Russland – Quelle der Vergebung

5. Mai 2022 1 Von Uli Gierse

Timothy Snyder im Gespräch mit Jagoda Marinić über die deutschen Probleme mit Russland und der Ukraine

In einem denkwürdigen Podcast Ukraine- Spezial in der Reihe „FREIHEIT DELUXE“ von Jagoda Marinić  kritisiert der amerikanische Historiker Timothy Snyder wesentliche Narrative der deutschen Russlandpolitik.

Gleich zu Beginn des Gesprächs stellt Snyder die deutsche Unschuld an der Eskalation des russischen Krieges gegen die Ukraine, die sich zum Beispiel in dem Lamento Steinmeiers “Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.”[1] ausdrückt, in Frage.

Nach Snyder ist die Behauptung falsch, jeder hätte diesen Fehler machen können. Er ist sich sicher:  „Nur Deutsche können diesen Fehler gemacht haben.“[2] „Sie hätten den Faschismus in Russland sehen müssen. Sie hätten diesen Krieg kommen sehen müssen. Doch sie taten es nicht.“  Warum?

Es sei ein speziell deutscher Fehler, der mit einer speziellen Interpretation der Ostpolitik in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren verknüpft sei. Die beiden

ersten Fehleinschätzungen Russlands hätten mit der deutschen Verarbeitung des Holocaust zu tun.

Fehler Nr. 1: Die von ihm durchaus positiv bewertete deutsche Verarbeitung des Holocaust sei auf einem Auge blind. Sie beschränke sich fast ausschließlich auf die deutschen Täter. Dadurch kam der Eindruck auf, dass nur die Deutschen daran beteiligt waren. Und wenn auch von nicht-deutschen Tätern die Rede war, denn konzentrierte man sich das auf die Menschen aus den Ländern, die von den Deutschen besetzt worden waren. Snyder redet nicht von „besetzt“ wie im deutschen Diskurs, sondern von denen, die kolonisiert wurden.

Die russischen Kollaborateure werden komplett ausgeblendet, obwohl deren Beteiligung an den Verbrechen der Nazis nach Snyder etwa genauso groß waren wie die der Polen, Litauer oder Ukrainer. Die Russen werden geschont.

Fehler Nr.2:  Es wird die sowjetische Beteiligung am Zustandekommen des Zweiten Weltkriegs ausgeblendet. Für Snyder hat die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg zusammen mit Nazi-Deutschland begonnen. Im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 wurde eine Teilung Polens zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich vereinbart. Dies war die Voraussetzung für den deutschen Überfall auf Polen am 1.9.1939.

Da die russischen Verbrechen ausgeblendet worden seien, sei die Ostpolitik[3] der SPD unter Willy Brandt oder Helmut Schmidts davon motiviert worden, von der Opfernation Russland über die Zusammenarbeit Vergebung zu bekommen.  Der Verhandlungspartner der deutschen Regierungen damals war der Nachfolger Chruschtschows Leonid Breschnews als Generalsekretär der KPdSU. Diesen als Quelle der Vergebung anzusehen, sei zwar politisch verständlich, doch man habe diesen Aspekt zu ernst genommen, „denn natürlich war die Sowjetunion auch eine imperiale Macht“. In Deutschland betrachtete man die UdSSR aber als Quelle der Vergebung.

Fehler Nr. 3: In Deutschland habe man vergessen, dass der Krieg auch ein Kolonialkrieg war. „Es war ein Kolonialkrieg Deutschlands gegen die Sowjetunion nach 1941 um die Ukraine.“

Und es ging im Zweiten Weltkrieg von Anfang an um fossile Rohstoffe. In den Jahren 1939 bis 1941 kaufte das Deutsche Reich sowjetisches Öl und Gas, um damit den Krieg an der Westfront führen zu können. Und dann ab 1941 versuchen die Deutschen die Rohstoffe, Öl aus Aserbaidschan Land für deutsche Bauern in der Ukraine zu erobern.  Im Krieg mit Russland ab 1941 ging es territorial hauptsächlich um die Ukraine und um die Ölquellen in Aserbaidschan. Die Vernichtung der Juden im Osten sei deshalb auch Folge dieser territorialen Kolonialisierungspolitik, dem Krieg um Ressourcen,  nicht deren Ursache, gewesen. In der deutschen Ostpolitik kam die Ukraine dann auch nicht vor, sie wurde weiter als koloniales Objekt betrachtet. Subjekt des Geschehen waren wie immer nur Deutschland und Russland. Ebenso wenig sei der historische Zusammenhang zwischen  Weltkrieg und Kohlenwasserstoff in der Ostpolitik reflektiert worden. Und auch später nicht: „Als Deutschland aus der Atomenergie ausstieg, hat niemand das mit der Geschichte der Kohlenwasserstoffe im Osten in Verbindung gebracht.“ Der Ausstieg aus der Kernenergie sei Außenpolitik, sei der Einstieg in die Gasabhängigkeit gewesen, ebenso die Zustimmung wo Nord-Stream II. Zu letzterem sagte er noch, die Zustimmung zu Nord Stream II nach dem ersten Überfall auf die Ukraine sei für jeden ein Rätsel, außer für die Deutschen. „Die deutsche Außenpolitik sollte die Ukraine nach der russischen Invasion (2014) unterstützen, aber die Deutschen haben den Russen sofort erlaubt, diese Pipeline um die Ukraine herum zu bauen.“[4]

Für Gerhard Schröder sei die Abhängigmachung von russischem Gas die perverse Art und Weise der Wiedergutmachung an Russland. Der Kauf von Erdgas sei ein Akt des Vergessenmachens dafür,  dass Deutschland einen Krieg gegen Russland geführt habe.

Grundsätzlich stellt Snyder fest, dass man mit dem Kauf von Rohstoffen ein Land nicht zivilisieren oder eine Volkswirtschaft transformieren könne, weil bei diesen Produkten der Reichtum, der aus Kohlenwasserstoffen gewonnen wird, fast immer in den Händen weniger Menschen bleibt. Übersetzt: Wandel durch Rohstoffhandel ist Unsinn.

Und in diesem speziellen Fall sei das Putin-Regime ein kohlenstoffbasiertes Regime. „Wenn man also die Entscheidung trifft, von russischem Gas abhängig zu sein, bedeutet das die Entscheidung dieses Regime zu unterstützen.“

Jagoda Marinić fragt ihn dann nach seinem oben dokumentierten Tweed vom 20.4.2022, in dem er schreibt:

30 Jahre lang haben die Deutschen die Ukrainer über Faschismus belehrt. Als der Faschismus aktuell tatsächlich kam, haben die Deutschen ihn finanziert. Und die Ukrainer starben im Kampf gegen ihn.

“Sagen wir es so, es ist völlig akzeptabel, Polen, Litauen und die Ukraine zu kritisieren.“ Er habe das auch gemacht. Aber es bestehe ein seltsames Missverhältnis darin, die extreme Rechte in der Ukraine zu kritisieren, die bei den letzten Wahlen nie mehr als 3% erreicht habe und die nicht an der Regierung beteiligt sei. Die bei Weiten nicht so stark sei wie deutsche Rechtsextreme und weniger wichtig als die Rechtsextremen in den deutschen Nachbarländern einschließlich Frankreichs. In den deutschen Medien habe man aber, wenn es um die Ukraine ging, hauptsächlich über die kleine Gruppe von Rechten geredet anstatt darüber, wie es kommen konnte, das ein Mitglied einer ethnisch traditionell unterdrückten Gruppe angehört zum Präsidenten mit 73% der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde. Die Ukraine habe einen jüdischen Präsidenten, das wäre in Deutschland oder den USA nicht möglich.

Und obwohl der russische Faschismus in der intellektuellen, moralischen und politischen Welt viel gewichtiger ist, da er ständig im russischen Fernsehen eine Stimme bekommt, wird darüber in Deutschland vor dem Krieg nicht berichtet.  Und Putin sei sein größter Förderer.

Man muss den Ukrainern zuhören, die sprechen schon seit langem über den russischen Faschismus, deshalb wehren sie sich auch so stark.

Später bekräftigt Snyder diesen Gedanken noch, indem er klar stellt:  Erstens geht es ums Zuhören derjenigen, die angegriffen werden. Und zweitens geht es um die Souveränität. Und dann würde klar, dass die Ukrainer auch dann weiterkämpfen würden, wenn Deutschland oder andere ihnen keine Waffen mehr liefern würden.

„Sie werden trotzdem kämpfen, und zwar aus dem Gründen, die sie gut verstehen, dass dies ein Vernichtungskrieg ist. Dies ist ein Krieg, der darauf abzielt, die ukrainische Nation als solche zu zerstören.“

Die einzige Möglichkeit diesen Krieg zu beenden, ohne dass ganz Europa, aber zuerst Moldawien, die baltischen Länder und Polen unterdrückt werden, ist wenn die Ukraine diesen Krieg gewinnt.

„Aber wenn man diesen Krieg im Mai oder Juni hinter sich bringen will, muss man sich Gründe einfallen lassen, warum man die Ukrainer nicht bewaffnen will.

Es gibt noch weitere Themen in diesem Gespräch wie die Frage nach einem möglichen Atomkrieg, nach dem ideologischen Hintergrund des russischen Faschismus, nach dem Freiheitsbegriffs Putins und von Timothy Snyder, die diesen Beitrag zu lang machen würden. Vielleicht schreibe ich dazu noch in den Kommentaren.

Was bleibt, ist die Aufforderung Snyders an die deutsche Politik und Geschichtswissenschaft, sich intensiver mit dem Thema fossile Rohstoffe, Zweiter Weltkrieg, Ostpolitik und Nord Stream II zu beschäftigen. Was mich auch elektrisiert hat, war die These Snyders, dass nicht die Gasimporte die Reaktion auf den Atomausstieg waren, sondern umgekehrt, dass der Atomausstieg den Einstieg in die Gasimporte aus Russland bedeutet hat. Das auch das eine geostrategische Frage war.


[1] Beispiel ist von mir

[2]  Zitate Snyders nach dem Skript des Podcasts, von mir übersetzt. https://download.hr2.de/podcasts/freiheit_deluxe/ukraine-spezial-100.pdf…

[3] „Ostpolitik“ ist übrigens bei Snyder ein deutsches Lehnwort

[4] Und da wundert sich noch jemand, dass Steinmeier nicht sonderlich beliebt ist in Kiew.