Wir sind von Wirklichkeit umzingelt
Kriege, Klimawandel, Haushaltskrise, Antisemitismus, Unterbringung von Flüchtenden, Wärmepumpe, Rechtsruck und eine Unfähigkeit der politischen Parteien, dafür Lösungen zu entwickeln.
Nur noch 17% der Wählerinnen sind mit der Ampel-Regierung zufrieden, nur noch 20% mit dem Kanzler, der niedrigste je gemessene Wert. Der Eindruck, die können es nicht, ist selbst bei Parteimitgliedern der Ampel-Parteien vorherrschend. Doch die Union ist auch keine Alternative, denn in der Sehnsucht von Merz nach der Zeit von Helmut Kohl, ist keine einzige pragmatische Lösung für die „Wirklichkeit“ heute.
Merz ist dabei, populistisch die Zeit zurückzudrehen, nicht allein. Die Höcke-AfD will zurück in die 1930er, Wagenknecht und Lafontaine „nur“ in die 1980er – Kalter Krieg, Sozialstaat und Friedensbewegung; Scholz und Lindner sind sich einig, dass die Kombination von Neoliberalismus (Schuldenbremse) und Mindestlohnerhöhungen wie in den Nullerjahren ökonomisch wie sozial optimal wären. Die Grünen sind besonders schlau, sie wollen den Wohlstand der Merkeljahre ohne Öl und Gas – zurück in die Zukunft, der Strom kommt aus der Steckdose.
Und die schlauen Intellektuellen aller Couleur (ich inklusive) sind ganz toll in der kritischen Einordnung, ob beim Versuch Putins die Welt zurückzudrehen oder dem Zivilisationsbruch des Hamas-Überfalls auf israelische Zivilisten. Auch für die Lösung des Klimawandels gibt es theoretisch tolle Lösungen. Was auffällt ist, die Ergebnisse von Theoretikerinnen (Denkerinnen) und politischen Praktikerinnen fallen stark auseinander. Das ist auch nicht verwunderlich, denn im Denken ist alles möglich, sterbliche Menschen dagegen benötigen Stützen, Beständigkeit und Sicherheit für ihr kurzes Leben.
Und da unterscheiden sich Generationen. Es ist kein Wunder, dass die ach so rebellischen 68er, die heute als Hochbetagte nur noch wenig Restlebenszeit haben, sich konservativ an ihre Vergangenheit klammern. Und die Boomer, gerade ins Rentenalter kommend, wollen endlich mal Erfolg haben, aber zumindest ihre Datscha genießen können, und finden die Krisen eine persönliche Zumutung. Die in den 90er geborenen sind zwar Kinder der Wende wie der Digitalisierung und Globalisierung, also wandlungserprobt, aber bei dem Stress doch eher an einer Work-Life-Balance interessiert. Und die Fridays wurden leider von Corona in die Wüste geschickt.
Überhaupt Corona. Irgendwie kommt mir die Corona-Zeit so vor als hätte sich ein Erdrutsch oder eine Erdspalte im Kontinuum der Geschichte aufgetan, so dass man die Zeit davor nicht mehr mit dem Heute verknüpfen kann. Unsere Erzählung bricht mitten in der Geschichte ab und beginnt wie nach einer Gehirnwäsche neu. Eine Kurzgeschichte mit offenem Höhepunkt und offenem Ende. Also gar keine Geschichte.
Hört sich klug an, oder? Doch was folgt daraus?
Eine Lösung gibt es offensichtlich nicht, denn nötige Veränderung und nötige Beständigkeit und Sicherheit sind nun mal schwer verknüpfbar. Wir können und müssen daher miteinander reden, es nicht nur den Berufspolitikern oder Berufswissenschaftlern überlassen. Wir müssen das Lagerdenken und die Polarisierung durch Algorithmen der Plattformkonzerne überwinden; raus aus der eigenen Blase gehen, Bridging Bubbles, ob politisch, sozial oder als Generation. Hoffentlich gelingt es dabei die Wirklichkeit besser zu verstehen. Getreu dem alten Spontispruch meiner Generation: Du hast keine Chance, aber nutze sie. Die Alternativen jedenfalls sind grauslich: Der Verlust von Freiheit und Gerechtigkeit bei galoppierender Klimakrise.
Der erste Teil trifft aber so genau meinen Pessimismus, der zweite Teil tröstet mich nur wenig. Ich plane meine politische Verrentung ab dem 30. 4.2024 , meinem 75 Geburtstag.
Lieber Peter, wer einmal das Blut des Räsonierens getrunken hat, ist süchtig. LG Uli