Zeitenwende auf dem Weg zum Wendehals

Zeitenwende auf dem Weg zum Wendehals

9. November 2022 0 Von Uli Gierse

Am 27.02.2022 verkündete Bundeskanzler Scholz im Bundestag DIE ZEITENWENDE. Doch seitdem wartet Deutschland und die Welt auf eine Änderung der Politik der Ampel-Regierung. Scholz und vor allem die SPD-Linke um Mützenich und Kühnert sind immer noch festgefahren im Denken der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. 

In den 80er fand eine geistig-moralische Wende in der Sicherheitspolitik statt. Beflügelt durch die Friedensbewegung fand die SPD und Deutschland zu einem neuen Konsens, der die Sicherheitsinteressen der Befürworter des NATO-Doppelbeschlusses und der ehemaligen Kriegsteilnehmer (Helmut Schmidt…) mit dem Aufbegehren der Nazikinder-Generation verband:

Nie wieder Krieg! – darauf konnten sich alle einigen.

Spätestens mit der unverhofften Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 schien sich Deutschland von der Nazivergangenheit befreit zu haben und konnte sich als befriedetes Land international neu ausrichten. Die Zeit der alliierten Besatzung war endgültig vorbei, aber damit auch die der Verantwortungslosigkeit für sicherheitspolitische Entscheidungen.

Nie wieder Krieg (in Europa) war zu einem realistischen Konzept geworden. Wirtschaftlich konnte Deutschland die sogenannte Friedensdividende einfahren. Konkret hieß das, die Ausgaben für die Bundeswehr konnten radikal gekürzt werden und auf andere Etats umgeschichtet werden.

Insbesondere die Sozialdemokraten sahen das als ihren Erfolg an. Waren es nicht Willy Brandt und Egon Bahr, die diese Wiedervereinigung und die Auflösung des Warschauer Pakts wesentlich durch ihre Politik der Annäherung befördert hatten?

Wenn man heute genauer hinschaut, wird schnell klar, dass für den Zusammenbruch des Sowjetimperium weniger die Annäherungspolitik Egon Bahrs verantwortlich war als eine durch den Rüstungswettlauf und mangelnder technologischer Innovation produzierte ökonomische Handlungsunfähigkeit. Gorbatschow konnte die Staaten des Warschauer Pakts nicht mehr aus dem sowjetischen Haushalt stützen, er musste loslassen und auch den Zerfall des Sowjetimperium konnte Gorbatschow nicht mehr aufhalten, obwohl er es sogar mit Waffengewalt versuchte. 

Putin sieht das als größte Katastrophe in der Geschichte Russlands an und hat daraus die Konsequenz gezogen, die Privatisierung der russischen Wirtschaft zu beschränken und in seinem Neoimperialismus auf den Neuaufbau der Armee und den geostrategischen Einsatz von russischen Rohstoffen zu setzen.

Schröder, Merkel, Steinmeier, Gabriel, Scholz und Co. waren dabei unfreiwillige Kompagnons, denn auch sie wollten sich die russische Abhängigkeit vom Export von Rohstoffen zunutze machen. Indem Russland von Export fossiler Rohstoffe nach Deutschland und Europa abhängig gemacht würde, würde es keine militärische Revision der Staatsgrenzen wagen, so die Überlegung. Der Knecht beherrscht den Herrn, der Junkie den Dealer. Ein Blödsinn, wie man 2022 überrascht feststellen musste. 

Die Russische Föderation ist zwar inzwischen auch ein kapitalistisches Land, aber eines, welches durch ein Bündnis von Ex-KGB-Leuten mit der organisierten Unterwelt als Kleptokratie beherrscht und zusammengehalten wird. Das Volk wird über die Massenmedien, vor allem das Fernsehen gesteuert und ideologisch mit dem Versprechen auf die Wiederherstellung des alten zaristischen oder stalinistischen Imperium geködert. Etwaige Opposition wird präventiv ausgeschaltet und eingesperrt. Ein mafiöse Kleptokratie hat ganz andere Interessen als eine privat-kapitalistische Wirtschaft, die auf Wachstum setzt. Der Mafia geht es in erster Linie um einen regelmäßigen Geldtransfer von den profitablen Teilen der Wirtschaft zu sich selbst. Kurz, Oligarchen bleiben solange Oligarchen, wie sie zahlen.[1]

Das haben Merkel und CO. nicht begriffen. Sie waren und sind befangen in einem Weltbild, das davon ausgeht, dass alles seinen Preis hat. Offensichtlich rechnet Putin aber ganz anders.

Die Rede von Scholz am 27.2.2022, in der er die Zeitenwende ausgerufen hat, hätte als Befreiungsschlag und Verabschiedung von altem Denken und Träumen sein können. Da hatte man doch die Erwartung, dass sich etwas in der Sicht auf die Zeit ändern könnte. Doch leider Fehlanzeige.

Die meisten Sozialdemokraten, namentlich Scholz, Mützenich, Stegner, aber auch die Partei „Die Linke“ sowie Intellektuelle wie Alexander Kluge, Harald Welzer, Richard David Precht oder Alice Schwarzer wiederholen weiter nur das, was sie in oder von den 80er gelernt haben.

Die Generation der Nazi-Kinder ist stolz auf ihren Pazifismus als Lehre aus dem II. Weltkrieg. Für sie ist das menschliche Leben der höchste moralische Wert.  Postheroische, zumal männliche Helden, die bereit sind auf dem Schlachtfeld zu sterben, waren out und sollen es auch bleiben. Deshalb auch der anhaltende Widerstand, sich der neuen Realität zu stellen. Man lehnt den Einsatz des eigenen Lebens, als aus der Zeit gefallen, ab.

Mit dem Russlandkrieg gegen die Ukraine dämmert es aber auch vielen ehemalig Friedensbewegten, dass das physische Leben doch noch nicht alles ist, sondern zum Leben des Menschen auch seine Würde gehört.

Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn die Proklamierung der menschlichen Würde als höchsten Wert ist schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 festgeschrieben. In der Präambel heißt es: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innenwohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet.“ [2]

Und „Die Würde des Menschen ist unantastbar., formulierte 1949 das Grundgesetz in Artikel 1. Vielleicht weil Deutschland geteilt und lange noch besetzt war, spielten diese universellen Werte keine große Rolle in der öffentlichen Diskussion. Die Würde des Menschen galt vor allem als Recht von Minderheiten oder Folteropfern anderswo.  

Nun holt die deutschen Friedensbewegten ihr defizitärer Menschenrechts- und damit auch Politikbegriff ein. Man meinte als Friedensfreund der bessere Mensch geworden zu sein und es ist natürlich bitter enttäuscht, dafür nicht überall geliebt zu werden.

Die menschliche Würde ist unabdingbar nicht nur mit der körperlichen Unversehrtheit verknüpft, sondern hat seinen Kern in der tagtäglichen Erringung der Freiheit. Oder in den Worten Hannah Arendts[3]: „Und Freiheit ist nicht nur eines unter vielen Phänomenen des politischen Bereichs, wie Gerechtigkeit oder Macht oder Gleichheit; Freiheit – auch wenn sie direktes Ziel politischen Handelns nur in Zeiten der Krise, des Krieges oder der Revolution sein kann – ist tatsächlich der der Grund, warum Menschen überhaupt politisch organisiert zusammenleben. Der Sinn der Politik ist Freiheit, und ohne sie wäre das politische Leben sinnlos.“[4]

Banal übersetzt heißt das, wer seine Freiheit nicht gegen einen militärischen oder kriminellen Aggressor verteidigt, der verliert vielleicht nicht sein Leben, aber seine Menschenwürde, die ohne Freiheit nicht existent ist. Zudem zeigen Butscha und die vielen Massengräber in den russisch besetzten Gebieten, dass nicht mal das Leben unter russischer Besatzung sicher ist.

Das haben die ehemaligen Staaten des Sowjetimperiums mit Ausnahme Ungarns sehr gut verstanden, auch die Ostseeanrainer Schweden und Finnland sehen das so. Die deutsche Bewältigung der Nazizeit und der Gräuel des II. Weltkriegs ist bei der Reflexion der universellen Menschenrechte leider zu kurz gesprungen, weil man die zweite Lehre aus der Nazizeit verdrängt hat: „Nie wieder Faschismus!“, und das heißt auch, der Nationalsozialismus konnte nur militärisch besiegt werden. Liebe Friedensfreunde, Friedensappelle und Verhandlungswünsche haben erst dann wieder Sinn, wenn die Aggression der Russischen Föderation zurückgeschlagen werden konnte.

Scholz und Co. können jederzeit beweisen, dass sie Zeitenwende als geistig-moralische Erneuerung[5] begriffen haben, wenn sie die Ukraine auch mit den nötigen Waffen, insbesondere auch Panzern, ausrüsten. Grüne und Liberale sind da zwar weiter, aber auch hier gilt: The proof of the pudding is into the eating!


[1] Vielleicht war der Maidan 2014 für die russische Mafia auch deshalb eine nicht hinzunehmende Bedrohung, weil die ukrainischen Oligarchen auch entmachtet wurden und nicht mehr zahlten. Das kann sich die Familie Soprano nicht leisten.

[2] Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 1948

[3] Dank an Bruno Heidlberger für dieses Zitat und die damit verbundene Inspiration. Portal für Politikwissenschaft – Die ukrainische Revolution und das Versagen deutscher Außenpolitik. Mit Bezügen zu Hannah Arendt (pw-portal.de) oder in Aufklärung und Kritik, 2/2022, S. 14

[4] Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, München 1994, S. 231

[5] Der frisch gewählte Bundeskanzler Helmut Kohl forderte 1982 eine geistig-moralische Wende. Von Grünen und Linken wurde das damals als Kampfansage gegen ein selbstbestimmtes Leben ohne kleinbürgerliche Spießigkeit verstanden. Gesagt hat Kohl in seiner Regierungserklärung zum Amtsantritt etwas ganz anderes, wie ich heute überrascht feststellen musste: „Die Frage der Zukunft lautet, wie sich Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung neu entfalten können. … Zu viele haben zu lange auf Kosten anderer gelebt: der Staat auf Kosten der Bürger, Bürger auf Kosten von Mitbürgern und – wir sollten es ehrlich sagen – wir alle auf Kosten der nachwachsenden Generationen.“ Weniger Staat, mehr Selbstverantwortung, soweit so neoliberal. Der Hinweis auf ein Leben „auf Kosten der nachwachsenden Generationen“ könnte jedoch auch von Fridays for Future oder den Aktivistinnen der Last Generation kommen. Das Wording ist dann schnell wieder in der Versenkung des politischen Alltags verschwunden.