Russlands imperiale Ziele

12. Juni 2022 1 Von Uli Gierse

Diese Zeitenwende ist eine Zäsur

Für das Verständnis der Politik Putins ist es wichtig zu begreifen, dass sein Neoimperialismus nicht neu ist, sondern Teil der russischen Geschichte.

Im Originalton Putins klingt das dann so: [1]

 „Um irgendeine Art von Führung zu beanspruchen – ich spreche nicht einmal von globaler Führung, ich meine Führung in jedem Bereich – sollte jedes Land, jedes Volk, jede ethnische Gruppe ihre Souveränität sicherstellen. Denn es gibt kein Dazwischen, keinen Zwischenstaat: Entweder ist ein Land souverän, oder es ist eine Kolonie, egal wie die Kolonien heißen.“

Putin vergleicht sich mit Zar Peter dem Großen, der vor 350 Jahren in einem 21 Jahre dauernden Eroberungskrieg gegen Schweden u.a. das Gebiet des heutigen St. Petersburg, Putins Geburtsstadt, eroberte, in Putins Deutung zurückholte. [2]

Nach Putin gibt es nur diese imperialistische Sicht auf die Welt, entweder ist man Imperium oder man ist Kolonie.

Dazu lohnt es sich die Kolonialgeschichte Russland anzusehen. Angefangen von den Kiewer Rus im 13. Jhdt. bis 1991 verstand sich Russland immer als ein großes Imperium, welches bemüht war sich seine Nachbarländer anzueignen. [3] Diese Sichtweise wurde in der Zeit der Sowjetunion von der Linken im Westen von der obersten Priorität des antiimperialistischen Kampfes gegen des US-Imperialismus überdeckt und nicht wahrgenommen. Doch was heißt Kolonialismus überhaupt?

«Kolonialismus» in der Umgangssprache meint Verschiedenes: Die Eroberung der Azteken und Inka (beides ihrerseits Kolonialreiche) durch Spanien und Portugal zurzeit von Leonardo da Vinci. Den Handel britischer, französischer oder niederländischer Privatgesellschaften mit Kolonialwaren und Sklaven ab der Zeit von Isaac Newton. Die Verdrängung ortsansässiger Völker durch britische Siedler in Nordamerika oder französische in Algerien zurzeit von Karl Marx. Die durch aufgeklärte Staaten angeordneten imperialistischen Eroberungen in Afrika oder Asien zurzeit von Claude Monet.

Hinzu kommt der Binnenkolonialismus der Großreiche der Osmanen, des Zarenreichs, der Sowjetunion sowie das Vasallenstaat-System des kaiserlichen China, welches seine Sklaverei erst 1909 abgeschafft hatte.

«Den» Kolonialismus gibt es nicht, dafür verschiedene Arten der Fremdbestimmung, mit einer Gemeinsamkeit: Militärisch und organisatorisch überlegene Staaten haben regelmäßig weniger fortgeschrittene unterworfen und ökonomisch ausgebeutet.

Russland war Anfang des 20. Jahrhunderts die Nummer 3 der größten Kolonialreiche, nach dem Britisch Empire und dem Monogenreich im 13./14. Jhdt.

Und mit dem Zusammenbruch 1991 erklärten folgende Teile der Sowjetunion ihre Unterabhängigkeit und Souveränität:

 

  Litauen: 11. März 1990

 Estland: 30. März 1990

 Lettland: 4. Mai 1990

 Armenien: 23. August 1990

 Transnistrien: 2. September 1990

 Georgien: 9. April 1991

 Ukraine: 24. August 1991

 Belarus: 25. August 1991

 Abchasien: 25. August 1991

 Moldau: 27. August 1991

 Kirgisistan: 31. August 1991

 Usbekistan: 1. September 1991

 Republik Arzach: 2. September 1991

 Tadschikistan: 9. September 1991

 Aserbaidschan: 18. Oktober 1991

 Turkmenistan: 27. Oktober 1991

 Tschetschenische Republik Itschkerien: 1. November 1991

 Gagausien: 19. November 1991

 Südossetien: 28. November 1991

 Russland: 12. Dezember 19911)

 Kasachstan: 16. Dezember 1991

Wenn man den verlorenen gegangenen imperialen Status für Russland wieder anstrebt, ist es logisch, dass zuerst die Kontrolle über die Ukraine und Belarus erfolgen muss.  

Aus Sicht eines russischen Imperialisten war der 24.2.2022 insofern ganz normales Weltherrschaftsstreben, eine Zäsur war der Tag des Überfalls auf die Ukraine für die europäische Nachkriegsordnung.

Die UN-Charta von 1945 und die Grundsätze der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975[4], die eine Zukunft von souveränen Staaten, mit unantastbaren Grenzen und freien Bürgern, deren Grundrechte garantiert werden, beschrieb, wurde von Russland auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen.

Eine Zäsur bezeichnet in der Geschichtswissenschaft einen markanten Einschnitt, also die Grenze zwischen zwei Epochen. 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien es so, dass die Geschichte der Imperien definitiv zu Ende sei. Nachdem sich dann auch die USA 2003 mit dem Irakkrieg in dem Versuch, die Welt nach ihren Vorstellungen umzumodeln, eine blutige Nase geholt haben, war die Hoffnung auf eine multipolare Welt von souveränen Staaten berechtigt. Doch Russland wie China spielten schon in der Folge offen mit dem Gedanken ihr altes Imperium wiederherzustellen. Mit dem erneuten Überfall der Ukraine durch Russland ist nun die europäische Friedensordnung zerstört worden. Verträge interessieren Putin offensichtlich nicht. Grenzen sollen machtpolitisch wieder zur Disposition gestellt werden können. Russland beansprucht, sein altes Imperium wiederherzustellen. Das hat gravierende Folgen:

  1. Die NATO, jüngst noch als hirntot bezeichnet, erlebt eine Revitalisierung. Jetzt wollen sogar die neutralen Schweden und Finnen betreten.
  2. Landesverteidigung war in den europäischen NATO-Staaten, vor allem in Deutschland, keine Aufgabe, die Priorität hatte. Man fühlte sich von keinem Feind militärisch bedroht. Hektisch wird nun nachgerüstet, die Bundeswehr soll ihrem eigentlichen Auftrag der Landesverteidigung wieder nachkommen können.
  3. Waffenlieferungen in Kriegsgebiete sind sogar für die Schweiz keine Unmöglichkeit mehr. Die Bundesregierung will die Ukraine auch mit Waffen gegen den russischen Aggressor unterstützen. Laut Bundestagsbeschluss auch mit schweren Waffen.
  4. Die atomare Teilhabe Deutschlands an den in Deutschland stationierten US-Atombomben ist kein Thema mehr.
  5. Bewaffnete Drohnen sind selbst in der SPD und bei den Grünen kein Thema mehr.

Doch die militärischen Folgerungen aus diesem Krieg Russlands sind nur ein kleiner Teil der historischen Zäsur. Nach Timothy Snyder kommt noch etwas dazu: Weil die Ukrainer sich wehren, ist überhaupt erst eine Diskussion über Russland und Kolonialismus möglich. (Siehe Kommentar)

Wesentlich gravierender sind die politischen und ökonomischen Folgen der imperialen Ansprüche Russlands und seines Bündnispartners China[5].

Was macht eigentlich ein Imperium aus?

Herfried Münkler definiert es so: „Imperien sind mehr als große Staaten; sie bewegen sich in einer eigenen Welt. Staaten sind in einer Ordnung eingebunden, die sie mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie daher nicht allein verfügen. Imperien dagegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen selber abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos, der für sie eine stete Bedrohung darstellt, verteidigen müssen.“ [6]

Narrative wie „Achse des Bösen“ oder „Barbaren“, „Nazis“, „Ungläubige“, „Ungeziefer“, „Abschaum“ o.ä. werden dann gegen DEN FEIND mobilisiert, das ist nicht neu, sondern war schon immer so. Fake News und imperiale Ansprüche bedingen sich. Denn zu einem Imperium gehört die imperiale Mission, die Ordnung gegen die Unordnung, das Gute gegen das Böse zu verteidigen und damit eine Rechtfertigung für die Errichtung eines Weltreiches. (SIEHE AUCH LINK)

Entweder soll die Zivilisation oder der rechte Glaube (Kolonialisierung Amerikas, Afrikas, Asiens) verbreitet werden oder es geht um die weltweite Durchsetzung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, von Werten oder rassistischen Narrativen (Ariertum). Immer geht es um die Macht über andere Völker oder Staaten. Direkt unterdrückend wie in den kolonialistischen Imperien oder indirekt steuernd als eine eher hegemoniale Macht. Deshalb ist Europa, die EU und vor allem auch Deutschland von diesem russischen Krieg massiv betroffen, denn das Modell als Juniorpartner dem Hegemon USA die militärische Verteidigung zu überlassen und sich aufs Geschäftemachen zu konzentrieren ist vorbei. Aktuell hat man noch Glück gehabt, dass der US-Präsident Biden heißt und nicht Trump. Das kann aber schon Ende des Jahres wieder in Richtung einer trumpistischen Linie des „Amerca first“ umschwenken.

Bis zum 24.2.2022 war es uns egal mit wem wir Geschäfte machten, Hauptsache es entstand ein Win-Win-Deal. Vereinfacht gesagt: die industrielle Produktion in einem Hochlohnland wie Deutschland braucht billigere Energie als die Konkurrenz, um konkurrenzfähig zu sein. Billiges russisches Gas, Öl und Kohle machten z.B. für BASF die Produktion von Grundstoffen in Deutschland erst rentabel.

Russland ist jetzt durch den Überfall auf die Ukraine wahrscheinlich raus aus dem Geschäft. China noch kein wirkliches Thema.

Der Trend wird in die Richtung neue Imperien und deren Satelliten- oder Vasallenstaaten oder Kolonien gehen, wenn dieser Versuch Russlands das alte Imperium wieder zu errichten, nicht jetzt in der Ukraine gestoppt wird.

Russland wird sich nicht mit dem Donbass begnügen, sondern seine Ziele in Richtung der ganzen Ukraine und dann der Wiederherstellung des russischen Reichs zumindest in den Grenzen von 1990. Die Nachbarstaaten wie Polen, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, der Westbalkan werden aus vom russischen Imperium abhängige Länder begriffen. In der DUMA läuft schon der Antrag, die Anerkennung der staatlichen Souveränität von Litauen aus dem Jahre 1991/1994 wieder rückgängig zu machen.  

Wenn man aber ein multipolares Miteinander von souveränen Staaten will, und nicht selbst in einen NATO-Bündnisfall hereingezogen werden will, muss man die Ukraine schnell auch mit Panzern versorgen, damit der Traum vom russischen Imperium auch ein Hirngespinst bleibt.    

Oder in den Worten Ralf Fücks:


[1] Rede vor jungen WissenschaftlerInnen am 9.6.2022: A readable Thread by @DimitriNabokoff Says Natürlich fiel es uns auch zu, – UnrollThread.com

[2] „Peter der Große führte 21 Jahre lang den Großen Nordischen Krieg. Auf den ersten Blick befand er sich im Krieg mit Schweden und nahm ihm etwas weg. Er nahm nichts weg, er holte sich etwas zurück. So wars. Die Gebiete rund um den Ladogasee, wo St. Petersburg gegründet wurde.“

[3] Siehe dazu ausführlich Ralf Fücks in einem Vortrag an der Uni Kassel: Die langen Linien des russischen Imperialismus – Russland verstehen und in einem Essay von Wladislaw Inosemzew, einem russischen Professor für politische Ökonomie und scharfen Putin Kritiker, der im Spiegel den originellen Vorschlag machte, alle Sanktionen gegen die Auslieferung von Putin und seinen Gefolgsleuten nach Den Haag aufzuheben.  https://www.the-american-interest.com/2017/06/29/russia-last-colonial-empire/    

Demnächst eine Chronologie hier.

[4] Schlussakte von Helsinki OSZE: untitled (osce.org)

[5] Dass das Bündnis zwischen China und Russland stabil ist, beweist China jüngst (11.06.2022) durch Störungen der chinesischen Delegation während der Rede Selenskys auf der Sicherheitskonferenz in Singapur

[6] Herfried Münkler: Imperien, Berlin 2005, S. 8