Linke und der Krieg: Die Leichen im Keller der Achtziger[1]

3. Mai 2022 2 Von Uli Gierse

2022 – Russland überfällt die Ukraine zum zweiten Mal.

Und Oskar Lafontaine spricht aus, was die Unterzeichner des Offenen Briefes an Olaf Scholz nur verschwiemelt ausdrücken: „Amerika treibt Europa in einen Atomkrieg“ und Olaf Scholz sollte die Unterstützung der Ukrainer mit Waffen einstellen.[2]

Lafontaine stellt den Angriff Russland als völkerrechtswidrig in eine Reihe mit dem Irakkrieg und dem Kosovokrieg, aber das war es auch schon an Kritik des russischen Aggressors. Der Böse sind die USA. Sie wollen diesen Krieg und haben Russland provoziert. Sein Beleg ist der  kalte Krieger Zbigniew Brzezinski, der 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ davor gewarnt hatte, einen potentiellen eurasischen Herausforderer Russland aufkommen zu lassen. Dabei sei die Ukraine der geopolitische Dreh- und Angelpunkt. Ohne die Ukraine sei Russland kein eurasisches Land mehr. Schuld am Krieg in der Ukraine ist daher für Oskar Lafontaine ist daher der US-Imperialismus und seine Marionettenregierung in Kiew.

Aus demselben Grund sieht der Vordenker der Linken in den USA Chomsky in Donald Trump den Politiker, der diesen Krieg beenden könnte, da er keine imperialen Ziele in Europa habe.

Man hat den Eindruck, wir sind wieder zurück in den Achtzigern.

Damals war das Weltbild innerhalb der Linken noch klar und eindeutig: Schuld ist immer der US-Imperialismus. Die USA war der imperiale Klassenfeind, den es neben dem Kapital vor Ort zu bekämpfen galt. Dabei hatte man genau wie heute jedoch nie das Gefühl tatsächlich bedroht zu sein. Im Gegenteil man liebte auf der anderen Seite die US-Popkultur. Sex and Drugs and Rockn Roll. US-Imperialismus war sowas wie Onkel Dagobert, abzulehnen, zu beklauen, aber im Grunde genommen harmlos. Man selbst fühlte sich wie Asterix im Kampf gegen das Römische Imperium. Man saß im Trockenen und konnte sich deshalb streiten und gleichzeitig blendend unterhalten fühlen. Hilmar Klute beklagt in der heutigen SZ, dass heute leider zu unversöhnlich über die Unterstützung der Ukraine gestritten würde, das sei in den Achtzigern besser gewesen. It’s the war, stupid!

Vielleicht konnten das Narrativ des US-Imperialismus als Hauptbedrohung sich ja so lange halten, weil die Kritik wohlfeil am Kneipentisch oder im Wohnzimmer reüssierte. Real war die Bedrohung durch die Sowjetunion im Kalten Krieg nicht weniger gefährlich als die US-amerikanische.[3]

Russische atomare Mittelstreckenraketen wurden 1962 auf Kuba und ab 1976 wurden die SS-20, atomare Mittelstreckenraketen mit einer Sprengkraft von 80 Hiroshimabomben, stationiert. Zielpunkte war vor allem Westdeutschland. Für die Friedensbewegung waren dagegen die amerikanischen Pershing die Bedrohung des Weltfriedens. Die Pershings sollten und wurden laut NATO-Doppelbeschluss in Deutschland stationiert, solange die russischen SS-20 nicht abgezogen würden. Die Friedensbewegung mobilisierte damals Hunderttausende gegen den NATO-Doppelbeschluss, der nicht von den Amerikanern, die ja nicht bedroht waren, sondern vom SPD-Kanzler Helmut Schmidt initiiert wurde.  

Die Sowjetunion, inklusive DDR, war dagegen für viele zwar nicht vollkommen, und man hätte da nie wohnen wollen, aber sie wurde nur allgemein- theoretisch betrachtet. Man stritt sich über die Bedeutung Lenins für die marxistische Analyse, betonte vielleicht Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki. Fand Stalin eher doof und die sowjetische Nomenklatura senil, aber konkrete Kritik am System der sozialistischen Planwirtschaft und ihrer mangelnden Effizienz bliebt aus. Bei DKP-Anhängern fehlte sie sowieso, aber auch bei innerlinken Kritikern wie Rudi Dutschke, der Spontibewegung oder den maoistischen Kleinparteien war man zögerlich in der konkreten Kritik am Sowjetsystem, denn das hätte ja dem Hauptfeind genützt. Genauso blind verfuhr man mit dem kommunistischen China, das fast als antiimperialistische Befreiungsbewegung durchging. Völlig kritikfrei war die Idealisierung von Befreiungsbewegungen in Nicaragua, El Salvador oder Kuba und das Che Guevara- Poster hängt bis heute an der Wand. Auch die afrikanischen „linken“ Diktatoren konnten mit der vollen Solidarität der westdeutschen Linken rechnen.

Man sieht wie gut die Dialektik des Denkens immer wieder da landen konnte, wo der wahre Feind stand. Damals war das Stichwort „US-Imperialismus“ ein unschlagbarer Joker in der Argumentation.   Offensichtlich gilt das bis heute bei vielen, die in den Achtzigern politisch sozialisiert wurden.

Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums 1990 war für linke Denkmuster ein großer Schock, der die politische Landschaft stark veränderte.

Innerhalb der Grünen setzten sich die Realos durch, die in die Minderheit geratenen linken Fundis traten aus. Die Hoffnung auf einen Systemwechsel durch eine sozialistische Revolution getragen von der Arbeiterklasse war dem Realismus gewichen, dass es nur noch machbar erschien, den Kapitalismus einzuhegen über staatliche Rahmenbedingungen. Die Konservativen verloren ebenfalls ihre Drohkulisse des bösen Kommunismus und die SPD war vom Verdacht befreit, 5. Kolonne der Sowjets zu sein. Die Karten wurden innenpolitisch neu gemischt, rot-grün kam 1998 an die Regierung, die SED/PDS sicherte das SED-Vermögen und befriedigte die Ostnostalgie. Einzig die alte Erzählung „Schuld ist immer der US-Imperialismus“ war friedenspolitisch immer noch stark.

In dem Zusammenhang muss man von dem deutschen Narrativ „Nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder Auschwitz!“ reden. Obwohl die Westbindung der BRD an die Wiederbewaffnung gekoppelt war, verstand es jede Bundesregierung sich aus internationalem militärischen Engagement rauszuhalten mit dem Verweis auf die deutsche Geschichte, zweimal einen Weltkrieg vom Zaun gebrochen zu haben. Das nennen Ökonomen die dankbar eingesteckte Friedensdividende: man ließ sich von den USA schützen und konzentrierte sich auf das Geldverdienen mit dem Export deutscher Produkte.

Noch 1990 konnte sich Helmut Kohl aus dem zweiten Golfkrieg mit dem Verweis auf die deutsche Geschichte heraushalten, man finanzierte ihn aber mit 12 Milliarden DM.  Damals ging es um das Zurückschlagen der irakischen Armee Saddam Husseins, der Kuweit überfallen hatte. Auf der Grundlage einer Resolution des UN- Sicherheitsrats wurde Kuweit befreit.

Die Reaktion der westdeutschen Friedensbewegung war keineswegs Solidarität mit dem kleinen Kuweit, sondern: kein Blut für Öl. Die Großintellektuellen Walter Jens und Günter Grass brachten es auf den Punkt, auch der Doyen der Neuen Linken, Oskar Negt, blieb dabei: Krieg sei niemals die Lösung. Zum einen wurde die USA verdächtigt, sich die kuweitischen und irakischen Ölquellen unter den Nagel reißen zu wollen, zum anderen gab man Israel die Schuld an dem Überfall auf Kuweit.  Der grüne Abgeordnete Christian Ströbele in Israel (!) dazu: „Die irakischen Raketenangriffe sind die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels.“[4] Für Wolf Biermann war diese antisemitische Argumentation der Anlass endgültig mit der deutschen Linken zu brechen: „Bindet eure Palästinensertücher fester, wir sind geschiedene Leute“, sagte auf einer Podiumsdiskussion in Frankfurt 1991. Wie man hier sieht, wurde das Gebot „Nie wieder Auschwitz!“ innerhalb der Linken von seinem antisemitischen Kern gelöst und galt nicht mehr für Israel, denn das sei ja nur eine Filiale des US-Imperialismus.

Der radikalen deutschen Linken war seit dem Sechstagekrieg, spätestens seit 1973 das Koordinatensystem verrutscht, die bis dahin geltende Solidarität mit Israel war der Unterstützung eines angeblichen Befreiungskampf der Palästinenser gewichen.

Bush Senior jedoch nahm die UN-Resolution ernst und rückte nicht bis Bagdad vor, sondern zog die US-Army nach der irakischen Niederlage in Kuweit wieder ab. Im Gegensatz zu Bush Junior, der tatsächlich mit Tricks (Lügen) einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen das Saddam Hussein Regime angezettelt hat. Wahrscheinlich nicht nur wegen der Familienehre, sondern auch wegen dem Öl.  Doch zurück in die 90er, die in Europa von den Jugoslawienkriegen beherrscht wurden.

Claus Leggewie beschreibt das zwanzig Jahre später so: „Das Jahr 1991 – wenige Monate später stellte der Jugoslawienkrieg die nächste Bewährungsprobe – war eine Wegscheide nicht allein für die Linke, sondern das gerade vereinte Deutschland generell. Würde man aus einem Pazifismus heraustreten können, der sich die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und von „Auschwitz“ abstrakt-prinzipialistisch und auf eine oft ganz schräge Weise (Bagdad/Belgrad = Dresden) zu eigen gemacht hatte?“[5]

In den 90er war das noch nicht möglich. Nochmal Leggewie: „1991 herrschte von der Kohl-Regierung bis zur Friedensbewegung fast Äquidistanz zu George Bush und Saddam Hussein; die Infusion des DDR-Antifaschismus in das vereinte Deutschland verstärkte eine weitverbreitete Aversion gegen den Westen und nährte einen nationalistischen Neutralismus, damals vor allem beim Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine.“[6]

In der Hamburger GAL führte der Streit 1992 um eine bewaffnete Intervention zum Stopp der Massaker in den Kriegen auf dem Balkan fast zu einer zweiten Spaltung zwischen übriggebliebenen Linken und den Realos, die eine Intervention befürworteten.

Erst die “ethnischen Säuberungen” der Krajina, das Massaker von Srebrenica, die Belagerung Sarajevos oder die mehr als 100 000 Toten und zwei Millionen Vertriebenen des Bosnien-Krieges drückten auf das Gewissen und die ehemals pazifistische Partei der Grünen befürwortete 1998 eine Militäraktion der NATO gegen Serbien, denn die Massaker im Bosnienkrieg sollten sich im Kosovo nicht wiederholen. Das war eine Zäsur, denn hier wurde erstmals die Erzählung „Frieden schaffen ohne Waffen“ entscheidend modifiziert. Außenminister Joschka Fischer schrieb  die alte Gleichung „Nie wieder ­Ausschwitz, nie wieder Krieg“ so um, dass man nach dem Völkermord in Bosnien partout verhindern müsse, dass sich Ähnliches im Kosovo wiederholte – notfalls auch ohne Mandat des Sicherheitsrates. Die Mehrheit der Grünen hatte sich damit vom Antiamerikanismus als Hauptbegründung für die Friedensbewegung verabschiedet, der Rest der Linken konnte sich jedoch bequem zurücklehnen, denn die USA waren wieder einmal als Hauptkriegspartei identifiziert worden.  

Der naive Pazifismus und der antiamerikanische Pazifismus war zumindest in der grünen Partei am Ende, deshalb ist die Analyse, die Grünen seien heute, 2022, olivgrün geworden, Unsinn.

Aber in den Jugoslawienkriege öffnete sich auch die Büchse der Vorstellung, Ziel von Politik könnte  ethnische Homogenität sein. Die nationalistische Rechte modifizierte den alten Rassismus in die Formel von angeblich ethnischer Homogenität. Milosevic träumte von einem Groß-Serbien, später Orban von Groß-Ungarn, und Putin von einem Groß-Russland unter Einbeziehung aller russisch Sprechenden in den Randstaaten. Das war die Geburt der identitären Rechten in Europa.

Allein deswegen und weil konkret Menschen vor der Vernichtung geschützt wurden war die NATO-Intervention meiner Meinung nach richtig, obwohl sie völkerrechtswidrig war und zum Negativvorbild für den 3. Irakkrieg und die Angriffskriege Putins wurde. Auch bei mir bedurfte es erst der konkreten Erfahrung von Srebrenica und den anderen Kriegsverbrechen, um die Haltung, sich herauszuhalten mit der Begründung „Nie wieder Krieg!“ zu verändern. „Nie wieder Ausschwitz!“ lässt sich manchmal nicht ohne Gewalt erreichen.

Das gilt auch heute. Im aktuellen Krieg in der Ukraine geht es jedoch nicht nur um die Verhinderung von einem Genozid, sondern auch um Freiheitsrechte, es werden das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverteidigung von Staaten und die Unverletzlichkeit von Grenzen verteidigt. Und zwar konkret. Da gibt es keine neutrale Haltung des Heraushaltens, sondern man entscheidet sich immer, entweder für die angegriffenen Ukrainer oder für den Aggressor Russland.

Deshalb ist es auch zynisch , wenn Alt-Linke zusammen mit Neu-Rechten fordern die militärische Unterstützung der Ukraine einzustellen, denn das stärkt den russischen Aggressor. Man ergreift Partei auch wenn man behauptet sich heraushalten zu wollen.

German Angst wird von der russischen Propaganda gern stimuliert. [7] Und dabei wirkt vielleicht auch das sogenannte Stockholmsyndrom, man entwickelt aus Angst Zuneigung mit dem eigenen Unterdrücker. Alle „Genies 2.0“ wie Oskar Lafontaine oder Alice Schwarzer sollten daher mal überlegen, ob sie nicht Denkmustern unterliegen, die historisch und inhaltlich überlebt sind.

Frei nach Max Herre: Lest die Scherben von gestern auf und merkt, sie gehen nicht mehr zusammen.[8] 


[1] Ich schreibe das auch als Selbstkritik, denn bis zum Kosovokrieg waren meine friedenspolitischen Reflexe auch dem linken Mainestream verpflichtet.

[2] Amerika treibt Europa in einen Atomkrieg (nachdenkseiten.de)

[3] 12. Mai 1991: Letzte Mittelstrecken-Rakete SS-20 vernichtet, Stichtag – Stichtag – WDR

[4] Die Linke und der Krieg: Pazifisten und „Bellizisten“ – taz.de

[5] ebenda

[6] ebenda

[7] Eine meiner Hauptaufgaben als italienischer Botschafter in Deutschland bestand darin, den Deutschen mindestens zweimal im Monat zu erklären, dass die Welt morgen nicht untergehen wird. (Luigi Vittorio Ferraris, ital. Botschafter 1980 – 1987)

[8] In seinem Song „Scherben“