Menschenbild und Antisemitismus

Menschenbild und Antisemitismus

5. November 2023 0 Von Uli Gierse

Angesichts des Massakers, welches die Hamas in Israel angerichtet hat, wird die Frage, welche Macht hat Antisemitismus heute, auch bei uns wieder laut. Wie kann es sein, dass Hass auf Juden wieder zu einer ernsthaften Bedrohung für Juden weltweit geworden ist?

Ich habe die kleine Hoffnung, dass eine humane Sicht auf den Konflikt den Krieg der abscheulichen Bilder  gewinnen kann. Doch das setzt eine Sicht auf Menschen und die Welt voraus, die diametral jeder totalitären Ideologie entgegen steht.

Totale Herrschaft will Menschen zu einer total homogenen Masse zusammenpressen und das Mittel dazu ist der Terror. Das Gegenteil von Homogenität ist Pluralität, die zentrale Grundstruktur in Hannah Arendts Sicht auf Menschen.

Das Menschen-Bild Hannah Arendts

Wenn man sich die Spezies Mensch anschaut, dann ist die Beobachtung, dass Menschen sind gleich und verschiedensind, und das gleichzeitig, banal. Denn ohne diese Gleichartigkeit könnten Menschen sich nicht untereinander verstehen. Aber Menschen sind auch verschieden, einzigartig oder anders ausgedrückt, es gibt keine Menschen, die identisch sind. Für Hannah Arendt ist das nicht banal, sondern in dieser Besonderheit liegt das Menschsein selbst, Gleichheit und Verschiedenheit macht die besondere Qualität der Menschen aus.

Menschen sind immer schon in der Welt, dieses In-der-Welt-Sein ist aber nicht eindeutig definierbar, weil diese Welt existiert nur in der Vielfalt der Perspektiven jedes einzelnen Menschen. Das heißt, um sich darüber klarer zu werden, was diese Welt und ihre Probleme und Chancen sind, müssen die verschiedenen Perspektiven zusammengebracht werden. Und das geht nur, wenn die Menschen miteinander reden. Das heißt nicht, dass dabei das Ziel  zu einer Meinung zu kommen, zentral ist. Sondern im Gegenteil Handeln braucht nur eine Übereinstimmung in wesentlichen Punkten.

„Das von Anderen Gesehen- und Gehörtwerden erhält seine Bedeutung von der Tatsache, dass ein jeder von einer anderen Position aus sieht und hört. Das ist der Sinn von öffentlichem Zusammensein.“ 

Das miteinander Sprechen und Handeln ist die besondere Qualität der Gattung Mensch, die anderen Spezies in allen anderen Punkten eher unterlegen wäre. Dadurch können Menschen sich  weiterzuentwickeln. Wenn wir nicht verschieden wären, sondern homogen in unseren Verhaltensmustern, wären wir schon lange ausgestorben, da wir dann unflexibel und nicht kreativ handeln könnten.  

„Unter ihnen (allen Lebewesen) ist es nur dem Menschen eigen, diese Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck zu bringen, sich selbst von Anderen zu unterscheiden und eventuell vor ihnen auszuzeichnen, und damit schließlich der Welt nicht nur etwas mitzuteilen — Hunger und Durst, Zuneigung oder Abneigung oder Furcht —, sondern in all dem auch immer zugleich sich selbst. (…) Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich darstellt. Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.“

Jedes Konzept, welches Homogenität anstrebt, sei es der Nation, der Klasse, der kulturellen Identität, des Stamms, der Religion oder des Geschlechts ist daher ein Konzept, welches Menschen nicht nur unfrei macht, sondern eine Garantie die Spezies Mensch auszurotten.  

Das Narrativ einer homogenen Identität ist für Arendt der Kern jeder totalitären Ideologie. Verschiedenheit soll eliminiert werden. Identitätspolitik füttert den Glauben, dass es homogene soziale Kollektive geben würde. Die Bündelung von Menschen in einem uniformen „Volk“ sei daher das anzustrebende Ziel, was alle Probleme der Verschiedenheit lösen würde.

Arendt ist überzeugt,  dass die Vielheit der Perspektiven für das Überleben in der Welt, die wir bewohnen, unerlässlich ist, und sie bezeichnet Pluralität als das “Gesetz der Erde”.

Diese Grundannahme politisiert sie und fordert einen öffentlichen Raum, in dem Sprechen und Handeln als “acting in concert“, als Politik, im Rahmen einer demokratisch- republikanischen Verfassung,  möglich werden kann.  Denn jedes Handeln bedarf der Pluralität und dient zur Gründung und Erhaltung des politischen Gemeinwesens und schafft die Bedingung für die Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte.

Im Schluss ihres Buches über totalitäre Herrschaft findet Hannah Arendt in einer zweiten menschlichen Konstante Zuversicht. Für sie besteht die zweite Besonderheit der Menschen darin, immer wieder neu anfangen zu können. In den Worten des mittelalterlichen Augustinus: „Initium ut esset, creatus est homo.“ – Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch erschaffen.

„Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität  kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen.“ Oder kurz und knapp in der englischen Ausgabe: „This beginning is guaranteed by each new birth; it is indeed every man.“

Die Menschheit nicht als Gattung, sondern in ihrer Pluralität kann dadurch Fehler korrigieren, da sich mit jeder neuen Geburt eine Chance zur positiven Veränderung ergibt. Diese menschliche Konstante nennt sie Natalität. Natalität ist auch ein Bezugspunkt für politisches Denken. Politik ist nie alternativlos, sondern hat ausgehend von der Natalität immer auch die Möglichkeit neu anzufangen. Mortalität, das Sein zum Tode, ist dagegen der entscheidende Bezugspunkt für philosophisch metaphysisches Denken. Das sprich auch dafür, dass beide Systeme nicht kompatibel sind.

Wenn man dieses Menschenbild teilt, dann muss man immer, auch bei so scheinbar verfahrenen Fällen wie dem Kampf Israels um territoriale Autonomie, versuchen miteinander zu reden und den Hass zu besiegen. Das mag erst nächste oder übernächste Woche möglich sein, aber es ist alternativlos, will man ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern in einer sicheren staatlichen Verfasstheit im Nahen Osten.

Konsequenzen für den Kampf gegen Antisemitismus

Doch dieser Konflikt reicht tiefer, wesentliche Quelle des Konflikts ist der Antisemitismus.

Antisemitismus ist nicht einfach definierbar, aber er zeigt sich als Hass auf Juden, der soweit gehen kann, den Wusch zu haben Juden zu vernichten. Heute wird häufig von unterschiedlichem Antisemitismus geredet, altem, neuen, importierten. Das ist meiner Meinung nach Quatsch. Es gibt nur einen Antisemitismus. Wie die folgenden Definitionsversuche zeigen, lässt er sich häufig nur metaphorisch bebildern.  

  • Jens Bisky am 3.11.23 auf X: Antisemitismus ist wie Hausschwamm und Salpeter in einem. Die Weimarer Republik ging an der Unterschätzung von Antisemitismus zugrunde. Ein Land, das Antisemitismus nicht niederringen will oder kann, sollte seinen Untergang in Betracht ziehen.“
  • Adorno: „Der Antisemitismus ist das Gerücht über Juden.“
  • Sartre: „Wenn es keine Juden geben würde, würde man sie erfinden.“
  • Erfahrungslosigkeit ist für Hannah Arendt der Kern des modernen, völkischen Antisemitismus. „Und diese Erfahrungslosigkeit des Judenhasses, dass es gewissermaßen gar keiner Juden mehr bedurfte, um den Hass loszuwerden, ist es, was den Antisemitismus des zwanzigsten von dem des neunzehnten Jahrhundert unterscheidet.“
  • Oder an einer anderen Stelle, H. Arendt: „Der Antisemitismus wird so genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und sonst nichts.“

Aber Antisemitismus funktioniert dann besonders gut, wenn er in eine Ideologie verpackt wird.   

Das rechte (und linke) Narrativ gegen Elite/ Establishment/ Kapital/ Herrschende zu sein. Begründung: weil das eine Verschwörung gegen die Kleinen/ Normalen ist. Und da kommen „Juden“ immer wieder ins Spiel, sie  werden als Drahtzieher, als Krake hinter den internationalen Finanzströmen, als Weise von Zion, die hinter dem Rücken der Völker global agieren (Globalisten) imaginiert. Das knüpft an die Nazi-Erzählungen vom internationalistischen, bolschewistischen jüdischen Schädling an.

Die zweite, aber immer wieder mitspielende Botschaft ist dann, irgendwann muss auch mal Schluss sein mit der Schuld. („Vogelschiss“ oder aber in der Parole „Free Pelestine from german Guild.“) Dazu gehören aber auch das Hamas-Massaker auf die gleiche Stufe mit dem Holocaust zu stellen. Denn auch das relativiert den Holocaust und entschuldet die deutsche Schuld.

Dem Narrativ des reaktionären politischen Islamismus: Israel ist das „rostige Messers im arabischen Körper“ (Ditib-Chef, Amt für religiöse Angelegenheit, Ali Erbas), welches sich in „From the river to the sea, Palstine will be free.“ äußert und Mobilisierungselement aller islamistisch-terroristischen Gruppen ist. 

Das postkolonialistisch-linke Narrativ über den „Apartheit-Staat“ Israel haut in die gleiche Kerbe. Kolonialismus und Rassismus ist jetzt an allem Schuld und wird auch überall gefunden. Hauptsache es geht gegen „Critical Whiteness“. Extreme patriarchale Frauenunterdrückung, Terror, Homophobie,  und Queerfeindlichkeit werden wenn man die postkoloniale Brille aufhat, selbst von queeren Gruppen als Nebenwiderspruch beiseite gewischt. Ein angeblicher Siedlerkolonialismus und imperialistischer Zionismus ist der postkoloniale  Hauptwiderspruch, Boykott gegen Juden dann analog zu Südafrika die logische Konsequenz. (BDS). Ganz abstrus ist FFF-international, man schlägt sich auf die Seite der fossilen Diktaturen, Hauptsache gegen Juden.

Was heißt das in Bezug auf Gegenstrategien? Hier ein paar Ideen (gern ergänzen):

  • Antisemitismus nicht unterschätzen, weil er so scheinbar unsinnig daher kommt.
  • Empathie zeigen!!!!!!!!!!!
  • Anti-Establishment- Argument einordnen, Nutzen der Demokratie erklären.
  • Radikalen Islam auch hier (Bsp. IZH) ernst nehmen, auch in Demokratieprojekte aufnehmen
  • Postkoloniale Argumentation auf tatsächliche koloniale Geschichte und damit verbunden Rassismus beschränken. Wir brauchen keine neue Welterklärungs-Ideologie.
  • Identitätskonstruktionen als tribalistisches Konstrukt (Wir gegen die) ablehnen. Mir scheint der Begriff des Tribalismus für alle identitätspolitischen Konstruktionen besser geeignet, denn genau darum geht es. Es werden tribes (Stämme) konstruiert und gegen andere tribes in Stellung gebracht. Und unser Schimpansengehirn fühlt sich positiv angesprochen: der fremde Stamm soll abhauen.
  • Erinnerungskultur auf das wesentliche konzentrieren: die Schuld an Gaskammern und Seifenfabrik erneuern und auch Migranten vermitteln.
  • Wieder von vorn anfangen: Zwei Staatenlösung auf der Basis von 1948 (Neuanfang)? , Schluss mit dem Kriegs- und Hasskreislauf
  • Pluralitäts – Menschenbild offensiv vertreten
  • Schluss von “Leg dich nicht mit Zohan an” (Netflix)