Transparenz ist die Mutter des Kompromisses

17. Januar 2022 0 Von Uli Gierse
„Politische Einstellungen und Haltungen werden oft vererbt und weitergegeben. Viele Menschen sind 1989 auf die Straße gegangen und haben damit die friedliche Revolution erst möglich gemacht. Aber die demokratische Praxis des Aushandelns von Kompromissen ist ihnen fremd geblieben. Das lässt sich an den Mitglieder­zahlen der Parteien ablesen – oder wenn ich in einem Ortsteil einen Bürger­meister suche.“ Carsten Schneider in RND vom 17.01.2022 Ostbeauftragter Schneider: „Ohne Zuwanderung wird es in Ost­deutschland nicht gehen“ (rnd.de)

Ich kann das aus meiner eigenen – westdeutschen Geschichte – gut nachvollziehen. Auch in der Linken nach 1968 galt der politische Kompromiss nicht viel, Abweichung von der Partei – oder Bewegungslinie galt schnell als Verrat. Alexander Kluge hat das in einem satirischen Film auf den Punkt gebracht: „In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod.“

Dieser Satz scheint eine Erfahrung wiederzugeben. Er dient als  Argumentationsmuster für die Begründung radikaler Lösungen. Doch hält diese Logik einer empirischen Überprüfung stand, ist sie Produkt einer Analyse? „In Gefahr und höchster Not“ beschreibt einen Zustand, in dem zwingend ein Eingreifen nötig wird. Heute zum Beispiel in der Pandemie oder der Erhitzung der Erde infolge der Verbrennung fossiler Brennstoffe. Da kann es keine Kompromisse geben – oder?

„In Gefahr und höchster Not“ galt auch für die von Karl Marx konstruierte Entscheidungsschlacht zwischen dem Proletariat und dem Kapital. Oder für Nazis, die ein Rassekonstrukt als Vorwand für die Eliminierung aller fremden Ethnien als binäre Entscheidungsmatrix postulierten. Entweder die oder wir!

Der semantische Hintergrund dieser Entscheidungslogik sind wahrscheinlich schon griechische Mythen. Wenn von Entscheidungswegen die Rede ist, denke ich unwillkürlich an Herakles am Scheideweg. Herakles ist unschlüssig, welchen Lebensweg er einschlagen soll. Zwei Alternativen bieten sich an, ein Leben in Braus und Saus, Sex and Drugs and Rock and Roll oder den Weg der Tugendhaftigkeit, der voll Mühe ist, aber Ehre und Bewunderung verspricht.  Der Mittelweg wird gar nicht angeboten.

In dem Mythos „Urteils des Paris“ werden dem trojanischen Prinzen gar drei Alternativen angeboten, die aber auch keine Kompromisse zuließen: Paris, der trojanische Prinz sollte entscheiden, welche der drei Göttinnen Aphrodite, Athene und Hera die schönste ist. Jede der drei versucht dann ihn zu bestechen, Hera verspricht ihm Herrschaft über die Welt, Athene verspricht Weisheit, Aphrodite hingegen bietet Paris die Liebe der schönsten Frau der Welt.  Paris entscheidet sich für Aphrodite und damit für den Raub der Helena, der zum Machtkampf über die Weltherrschaft, dem trojanischen Krieg führt. Wieder kein Mittelweg.

Aus den antiken Mythen kann man daher nur lernen, wie man es macht, man macht es verkehrt. Denn die Alternativen sind zu zugespitzt. Die meisten Menschen würden sich für einen halbwegs tugendhaften Weg mit ein bisschen Saus und Braus entscheiden. Auch des Paris Problem ließe sich zu einem Kompromiss, einem Mittelweg zusammenführen. Doch da müsste er Abstriche machen bei Macht, Weisheit und Schönheit, Göttinnen wären aus dem Rennen.

Was heißt das für heute? Die Welt ist komplex und politische Entscheidungen lassen sich, wenn sie realitätstauglich sein sollen, nicht auf binäre Alternativen reduzieren.

Binäres Denken ist immer autoritäres Denken und erzeugt Untertanenmentalität, die sich leicht in Gewalt kanalisieren lässt. Die neuen Social Media- Plattformen befördern dieses Denken, da nur der Schreihals Aufmerksamkeit bekommt. Die Befreiung aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit ist so jedenfalls nicht möglich. Liberale Demokratien müssen daher beweisen, dass Kompromisse besser sind als autoritäre, nicht diskutierbare Befehle. Dazu müssen sie aber auch die politischen Hintergründe von Kompromissen mit sichtbar machen und auch kleine Differenzen nicht unter den Tisch kehren. Transparenz ist die Mutter des politischen Kompromisses und das Wissen darum, dass wir nichts wissen.