Der Neoliberalismus spaltet Europa – Brexit und Truss-Desaster

15. Dezember 2022 0 Von Thomas Ertl

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Der US-Präsident Joe Biden ließ mit ungewohnten Statements aufhorchen, die sich gegen die Wirtschaftspolitik der von Liz Truss geführten UK-Regierung richteten.[1] Biden distanzierte sich vom „Trickle Down“-Paradigma. Dazu weiter unten.

Liz Truss holte die bereits von Ronald Reagan und Maggi Thatcher favorisierte Methode der Wirtschaftsbelebung durch Steuersenkungen und Kürzung der Sozialausgaben aus der Mottenkiste. Das neoliberale Credo folgt der konservativen Schule und Ideologie bekannter Ökonomen wie Friedrich August von Hayek und dessen Schüler Milton Friedman. Letzterer war nicht ganz auf Hayeks Linie, denn Monetarist Friedman hielt eine Geldmengensteuerung gemäß Wirtschaftswachstum für geboten: ein vergleichsweiser sanfter Eingriff durch unabhängige Notenbanken wie die FED.

Im Kern geht es beim Neoliberalismus um die Zurückdrängung des Staates. Deshalb auch „Neo“, weil viele Staaten wie auch die USA Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik bis in die 1970er Jahre übernommen hatten und Staaten zu immer relevanteren Akteuren avancierten. Genau darin sehen die Neoliberalen jedwedes Desaster und wollen die Staaten in seine ursprüngliche Rolle eines „Nachwächters“ zurückdrängen, der nur der Einhaltung von Regeln und des Schutzes von Privateigentum dienen soll. Angesichts der multiplen Krisen der vergangenen Jahre wirkt dieses Ansinnen wie aus der Zeit gefallen. Auch UK unter Boris Johnson musste viel Staats-Geld in die Hand nehmen, um die Krise zu mildern bzw. die Briten zu besänftigen. Insofern wurde das neoliberale Gemüt schon stark strapaziert. Um aus dieser Misere, also den Staat möglichst zu „schrumpfen“, herauszukommen, muss die Wirtschaft wachsen und die Neoliberalen setzen da ganz auf die endogenen Kräfte des Marktes.

Der Staat in der modernen Marktwirtschaft liegt zwischen Akteur und Bürokratie

Ohne Interventionen und Gegensteuerung der Staaten hätten wir heute eine dramatische globale Arbeitslosigkeit und Armutsentwicklung. Das Wachstum wäre in einer ebensolchen Dimension eingebrochen. Das ist Common Sense. Aber die Neoliberalen geben keine Ruhe.

Der Neoliberalismus ist eine extrem interessensgetriebene Ideologie des ökonomischen Egoismus und in dieser Eigenschaft auch nicht auszutreiben. Die Staaten und dazu zählen letztlich auch supranationale Einrichtungen wie die EU liefern beständig Nahrung für neoliberale Attacken. Es geht dabei um ineffiziente und kostenintensive Abläufe der Bürokratien. Es dauert alles sehr lang und vielfältige Institutionen blockieren sich gegenseitig oder bremsen relevante Prozesse. Die endlosen Diskussionen um verschleppte Digitalisierung, Änderungen der Bildungssysteme und energetische Umsteuerung belegen diesen Missstand. Auseinandersetzungen um die richtigen Maßnahmen kosten Zeit und mentale Energie und sind dennoch integraler Bestandteil liberaler Demokratien. Gleichsam liegt in der Ausdehnung dieser Prozesse ein gefährlich schmaler Grat, der durch die Verlangsamung und Blockaden sichtbar wird. Und tatsächlich ist es in Deutschland die Bürokratie, die das private Engagement der „grünen“ Industrie von Windrädern und Photovoltaikanlagen ausbremst. Der Staat verselbständigt sich zu einem „Monster“ aus Vorgaben, Formular-Orgien und Kontrollinstanzen.[2] Die Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen dauern durchschnittlich 4 bis 5 Jahre und füllen 50 Aktenordner für eine Anlage. In Sachsen sind es gar Prozeduren von 7 bis 10 Jahren.[3]

So verkommen auch die vielen Papiere zum Klimaschutz und anderen wichtigen Aufgaben zu papiernen Hülsen ohne Handlungen. Ein ähnliches Problem bahnte sich in der Unterstützung existenzbedrohter Menschen und Unternehmen angesichts der hohen Energiepreise an. Es ist psychologisch überaus schädlich, wenn die Bürger auf nicht bezahlbare Rechnungen schauen, deren Eintreffen bereits beim Einmarsch Russlands in die Ukraine wahrscheinlicher wurden. Es macht(e) sich teilweise Panik bei Produzenten und Konsumenten breit, die man hätte verhindern können.

Das schürt nicht nur Mistrauen, sondern auch zunehmend rechte Opposition, die sich schon in der Corona-Pandemie formiert hatte. Am Ende wird der Staat verantwortlich gemacht, weil die Gegenmaßnahmen nicht rechtzeitig wirken. Es ist nicht der Mangel an Erkenntnissen im Regierungsapparat, sondern das Problem der langsamen Umsetzung, die eine Staatsskepsis befördern. Die neoliberalen Kräfte nutzen diesen Umstand für eine grundsätzliche Ablehnung staatlicher Intervention in Märkte oder gar Fürsorge und verweisen nebulös auf unbelegte Lösungen durch die private Wirtschaft und die omnipotente Kreativität technologischer Innovationen. Dabei wird dann auch unterschlagen, dass Innovationen auf staatlicher Infrastruktur und Staatsausgaben basieren.

Es sind Staaten, die den überwiegenden Teil der Grundlagenforschung finanzieren und auch bei Innovationsinvestitionen noch großen Anteil haben. Aktuell ist in Deutschland die Entwicklung der MRNA-Impfstoff zu nennen. Die Ausgründung aus der Universität Mainz und die über 300 Mio. EUR Förderung hatten den Weg geebnet, um Covid-19 effektiv bekämpfen zu können. Gesundheit, Landesverteidigung und Luftfahrt waren stets Sektoren für Forschung und Entwicklung unter staatlicher Führung. Dazu zählt auch das Internet als Produkte US-militärischer Entwicklung in den später 1960er Jahren, seinerzeit „Arpanet“ genannt. Auch die Nanotechnologie ist außerhalb der privaten Wirtschaft in staatlichen Forschungszentren entwickelt worden.[4] Die Rolle des Staates ist und war weit mehr als Hüterin von Rahmendbedingungen.

Der internationale Wettbewerb ist auch eine Standortkonkurrenz. Da kann der britische Weg der Steuererleichterungen und Deregulierung gegangen oder eine modern-industrielle Strategie verfolgt werden. Das „Mehr“ an Staat birgt indes auch ein „Mehr“ an Bürokratie. Die Gelder sollen sinnvoll und gerecht verteilt werden und diese Prozesse unterliegen Lobbyismus und sozialen Kräftemessen. Die Bürokratie soll diese Problematik lösen und läuft Gefahr, in ein verselbständigtes „Monster“ zu mutieren, dass zusätzlich Korruption anheimfällt. Die Verhaftung der griechischen EU-Parlaments-Vizepräsidentin Eva Kaili am 9.12.2022 ist ein unseliger Höhepunkt der EU-Dysfunktionalität. Der Vorwurf: Bandenmäßige Korruption und Geldwäsche. Das arabische Emirat Katar, Gastgeberland der Fußball-WM 2022 und Anteilseigner von einigen Dax-Konzernen (VW/Siemens/Deutsche Bank/Hapag Looyd), soll involviert sein, um das Landes-Image aufzubessern.[5] Die „gute EU“ vergibt Gelder an strukturschwache Regionen und setzt sich für den Klimaschutz ein, die „schlechte EU“ ist korrupt und träge.  

Was ist die Alternative?

Es stellt sich die Frage nach der Alternative. Die eine Option ist das Pushen der Entbürokratisierung und die andere Option ist der Exit. Damit wären wir beim Brexit als eine Antwort auf die Ineffizienz der EU-Abläufe. Die Neoliberalen in UK nahmen die offenkundige (bürokratische) Schwäche der EU zum Anlass, die EU zu verlassen und damit auch die Vorteile dieses Zusammenschlusses zu verlieren. Leere Regale in den Supermärkten und Verlust vieler ausländischer Arbeitskräfte waren und sind die folgenschweren Konsequenzen dieses Exits. Wahrscheinlich hat auch ein gewisser mit der EU verbundener Bürokratieabbau stattgefunden. Vielleicht wurde aber auch nur ein Teil formaler Prozesse an die Landesgrenzen verschoben, wo sich die LKWs stauten. Der Brexit ist für Europa und UK ein brutaler Rückschlag, denn UK wäre ein wichtiges Element in der positiven Kritik und Umgestaltung der EU.

Der Hang zur illusionären Rückkehr des globalen United Kingdom war mit der Einordnung in die EU stets schwer vereinbar. Der Brexit war auch eine Frage der nationalen Identität. Mit dem Rückgang des EU-Ausländeranteils wurde eben diese nicht gestärkt, sondern die Schwäche eines deindustrialisierten UK offengelegt. Die Verzahnung zum EU-Ausland war nie sichtbarer, denn UK ist ein Import-Land, das ganz und gar vom Finanzplatz der City of London getragen wird. Wird der Finanzplatz geschwächt, wankt das nationale Geschäftsmodell lukrativer Dienstleistungen qua fremden Geldes.

Rückbau des Staats soll die Antwort sein

Auf die Probleme des Brexits wurden dann noch die Covid-19-Pandemie und die aktuelle Energiekrise aufgetürmt. In dieser für Staaten extremen Anforderung blies Liz Truss zum Abbau des Staates in alter neoliberaler Manier. Es kostete sie das Amt der Premierministerin, rekordträchtig nach nur knapp sieben Wochen[6], weil die „freien Märkte“ diesen „Liberalismus“ strikt ablehnten, was weiter unten erläutert wird.  Liz Truss Pläne mit dem verniedlichten Namen „Minibudget“ sahen wie folgt aus:

  • Spitzensteuersatz von 45 auf 40 % senken in einer Phase größter Ausgaben für Energiekosten-Kompensationen, Post-Covid-19- und Brexit-Problemen.
  • Ebenso sollte die von der EU verhängte Boni-Deckelung, die im Finanzdistrikt der City of London besonders unbeliebt ist, aufgehoben werden. Der Finanzplatz sollte gestärkt werden.
  • Die von Boris Johnson geplante Erhöhung der Körperschaftsteuer wurde storniert.
  • Die Kürzung der Sozialausgaben wurde auf die neoliberale Agenda gesetzt.[7]
  • Sozialversicherungsbeiträge und Grunderwerbssteuern sollten ebenfalls gesenkt werden.

Mit anderen Worten: Die Staatseinnahmen- und ausgaben würden massiv zurückgehen und der Vorteil läge vor allem bei höheren Einkommensbeziehern.[8] Die geplante Steuersenkung als Kern der Programmatik sollte eigentlich Stärke vermitteln. Das wäre unter den Bedingungen prosperierender Wirtschaft auch der Fall, aber im Kontext von Energiekrise, Covid-19 und Brexit war die Ankündigung purer Voodoo oder auch Angriff auf soziale Einrichtungen. Eine Umverteilung von Arm zu Reich als Wirtschaftsstimulanz hatte noch niemals funktioniert. Die „Märkte“ – gemeint sind stets die Finanzmärkte – straften diese Pläne ab. Im Ergebnis kollabierte das Britische Pfund, denn diese Staats-Schwächung kam einer Ausladung ausländischen Geldes gleich: Flucht aus dem Britischen Pfund, denn die Handlungsspielräume würden kleiner werden und das gewünschte Wachstum ausbleiben. Die Finanzströme kennen als Ziel nur Wachstum, wenn sie nicht staatlich gelenkt werden. Ohne einen handlungsstarken Staat ist in der Krise kein Wachstum zu stimulieren. Vielmehr schreitet die Spaltung der Gesellschaft voran, was sich negativ auf die Produktivität auswirkt.    

Die folgende Grafik illustriert den Verfall des britischen Pfunds gegen den USD zum Zeitpunkt der Ankündigung der Truss-Pläne. Der Währungsmarkt schickte das Pfund Sterling adhoc in den Keller und reziprok verloren die britischen Staatsanleihen (Gilts[9]) an Attraktivität, so dass die Renditen als inverser Wert zur Substanz der Staatsanleihen in die Höhe schossen. Mit anderen Worten: Die Verzinsung der Staatsanleihen muss den labilen Vermögenswert eben dieser kompensieren, weil die Nachfrage nach diesen „Schrottanleihen“[10] schlagartig nachließ. Eine Erhöhung der Rendite heißt wiederum, dass sich die Refinanzierung der Staatsausgaben verteuert.

Das Problem der Flucht aus dem Pfund Sterling löste die Bank of England (BoE) mit Aufkauf der nun unbeliebten Gilts und einer ruckartigen Anhebung der Leitzinsen auf 3 %. So konnte sich das Pfund-Sterling erholen und die Attraktivität britischer Staatsanleihen wieder verbessert werden. Die Rendite der Anleihen, also der Risikoaufschlag für Verlust der Wertstabilität, gingen wieder zurück. Das Vertrauen in die britische „Vernunft“ kam teilweise zurück, als die Maßnahmen der BoE griffen und die Ära „Truss“ beendet wurde. Das war den „Märkten“ dann doch zu „neoliberal“.  Rishi Sunak hat nun übernommen und verteidigt die Reste des Wohlfahrtsstaates, weil auch die britische Gesellschaft nicht alles hinnehmen wird.[13] Die Erosionen der Anleihe-Kurse brachten schon die beteiligten Pensionfonds britischer Arbeitnehmer in Stellung, denn mit dem Verfall von Pfund Sterling und den Kursverlusten der britischen Gilts verlor diese Form der Altersvorsorge die notwendige Sicherheit. Die bereits skeptischen Tory[14]-Fans würden ganz von der Fahne gehen.   

Das Muster des „Minibudgets“ ist bekannt und trägt das „Trickle Down“-Paradigma in sich, was besagt, dass auch die unteren Einkommensschichten partizipieren, wenn die Upperclass weniger Steuern zahlt. Eine scheinbar einfache Rechnung, denn das setzt voraus, dass die neu gewonnene Liquidität der Unternehmen (incl. Finanzbranche) in Investitionen fließen, aus denen neue und/oder bessere Jobs generiert werden.

Der andere Effekt derselben Richtung bestünde im Mehr-Konsum der Reichen. Das BIP würde in jedem Fall steigen. So weit die schlichte Annahme aus der Welt der „Hayeks“, die den Markt und die Freiheit des Eigentums symbiotisch zusammenbrachten.[15] Das zu schützende und zu unterstützende Privateigentum steht über allem, so dass für den Staat nicht mehr viel Raum übrig bleibt. In dieser Welt wären Schule, Infrastruktur (incl. Energiesektor) und Gesundheitswesen privat zu regeln. Diese Aufzählung lässt erkennen wie nahe die USA diesem Ideal sind und warum jede Gesundheitsreform auf so viel „republikanischen Widerstand“ stößt. Qualifizierte Ausbildung (Collage) ist ohne große Ansparkonten kaum möglich und die Elite-Universitäten sind mit so viel privatem Geld ausgestattet, dass schon an dieser Stelle ein Wettbewerbsvorteil der USA in der Wissenschaft erkennbar ist.[16]

Die USA sind ökonomisch aber eher in der Lage, intrinsische Kräfte freizulegen, denn bis auf Stahl-, tlw. Automobil- und Verarbeitungsindustrie ist die Volkswirtschaft außerhalb der „Wallstreet“ nicht eliminiert worden. Insbesondere der IT- und Softwaresektor ist global führend. Präsident Biden wird auch die verarbeitende Industrie wieder reaktivieren und untermauert das Vorhaben mit der Losung „Made in America“. Die energetische Autarkie hilft dabei. Diese Stärke weist UK nicht auf.

Aber der Staat in UK ist nicht ganz so beschnitten wie in den USA. Es bestehen noch Elemente des Wohlfahrstaates. Die britische Ökonomin Johnna Montgomerie sieht im britischen Staat das Modell des viktorianischen Regierens, das den Bedürftigen ein wenig Unterstützung gibt, aber ansonsten dem Staat keinen weiteren Spielraum gibt. Vielmehr zeige sich der Staat großzügig, wenn es um Vermögende und Investoren geht: Misswirtschaft der Eliten.[17] 

Wenigstens ist in UK das Gesundheitswesen staatlich geregelt. Der Energiesektor wurde wie auch in Deutschland neoliberal privatisiert. UK ging aber noch viel weiter und deregulierte den Finanzmarkt, um Liquidität und versierte Banker anzuwerben. In diesem Sinne wurde die „Wallstreet“ noch überboten und viele US-Investment-Unternehmen verlegten sich mindestens mit sehr aktiven Filialen nach London. UK tauschte industrielle Fertigung gegen Ausbau der Finanzindustrie mit all ihren Volatilitäten.

Es ist auch Verteilungskampf

Das Mehr oder Weniger an Staat ist auch als Verteilungskampf zu werten. Und Sozialausgaben sind aus Sicht des Privateigentums (Unternehmen) die ökonomisch sinnlosesten Lasten überhaupt. Also sollten diese Ausgaben vermieden werden und stattdessen in die Investitionsbudgets der Unternehmen eingehen, die dann mit der potenziellen Beschäftigung der sozial ausgegrenzten Armen für den nötigen existenzsichernden Wohlstand sorgen könnten.

Nur eben das trat nie ein. Aber es ist sicherlich ein Grund dafür, dass in den USA nach den Krisen wie beim Finanz-Crash das Wachstum und die Beschäftigung besonders viel Fahrt aufgenommen hatten. Die konjunkturellen Daten zwischen USA, UK und Deutschland sind im Ergebnis ähnlich.

Die USA hatten sogar einen geringeren Wachstumsrückgang als Deutschland. Der Verlauf der Arbeitslosenrate-Kurven zeigt aber, dass die Einbrüche und damit das Leid der Betroffenen im angloamerikanischen System heftiger ausfielen.


Der Zusammenhang von Sozialstaat und Arbeitslosigkeit ist evident, während das BIP zumeist davon unberührt bleibt. Arbeitslose ohne soziale Abfederung bemühen sich intensiver in die frei werdenden Jobs nach den Krisen, so dass auch in Abbildung 2 die Schere zwischen den Sozialstaat-Staaten Japan und Deutschland und den angloamerikanischen Ländern rasch zurückgeht, wenn die Krisen vorübergehen.  Die psychosozialen Schäden liegen ganz auf der Seite fehlender Absicherungssysteme. Was nicht zurückgeht, sondern zunimmt, ist die Schere der Verteilung des BIPs. Nehmen wir die Finanzkrise 2008/2009 und danach als Ausgangspunkt, wird die folgende Abbildung 3 mit dem Gini-Index[19] ein Licht auf die Verteilungsänderungen – vor und nach Krise – werfen.

In der Finanzkrise 2007-2009 haben die Kaptalanleger massiv an Vermögen verloren und damit die Ungleichheit der Einkommen/Vermögen verringert. Die größten Rückgänge der Ungleichheit geschahen nach den Weltkriegen, als die Unternehmen zerstört, die Währungen reformiert wurden und die Märkte nicht mehr funktionierten. Die Staatsschuldenkrise nach 2010 mit der folgenden Null-Zins-Politik der Notenbanken richtete sich wiederum nicht gegen die Vermögenden, die sich mit steigenden Aktien-Erträgen durch optimale Beratung in einer besseren Renditeposition befanden als Arbeitnehmer, denen dieser Service durch Experten aufgrund der geringen Vermögen nicht zufiel. Die Schere der Einkommen incl. Kapitalerträgen ist damit bereits strukturell angelegt. Darauf wies bereits Thomas Piketty in seinem Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ hin.[20]  

Die Ungleichheit hat sowohl in Deutschland und den USA zugenommen, in UK hat die Finanzkrise die heimischen Kapitalanleger umso härter getroffen, so dass erst in 2019 das Niveau der Ungleichheit von 2004 erreicht wurde. Welchen Effekt in diesem Kontext weitere Senkungen des Spitzensteuersatzes und Sozialausgabenkürzungen – an denen auch Rishi Sunak festhält – auf den Gini-Index hat, liegt auf der Hand. Dennoch ist erkennbar, dass die Ungleichheit der Einkommensgruppen in den USA fast 10%-Punkte über Deutschland liegt und das Potenzial der gesellschaftlichen Spaltung sichtbar macht. Die Tendenz ist säkular zugunsten der Vermögenden.

Neoliberalismus ignoriert Veränderung von Markt- und Eigentumsstrukturen

Das von den Neoliberalen beschworene Privateigentum meint selbstredend ökonomisch aktives Eigentum und nicht die welke Villa, die von Zeit zu Zeit saniert werden muss. Das „neoliberale Eigentum“ wird verklärt als heilige Stätte der wirtschaftlichen Vernunft, denn nur der individuelle Einsatz würde dieses Eigentum schützen und bestenfalls mehren. All das – so wird behauptet – natürlich in sozialer Verantwortung. Aber genau darin liegt der Bruch.

Wir befinden uns nicht mehr im 18 Jahrhundert, sondern in einem hochentwickelten Kapitalismus, der von Oligopolen beherrscht wird. Weltweit wird das populäre „Monopoly“ gespielt und selbst Kinder wissen, wie die Entwicklung verläuft. Am Ende stehen Monopole (Oligopole in modernen Märkten) und Kartelle als Sieger fest. Das Eigentum ist durch Aktienbesitz derartig parzelliert, dass eine individuelle Verantwortung per se nicht mehr gegeben ist. Diese wird an Vorstände und Aufsichtsräte auf Zeit delegiert. Eine langfristige Verantwortung sind nur noch in Familienunternehmen erkennbar, wenn die Patronen noch über ein soziales Gewissen verfügen. Die Neoliberalen stilisieren etwas Vergangenes, das in der Gegenwart keine relevante Rolle einnimmt. Was bleibt, sind multinationale Konzerne mit Umsätzen, die den BIPs kleiner Staaten gleichkommen. Royal Shell mit über 260 Mrd. USD Umsatz übertrifft das BIP Griechenlands und Portugals. Amazon hat mehr Umsatz als beide BIPs zusammen. Griechenland verfügt über 4 Mio. Beschäftigte, Royal Shell über 86 Tsd. Was ist an diesen Verhältnissen noch liberaler Markt? Wer wird sich im Zweifel durchsetzen. Royal Shell hat den Firmensitz von den Niederlanden nach London verlegt, um der Quellensteuer auf Dividenden und Umweltschutz-Regulierungen der EU zu entgehen. Das können nicht Staaten und Nationen, sondern nur „Multis“, die sich die Location mit Ein- und Austragungen in das Handelsregister verändern. Vielleicht wurden einige Steuerexperten nach London verlagert, aber substanziell hat sich die Royal Shell mit diesem Manöver überhaupt nicht bewegt. Lediglich die Kapitalerträge werden steigen, was die vielen Aktionäre erfreuen wird. Soziale Verantwortung? Null. Die Aktionäre werden noch erregter sein, wenn die Dividenden aus den exorbitanten Öl- und Gas-Geschäften aus 2022 die Kassen klingeln lassen. Wer diese Gewinne gespeist hat, muss an dieser Stelle nicht erklärt werden.

Finanzindustrie und Staat

Ein weiters Beispiel für die Erosion des klassischen Eigentums ist der US-amerikanische Vermögensverwalter Blackrock, der auch der größte Einzelaktionär im DAX mit Beteiligungen von bis zu 10 % ist. Blackrock verwaltet global im Oktober 2022 knapp 8 Billionen (2021: 10 Billionen) USD. Dahinter verbergen sich allein über 1500 Institutionelle Anleger, die wiederum Millionen von Kunden vereinen. Darunter sind viele Pensionsfonds von Menschen, die für das Alter vorsorgen. Der Weg von diesen Anlegern bis hin zu den Entscheidungen von Dax-Konzernen hat mit verantwortlichem Privateigentum überhaupt nichts mehr zu tun. Und Blackrock hat Wettbewerber wie die Vanguard Group, Fidelity etc., die nicht wesentlich kleiner sind. Die Geldströme der Vermögensverwalter werden zumeist auch nicht von Menschen gesteuert, sondern von Risikoanalysen gigantischer Rechner wie den legendäre „Aladdin“ von Blackrock[21]. So funktioniert die moderne Ökonomie und es verwundert nicht, dass Blackrock-CEO Larry Fink erkennt, dass nichts die Geschäfte so sehr stört wie soziale und ökologische Konflikte. Blackrock hat inzwischen etliche hochkarätige Mitarbeiter an das Weiße Haus entsendet, so dass der Nachrichten- und Informationsdienstleister Bloomberg Blackrock schon als „vierte Gewalt“ einstuft.[22] Auf diese politischen Beziehungen werden hochkarätige Anlagen in Schwellen- und Entwicklungsländern mit staatlichen Garantien gegen Verluste flankiert. Larry Fink würde viel privates Geld in erneuerbare Projekte lenken, wenn es staatliche Garantien gibt. Ähnlich verhält es sich auch mit Investitionen der großen deutschen Konzerne wie die Autobauer, BASF und Bayer in China. Sie sind staatlich abgesichert gegen politische Instabilitäten. Was ist daran ist noch liberaler Markt? Wirtschafsminister Harbeck hat jetzt Ende 2022 eine erneute Investition der Volkswagen AG nicht mehr gesichert, was als Paradigmenwechsel gegenüber China gilt. Das Spiel läuft nicht mehr ohne Staat und Oligopole. Es geht um mehr oder weniger Einfluss. Unter dem ehemaligen CDU-Wirtschaftsminister wäre eine Entscheidung gegen einen deutschen Automobilkonzern undenkbar gewesen.   

Steuersenkungen haben nicht den „neoliberalen“ Wunsch-Effekt

Die neoliberale Agenda von Schuldenbremse und Steuersenkungen macht den Staat klein und handlungsunfähig. Die notwendigen gesellschaftlichen Impulse würde die Industrie liefern. Sollte das nicht geschehen, müssten die Unternehmenssteuern gesenkt werden, damit der unternehmerische Spielraum größer wird. Das sind die Vorstellungen der Neoliberalen.


Die Kapitalertragssteuer ist die typische Abgabe, an der sich Staat und Unternehmen reiben. Sie betrifft Kapitalerträge. Abbildung 4 zeigt die Entwicklung von US-Steuersatzänderung und BIP-Wachstum, das schließlich indirekt das Investitionsniveau repräsentiert. Zu sehen ist, dass kein Zusammenhang, keine Korrelation und schon gar keine Kausalität besteht. Der einzig verbleibende Effekt ist die Veränderung der Ungleichheit in der Gesellschaft. Die Gini-Index-Kurven aus Abbildung 3 zeigen, wer profitiert. Die Steuererhöhung[23] im Jahr 2013 während der Obama-Amtszeiten hatte keinen negativen Einfluss auf das BIP-Wachstum.

Einen empirischen Nachweis gibt es für den Trickle-Down-Mechanismus nicht wie Abbildung 4 belegt. Das BIP-Wachstum folgt nicht den Steuersätzen der Kapitalerträge. Folglich bleibt ein geschrumpfter Staat mit weniger Handlungsmöglichkeiten, wenn die Steuern bei schwachem Wachstum gesenkt werden. Nimmt der Staat weniger ein, werden die sozial schwachen Gruppen entsprechend weniger unterstützt werden können. Die Sozialausgaben wie die britischen „Universal Credit“ sinken, was auch das zweite Vorhaben von Liz Truss war. Es sollten darüber 40 Mrd. Pfund Sterling eingespart werden.[24] Es sind aber in erster Linie die Geringverdiener, die den Konsum stabilisieren, da zum Sparen die Mittel fehlen.

Zwei wesentliche Faktoren bleiben in der Trickle-Down-Theorie außer Acht: Macht es Sinn für die Unternehmen zu investieren, wenn zahlungsfähige Nachfrage für die potenziellen Ausdehnungen des Angebots fehlt? Zweitens ist unter den Gesetzen der Globalisierung eine Investition im Inland wahrscheinlicher als die intrinsische Flucht des Geldes in bessere Verwertungsregionen? Der industrielle Exodus in den USA seit der Hyperglobalisierung – vom Jahr 2000 an – beantwortet diese Fragen.

Steuersenkungen machen durchaus Sinn, um Wachstum zu induzieren, wenn der Staat keine Refinanzierungsprobleme hat. Besonders in Wachstumsphasen nimmt der Staat mehr ein und kann die Sätze senken wie etwa die Abschaffung des Solidaritätsbeitrags in Deutschland, der einst zur Finanzierung Ostdeutschlands erhoben wurde. Die Steuersenkungen der Rot-Grünen-Koalitionen im Jahr 2000 hatten wiederum nur einen Umverteilungseffekt zugunsten höherer Einkommensbeziehern.  Die Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 %, die Begrenzung der Kapitalertragssteuer auf 25 % und die Abschaffung der Vermögenssteuer hat dem deutschen Staat nachhaltig das Budget geschmälert und die Staatsverschuldung beschleunigt. Die Senkung der Steuerquote von aus den Jahren 2000 bis 2004 entsprach ungefähr der Steigerung der staatlichen Schuldenquote.[25]

Die zwangsläufige Aufnahme neuer Schulden führte zur umstrittenen Agenda 2010 und erheblichen Ausgabenkürzungen. Der Rückbau des Staates durch Steuersenkungen und Austeritätspolitik war durch die rot-grüne Regierung umgesetzt worden. Der Neoliberalismus hatte Deutschland bereits in den 1990er Jahren auch Sozialdemokraten und „Grüne“ infiziert, als der Energiesektor, die Telekommunikation, Entsorgung und der Gesundheitsbereich in großen Teilen privatisiert wurden. Das hat zwar die Staatshaushalte einmalig entlastet, aber auch die Qualität der Leistungen zumeist negativ beeinflusst.[26]Eine Belebung des Wachstums trat nicht ein und damit ging auch die Rechnung nicht auf, dass das Steueraufkommen trotz Steuersenkungen ausreichen würde. Der Einmaleffekt stand dauerhaften Mindereinnahmen entgegen. Damit fehlten auch Mittel zur Modernisierung der Infrastruktur, was sich auch im Rückstand der Digitalisierung manifestiert. Die langen Zeiten der Antragsbearbeitung deutscher Behörden sind somit auch Ausfluss neoliberaler Kürzungspolitik aufgrund schwindender Steuereinnahmen. Es sollte nicht verschwiegen werden, dass der Beifall von CDU und FDP für den Rückbau des Staates überwältigend war und die SPD in eine Sinneskrise und Spaltung führte. Die „Grünen“ als Juniorpartner waren mit der Problematik offenkundig überfordert.

Hoffentlich haben die „Grünen“ und Robert Habeck daraus gelernt.