognitive Anstrengungen zu unternehmen.

Es wäre sehr, sehr hilfreich im Sinne des Erbes der Aufklärung, wenn die Menschen offen für neue Erkenntnisse wären und die eigenen Ansichten so entsprechend aktualisiert würden. Dummerweise wirft sich da entweder die eigene Weltsicht in den Weg, oder man schließt sich den größten Schreiern an. Der Mensch müsse sich eben für eines entscheiden, für die Wahrheit oder seine Ruhe, beides auf einmal sei nicht im Angebot, hat einmal der US-amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson geschrieben. Vor die Wahl gestellt, entscheiden sich die Menschen eher für ihre Ruhe als die Wahrheit. Um wenigstens scheinbar recht zu behalten, belügen oder täuschen sich die Menschen also selbst.   

In der kindlichen Entwicklung spielt die „kognitive Dissonanz“, für das Lernen eine herausragende Rolle. Wenn wir uns bewusst werden, dass unsere Einstellung und Handlungen nicht übereinstimmen, entsteht ein unangenehmer Spannungszustand oder eine kognitive Dissonanz. Wir lernen, wenn wir bereit sind, mit den neuen Erkenntnissen unsere bisherige Einstellung zu verändern (Beispiel Herdplatte).  Aber es gibt auch den anderen Weg.  Um diese Spannungen zu verringern, bringen wir unsere Einstellungen in Einklang mit unseren Handlungen. Ein historisches Beispiel: Die US-Invasion im Irak erfolgte hauptsächlich unter der Annahme, dass die USA/Welt durch Massenvernichtungswaffen (Giftgas)  bedroht würde. Als keine Massenvernichtungsmittel gefunden wurden, empfanden viele Amerikaner eine Dissonanz ihrer Einstellung zum Krieg, die verstärkt wurde durch das Bewusstsein für die Kosten und die menschlichen Verluste. Gleichzeitig wuchs vor allem in der arabischen Welt der Antiamerikanismus und die Zustimmung zu Terrorismus als Gegenwehr. Doch was passierte, die Amerikaner wandten sich nicht gegen Bush als Kriegsverbrecher, sondern modifizierten ihre Grundannahme (Einstellung), warum man in den Krieg gezogen war. Aus dem Krieg wurde einer, bei dem unterdrückte Menschen befreit wurden und die Demokratie im Nahen Osten gefördert werden sollte. Übertragen auf unsere linken Freunde heißt das: Um mit sich als Friedensfreund und Russlandfreund gleichzeitig fühlen zu können, müssen die Fakten neu interpretiert werden. Um das hinzukriegen, werden alte Feindbilder reaktiviert: NATO/ USA = Kriegstreiber[4], Russland = armes Opfer, Ukrainer sind ja gar kein  eigenständiges Volk, auf dem Maidan kämpften auch Rechtsradikale = alle Ukrainer sind rechtsradikal etc.

Der Mensch betrachte sich selbst als intelligentes, moralisches und vernünftiges Wesen. Dieses Selbstbild verteidigt das Individuum zum Beispiel, indem es Gegenpositionen ignoriert, die dieses ankratzen könnten. Kognitive Dissonanz, so definieren es Forscher, ist ein Zustand von Unbehagen, Unsicherheit und Ängstlichkeit. Und darauf wird nicht etwa nur mit Ignorieren reagiert, sondern zunehmend mit Wut und Aggression. Jede/r fühlt sich heute in den neuen sozialen Medien durch eine Gegenrede in ihrer (fragilen) Identität bedroht und das erzeugt Wut.  Die Haltung ließe sich also beschreiben als: Ich weiß Bescheid. Deswegen müssen alle, die das anders sehen, Deppen oder Lügner sein. Psychologen sprechen dann von einem naiven Realismus als Treiber von Aversion und Flucht vor Gegenpositionen.   

„Wenn Individuen ihre Ansichten als von Logik und Vernunft angetrieben betrachten“, schreiben in einer Studie Minson und Dorison, „wecken die scheinbar unlogischen, egoistischen Positionen von Gegnern Frust und Wut.“ [5] Dem versuchen Menschen also aus dem Weg zu gehen, indem sie sich erst gar nicht damit beschäftigen. Sie stellen das Radio ab, wechseln den Fernsehsender, ignorieren Nachrichtentexte oder legen einen Wutausbruch hin, den man Shitstorm nennt, wenn sich weitere zornige Bescheidwisser  einschalten.

Beide Erklärungen – die kognitive Dissonanz und der naive Realismus – gleichen einander. Doch Ersteres entspringt eher einer defensiven, Letzteres einer offensiven Haltung, das eine dem Zweifel, das andere der Gewissheit.

Bleibt als letztes der Widerwillen, sich anderer Meinungen auszusetzen. Das ist das von Kant formulierte Problem der Aufklärung: die selbstverschuldete Unmündigkeit. Da hilft nur wie Kant dazu zu ermutigen, „ sich des eigenen Verstandes zu bedienen“, um einen „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“  zu finden. Oder „Sapere aude!“, was etwa bedeutet „Wage zu wissen!“ und von Kant mit „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ erläutert wird.

Doch wenn auch das „Den-Kopf-in den Sand-Stecken“ nichts hilft, greift man gern zu  Verschwörungstheorien. Ich könne zum Beispiel mein Unverständnis für den linken Diskurs über den Krieg gegen die Ukraine damit erklärbar machen, dass ich einen Zusammenhang zwischen der Putin-Clique und ihrer KGB-Herkunft und ehemaligen Stasispitzeln herstellte. Die alten Netzwerke seien offensichtlich noch in Takt. Schupsdiwup klärt sich alles auf, eine KGB/FSB-Stasi-Verschwörung.

Beliebt auf Twitter in rechten Netzwerken ist aktuell die Behauptung, Habeck und die Grünen wollten die deutsche

Industrie zerstören, um das Weltklima zu retten. Politische Verschwörungstheorien sind offensichtlich kognitiv attraktive, schwer zu falsifizierende Narrative über die geheimen Missetaten politischer Gegner und Eliten.

Ihre Hauptfunktion ist die Stiftung von sozialem Zusammenhalt gegen eine äußere Gefahr. Das knüpft an an Stammesverhalten in der Vorzeit des Menschen, welches die eigene Gruppe gegen andere Gruppen umso besser verteidigen kann, desto größer der innere Zusammenhalt ist. Insofern ist das eine kognitiv plausible Aktion der Strukturierung von sozialen Gruppen. Die Aufmerksamkeit wird auf eine soziale Bedrohung gerichtet, um das Engagement und die Koordination für gemeinsames Handeln (insbesondere bei Konflikten) zu verbessern. Die Eingliederung in die Gruppe erhöht wiederum für die Einzelnen den Status innerhalb der Gruppe.

Durch abstrakte Narrative, die anprangern, wie ein Böses, Schurken oder unterdrückerisches System – mehr oder weniger real und klar abgegrenzt – eine tugendhafte Opfergruppe ausbeutet, wird eine Polarisierung angestrebt. Diese Polarisierungen umfassen z.B. antikapitalistische vs. antikommunistische oder religiöse Propaganda, weiße suprematistische vs. antirassistische Diskurse usw. . Entscheidend ist also die soziale Funktion der Verschwörungstheorien zu dekonstruieren, um klar zu machen, das Freund-Feind-Schema ist hier unproduktiv ist, weil der Feind so gar nicht existiert.

Mein Schlusssatz sollte eigentlich lauten: Der Faktencheck und Eingehen auf die Komplexheit der Probleme bewirkt aber nur dann etwas, wenn wir selbst auch dazu bereit sind und im jeweils Anderen nicht nur den Volltrottel sehen.

Aber diese Lösung geht mir auch irgendwie gegen den Strich. Ambiguitätstoleranz ist das Stichwort. Widersprüche aushalten. Das kann ich beim Thema Kapitalismus, der eindeutig der Hauptverursacher der Erderhitzung ist, denn er fußt seit seiner Gründung in England auf der Ersetzung von menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen, die durch fossile Brennstoffe angetrieben werden. Gleichzeitig aber ist er auch die einzige Chance, über die Mobilisierung von privatem Kapital die erneuerbaren Energien voranzutreiben. Die Alternative wäre nur eine staatliche Kriegswirtschaft (siehe Ulrike Herrmann) .

Beim Thema imperialistischem Angriffskrieg fehlt mir allerdings diese Ambiguitätstoleranz noch. Olaf Scholz stellt sich wahrscheinlich so einen postheroischen Mittelweg vor. Ein bisschen Waffen, ein bisschen Frieden. Ich denke, bei Krieg und Frieden funktioniert Ambiguitätstoleranz nicht. Das Böse muss besiegt werden, sonst beherrscht es uns – auch eine Frage der Einstellung und der daraus folgenden Handlung.  


[1] Ich werde diesen offiziellen Titel durch Russische Föderation ersetzen, Russland ist nur der Kern dieses nach 1991 erstandenen Imperiums. Es ist auch keine Föderation im engeren Sinne, denn es gibt kein Organ der föderierten Teilstaaten. Tatsächlich handelt es sich um das letzte koloniale Imperium, nur noch ´vergleichbar mit China.

[2] Warum diese Effekte aktuell vor allem durch Frauen getriggert werden, müsste auch mal analysiert werden. Giorgia Meloni, Marine Le Pen, Annalena Baerbock, Ricarda Lang oder Hillary Clinton sind andere Beispiele.

[3] Als einziger hat das Rainer Trampert nach dem ersten Angriff auf die Ukraine 2014 kapiert. Als Linker, schreibt er in Jungle World, kann man sich nur auf die Seite der liberalen Demokratien und der um Freiheit kämpfenden Ukrainerinnen stellen, denn die Diktaturen China und Russland sind ja auch kapitalistisch.

[4] Beliebter Demospruch in den 80er: USA, SA, SS.

[5] Zitiert nach einem Artikel in der SZ vom 23.9.2022 von Sebastian Herrmann „Haltet alle den Mund!“