Sich-tot-Stellen ist auch keine Lösung

9. Februar 2022 0 Von Uli Gierse

 „Mehr Fortschritt wagen“ so lautet die Überschrift über den Koalitionsvertrag der Ampel. Diese Formel erinnert an den Willy-Brandt-Slogan „Mehr Demokratie wagen“, das war in den 70er auch dringend nötig. Ist heute „Fortschritt“ dringend nötig?

Irgendwie klingt das wie ein trotziges Festhalten an Gewohnheiten der letzten 50 Jahre. Fortschritt hieß Wachstum des BIP. Das war eine Erfolgsgeschichte: In den letzten 50 Jahren hat sich das BIP fast verzehnfacht. Kein Wunder, dass das den Klimawandel enorm beschleunigt hat. Die Dynamik war, neudeutsch gesprochen, exponentiell.

Und heute soll der Klimawandel ebenfalls durch Fortschritt gestoppt werden? Wodurch auch sonst, wir kennen ja nichts anderes. Mit Wachstum aus der Wachstumskrise der fossilen Energieumwandlung. Statt fossile Verbrennung nun Windkraft, Photovoltaik und Wasserstoff als die Kohle der Zukunft?

Der „Kapitalismus“ hat es versaut, jetzt soll er die Rettung sein? Die Umstellung auf erneuerbare Energien und die Produktion von grünem Wasserstoff verlangt riesige Investitionen in kürzester Zeit, die ein Staat aktuell gar nicht aufbringen könnte, deshalb ist es vernünftig, privates Kapital dafür durch Steueranreize zu mobilisieren. Nur eine große Profiterwartung mobilisiert das Kapital für die sozial-ökologische Transformation. Kollateralschaden: Soziale Gerechtigkeit.

Fortschritt  war die Sehnsuchtsformel der industriellen Moderne, profan heißt sie: Je mehr Güter produziert werden, desto mehr Konsum ist auch für die kleinen Leuten möglich. Eine Win-Win-Situation. Die Reichen werden immer reicher, die Armen aber auch. Das war nicht nur Ideologie, sondern entsprach den realen Erfahrungen der unteren Klassen in der reichen Ländern wie auch in den Schwellenländern wie vor allem in China. Doch was ist, wenn dieses Aufstiegsversprechen nicht mehr eingelöst werden kann? Das trifft dann besonders die jüngere Generation, die nicht mehr profitiert von der fossilbasierten Zunahme von Arbeit und Lohn, sondern auch noch Opfer der Klimakatastrophen morgen werden wird. Vor allem in China hat das große Sprengkraft, wenn die Kommunistische Partei ihren Deal, Herrschaft gegen Geld, nicht mehr umsetzen könnte.

Fortschritt durch Wachstum war vor allem die Grunderfahrung der Nachkriegsgenerationen. Die Generationen von Kriegsteilnehmenden, Kriegskindern und der Kinder von im Krieg traumatisierten Eltern erlebte die Zeit bis heute nur als Verbesserung ihrer Lage. Davon unterscheiden muss man die Generation X, die Nach-Boomer- Generation, der heute 30zig bis 50zigjährigen, die auf dem Sprung in die Chefetagen ist. Diese wuchs in einer Zeit des historisch höchsten materiellem Wohlstands auf. Die Wirtschaft globalisierte sich und attraktive Konsumgüter wie I-Phones wurden für viele erschwinglich, zumindest in den Industrieländern. Dieser Wohlstand ist nun gefährdet durch den Klimawandel. Wie reagiert der Mensch auf Gefährdungen, wie soll er reagieren? Greta Thunberg klare Ansage: „I want you to panic.“

Doch Panik ist ein schlechter Ratgeber in der Politik, denn dann gibt es nur noch drei Handlungsalternativen für unser Reptilliengehirn: Kämpfen, Flüchten oder Sich-tot-Stellen.

Greta und die Fridays radikalisieren sich, kämpfen. Flüchten kann man nicht. Bleibt also nur das Sich-tot-Stellen und die Hoffnung, dass gegen alle Erwartungen es doch noch mal gut geht.

Realitätstauglicher ist wahrscheinlich: Es wird keinen Fortschritt geben, sondern wir werden an einen Ort zurückgehen müssen, wo wir noch nicht waren. (Heinz Bude, SZ vom 5.2.2022)

Was heißt das? Die Erde verkraftet ein weiteres Anhäufen von Gütern nicht mehr. Dazu ein langes Zitat, denn besser kann ich es nicht ausdrücken:

„Die Masse der von Menschen hergestellten Objekte hat sich seit 1900 etwa alle 20 Jahre verdoppelt. Damals betrug sie etwa drei Prozent der Biomasse, drei Prozent also alles dessen, was lebt. Im Jahr 2020 hat die tote Masse – also Häuser, Asphalt, Maschinen, Autos, Plastik, Computer usw. usf. – die Biomasse erstmals übertroffen. Die Biomasse aller Wildtiere ist in den letzten 50 Jahren dagegen um mehr als vier Fünftel geschrumpft. Ein atemberaubender Vorgang: Während die Biomasse durch Entwaldung und Zerstörung von Böden und Meeren und Artensterben weiter sinkt, wächst die menschengemachte Masse immer schneller an. So berichten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom israelischen Weizmann-Institut.[1] Man hat versucht, diesen Vorgang dadurch zu veranschaulichen, dass jede Woche für jeden Menschen auf der Welt Produkte geschaffen werden, die seinem Körpergewicht entsprechen. 52 Mal im Jahr kommt das Äquivalent von einem selbst zur toten Masse dazu. Das ist ziemlich gruselig, scheint mir, wobei betont werden muss, dass diese 52-mal-ich-Produktmenge aus Substanzen besteht, die den lebendigen Böden, den Wäldern, den Meeren und Flüssen entnommen werden – woanders können sie ja nicht herkommen. Mit anderen Worten: Die Welt wird in immer noch wachsender Geschwindigkeit von einer natürlichen in eine künstliche oder besser: von einer lebendigen in eine tote umgewandelt. Hergestelltes schlägt Biomasse. Totes schlägt Lebendiges.“[1]

Wir sind zu spät dran. National hätte man schon in den 90-er des letzten Jahrhundert anfangen können, Wissen und Technologie war schon vorhanden. Die Einführung der EEG-Umlage zeigt, dass das Problem zumindest zum Jahrtausendwechsel auch politisch anerkannt war. Und jetzt, 2021, nach 16 verlorenen Jahren, muss alles sehr schnell gehen. Um das 1,5 Grad Ziel in Deutschland noch erreichen zu können, müsste spätestens 2035 Schluss sein mit jeglicher nicht kompensierter fossiler Verbrennung (Kohle, Öl, Gas, Benzin). Und entsprechender Ersatz durch erneuerbare Energieformen, plus grüner Wasserstoff für die Chemie- und Stahlindustrie, bereitgestellt werden können. Habeck go!

Doch es kommt ein grundsätzliches Problem hinzu:  Die Menschheit ist wahrscheinlich unfähig die Richtung ihrer kulturellen Entwicklung kurzfristig radikal zu ändern. Das liegt an der Komplexheit der Lage (Nassehi) und an Grundprinzipien der anthropologischen Evolution.

Beim Übergang vom der feudalen Agrarwirtschaft zum bürgerlichen Kapitalismus, der auf neuer Energie durch fossile Brennstoffe beruht,  hat der Übergang mindestens ein Jahrhundert gedauert. Und das war noch leicht, weil es Vorteile für alle brachte.

Dazu muss man sich anschauen was den Menschen dazu befähigt hat, nicht nur Nüsse knacken zu können, sondern Nussknackmaschinen herzustellen.

Am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig wird das Lernverhalten bei Kindern und Menschenaffen untersucht. Dabei hat man festgestellt, dass Menschenkinder sich auf etwas anderes konzentrieren als Primaten. In erster Linie achten die Menschenkinder auf die Reaktion und das Vorbild der Person, die die zu lernende Handlung ausführt. Kinder lernen „sozial“, d.h. von anderen Menschen, Eltern, Lehrern oder anderen Kindern. Die jeweilige menschengeschaffene Kultur ist dabei das Lernumfeld: bei den Jägern und Sammlern noch die kleine Gruppe, der Stamm. Später kamen dann erste Großkulturen (Zivilisationen) in komplexen Großstrukturen wie Städten, die Lernen auch institutionalisieren konnten: Schule, Kirche, Akademien oder Lehrwerkstätten. 

Menschenkinder sind Spezialisten im detailgetreuen Imitieren von sozialen Handlungen, weil sich ihre Aufmerksamkeit auf das menschliche Gegenüber richtet.  Primaten lernen auch, sind aber nicht in der Lage, eine Handlung z.B. das Knacken einer Nuss mit einem Stein, detailgetreu zu imitieren, sondern sie müssen alles individuell ausprobieren, d.h. jeder Affe muss das Rad neu erfinden. Dabei zählt für sie nicht die Imitation der Handlung, sondern nur das Ergebnis: Nuss geknackt. Deshalb scheinen Primaten auch keinen Drang zur Optimierung zu haben, sondern bei ihnen zählt nur der Effekt, Nuss geknackt, egal wie.

Beim Menschen ist es so: „Die jeweils neue Generation fängt nie von vorn an, sondern immer dort, wo die vorangegangene angelangt ist. Das unterscheidet die menschliche Lebensform von der aller anderen Lebewesen.“[2]

Das Lernen in und vermittels der Kultur ist das Alleinstellungsmerkmal der Menschen. „Denn die Kultur, in die man hineinwächst, ist nichts Äußerliches – sie sitzt nicht nur in unseren Infrastrukturen und Institutionen, in unserem Grundgesetz, unseren Lehrplänen und Verkehrsregeln, sondern in unseren Gewohnheiten, in unseren Wahrnehmungen und Deutungen, in unserer Psyche, unserem Selbst. Wir sind ja nicht nur Gestalterinnen und Gestalter dieser Lebensform, sondern gleichzeitig von ihr gestaltet, und diese Gestaltung erfolgt nicht bewusst und absichtsvoll, sondern durch die Praxis.“[3]

Ausgehend vom weitergegebenen Wissen können Innovationen möglich werden, die wiederum an die nächste Generation weitergegeben werden können – usw.. Die gesamte Gruppe wird so immer dann, wenn Innovationen möglich sind, auf eine höhere Kulturstufe gehoben.

Diesen Mechanismus bezeichnet Michael Tomasello als den „Wagenheber-Effekt“. Und irgendwann haben wir dann einen Nussknacker, und dann irgendwann eine Maschine, die tausende Nüsse in der Minute knackt. Das macht uns kein Primat nach. Tomasello sieht darin ein Prinzip der kulturellen Vererbung. Kultur wird zum koevolutionären Element. Dass ist die soziogentische Besonderheit der Spezies Homo sapiens, die uns von anderen Tieren unterscheidet. Nur in einem kulturellen Zusammenhang, d.h. in einem sozialen Zusammenhang ist diese Kulturfähigkeit denkbar. Kein Mensch kann allein irgendwas erfinden, wenn er z.B. als Baby von Wölfen aufgezogen worden wäre. Es kann dann nur Wolf sein, oder besser wie ein Affe agieren, nicht aber wie ein Mensch.

Tomasello: „Alleine würde so ein Mensch keine Sprache, kein Algebra erfinden. Welche durchschnittlichen mathematischen Fähigkeiten hätte jemand, der keine arabischen Ziffern hat, den niemals irgendjemand Mathematik gelehrt hat, und der nicht einmal Wörter für Zahlen hat, mit denen er zählen könnte? Was würde er schon ganz allein erfinden?“ (in 3SAT Interview von Scobel).

Was heißt das für eine „Kultur des Aufhörens“ wie sie Harald Welzer andenkt?

Aufhören z.B. mit dem Hyperkonsum oder der Selbstoptimierung wird nur dann Erfolg haben können, wenn das als eine Innovation angesehen wird, die weiter Wohlstand schafft und Sicherheit schafft. Nun könnte man einwenden, dass die Klimakatastrophe Wohlstand zerstört und permanente Unsicherheit schaffen wird.

Ja, das wird so kommen, aber dem Menschen als sozialen Wesen ist die einprogrammierte Hoffnung auf materielles Glück durch Konsum, wahrscheinlich erst durch einen Reset der Ökonomie des immer Größer und immer Weiter zu nehmen. Dann ist es aber zu spät, die Welt so wie sie aktuell ist noch ist zu stabilisieren.

Wir mögen moderne Technologien entwickelt haben, um die Welt fliegen und ein iPhone benutzen – aber wir sind auch nur Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen. Denn in unserer Kultur sind wir abhängig von dem, was andere vor uns entdeckt haben. Ohne das Wissen und die Erfindungen, die andere in den Jahrtausenden vor uns entwickelt haben, und auf die wir aufbauen können, würden unsere Leistungen nicht so herausragend erscheinen.

Also Pessimismus? Nein! Denn:

Optimismus ist eine Strategie, um eine bessere Zukunft zu gestalten. Denn wenn Sie nicht glauben, dass die Zukunft besser sein kann, werden Sie wahrscheinlich nicht aufstehen und die Verantwortung dafür übernehmen.[4]


[1] Welzer, Harald. Nachruf auf mich selbst.: Die Kultur des Aufhörens (German Edition) (S.12). FISCHER E-Books. Kindle-Version.

[2] Welzer, Harald. Nachruf auf mich selbst.: Die Kultur des Aufhörens (German Edition) (S.13-14). FISCHER E-Books. Kindle-Version.

[3] Welzer, Harald. Nachruf auf mich selbst.: Die Kultur des Aufhörens (German Edition) (S.14). FISCHER E-Books. Kindle-Version.

[4] Noam Chomsky