Neutralität gibt es nicht – ein Jahr nach dem 24.Februar 2022

Neutralität gibt es nicht – ein Jahr nach dem 24.Februar 2022

22. Februar 2023 1 Von Uli Gierse

Ich gehöre einer Generation an, die davon überzeugt war, dass Europa endlich wirksame Gegenmaßnahmen gegen Kriege gefunden hatte. Das Ende des Kalten Krieges hatte die Idee eines langen Friedens im Rahmen der EU und auf der Grundlage diverser Verträge im Rahmen der OECD, der auf stabilen friedlichen Beziehungen zwischen nunmehr demokratisch gesinnten Nationen beruht, wieder aufgewärmt. Der Eintritt der osteuropäischen Länder in die EU war dafür das sichtbare Zeichen. Und auch das Verhältnis zu Russland schien stabil, die Systemkonkurrenz war vorbei und auch Russland war jetzt ein kapitalistisches Land. Die Putinschen Kriege gegen Tschetschenien, Georgien, Syrien und 2014 gegen die Ukraine schienen das europäische Friedensprojekt nicht wirklich zu stören.

Die Friedensbewegung, die in grauer Vorzeit gegen die NATO-Aufrüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen demonstriert hatte, schien sich hinter dem Rücken der Militärs durchgesetzt zu haben. Im Krieg gegen Serbien, als die NATO den Bosniern zur Hilfe eilte, wurde dieses Peacenik-Gefühl zwar in den Jugoslawienkriegen der 90er kurz erschüttert, aber dieser Konflikt zerriss zwar beinahe die Grünen, blieb aber wegen der Kürze der NATO-Intervention nur eine kleine Episode, die kurze Zeit später durch die Ablehnung der rotgrünen Bundesregierung am zweiten Irakkrieg der Familie Bush teilzunehmen wieder geheilt.

Aber diese Illusionen waren spätestens am 24. Februar 2022 wie eine Seifenblase zerplatzt. Es wurde klar, selbst in Europa haben wir keineswegs mit der Gewalt abgeschlossen.

In mir wich die Ignoranz und Nicht-Wahrnehmung der Wirklichkeit dem Entsetzen und dem Entsetzen folgte die Traurigkeit. Eine anhaltende Traurigkeit darüber, dass Krieg die Regel und Frieden nur eine scheinbare, höchst instabile Erscheinung ist. Daher ist jeder Frieden von heute dazu verurteilt, sich später in eine weitere Zwischenkriegszeit zu verwandeln. Das war keine Zeitenwende, sondern eine Korrektur meines Weltbildes, vergleichbar mit der Wende 1989/90.

Vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine war ich überzeugt, dass mein Sohn, 29 Jahre alt, einen Krieg nicht wirklich „erleben“ müsste. Heute bin ich mir dessen überhaupt nicht mehr sicher, denn die Welt ist in eine Weltunordnung geraten, wo autoritative Staaten, erst Recht die mit Atombomben offensichtlich wieder darauf spekulieren können, ihre Nachbarn zu überfallen  und deren Ressourcen zu klauen.

Was soll man also tun? Schreiben, demonstrieren? Sicherlich, aber wie kann man glauben, dass Petitionen oder Versammlungen ausreichen würden, um die  Invasion eines unabhängigen und souveränen Staates zu stoppen? Da helfen offensichtlich nur Waffen!

Seit einem Jahr denke ich oft an das Jahr 1968 zurück, den Einmarsch der Streitkräfte von fünf Ländern des  Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei. Die Angreifer läuteten mitten im Spätsommer, in der Nacht vom 20. auf den 21. August, das Ende des Prager Frühlings ein. Ich erinnere mich an den passiven Widerstand Zehntausender Prager, die durch die Straßen marschierten, den tschechischen Heldenstatuen die Augen verbanden und die Wegweiser verstellten. Ich war furchtbar beeindruckt. Im Nachhinein verstehe ich, dass die russischen Panzerkolonnen, die dieses Mal in die Ukraine eindrangen, diese ferne Erinnerung wieder aufleben ließen. Und all diejenigen, die jetzt behaupten, man solle sich in diesem Konflikt neutral verhalten und das mit der Forderung nach Verhandlungen kaschieren, bringen mich zur Verzweiflung. 

Ein französischer adliger Schriftsteller der Zeitenwende um 1800, François-René de Chateaubriand, der Goethe Frankreichs und Namensgeber des gleichnamigen Steaks, hat seine Erfahrung mit Neutralität so auf den Punkt gebracht:

„Die Neutralität, die alles erlaubt, ist eine kommerzielle, käufliche, interessierte Neutralität: Wenn die kriegführenden Parteien ungleich an Macht sind, ist diese Neutralität ein wahrer Hohn, eine Feindseligkeit gegenüber der schwachen Partei, so wie sie eine Kumpanei mit der starken Partei ist. Es wäre besser, sich mit dem Unterdrücker gegen den Unterdrückten zu verbünden, denn dann würde man zumindest der Ungerechtigkeit nicht noch Heuchelei hinzufügen.“ 

Chateaubriand formulierte das, als Kriege noch eher militärischen Ritualen folgten, der Krieg Putins gegen die Ukrainer:innen ist ein Vernichtungskrieg nach Vorbild der Nazis. Ich möchte nur an die 10.000 verschleppten Kinder erinnern. Die Haltung der Partei Die Linke, die angeblich für die Schwachen und Unterdrückten da ist, ist da nur noch zum Kotzen. Der ideologische Antiamerikanismus macht eine Konfliktfähigkeit gegen Unterdrücker und Mörder offensichtlich unmöglich. So eine Linke braucht niemand, ja, man muss sich sogar dafür schämen.

Slava Ukraini!