Face saving

15. Mai 2022 1 Von Uli Gierse

Macron habe Selenskyj vorgeschlagen, territoriale Zugeständnisse an Putin zu machen, damit dieser sein Gesicht wahren könne. Selenskyj hatte das gegenüber RAI 1 behauptet (siehe Tweed), Macron hat dem aber inzwischen widersprochen. Es ist wahrscheinlich ein Missverständnis, aber ein vorhersehbares, da sowohl Macron wie Scholz eher Nebelkerzen werfen. Warum?

Aktuell ist in Deutschland viel davon die Rede, man dürfe Putin nicht provozieren, Putin müsse gesichtswahrend aus dem Krieg rausgehen können.  Hört sich einfühlsam an, ist es aber nicht.

Die Metapher “Man muss sein Gesicht wahren” verstehe ich so, dass man dann auch in Zukunft noch zu einer Cocktailparty eingeladen werden möchte. Ich würde Putin schon jetzt nicht mehr einladen, ob das z.B. die indonesische Regierung als nächsten Gastgeber der G20 tut, wird man sehen. Das ist Diplomatie und da gibt es andere Regeln als bei privaten Feiern.

Beide Fragen lenken aber von der wichtigsten Frage ab, ist Putin ein Faschist mit dem man gar keine Vereinbarungen treffen kann oder nur ein beliebiger Diktator? Und das ist eine strukturelle Frage, keine persönliche, und erfordert andere Antworten als eine persönlich psychologisierende Wertung seines Charakters.

Die Frage muss lauten: Wird die russische Gesellschaft durch die Herrschaft Putins zu einem aggressiv faschistischen Staat und wenn ja, was hat das für Konsequenzen in Bezug auf Krieg und Frieden in Europa und in der Welt?

Warum ist diese Frage entscheidend für mögliche Lösungen des Krieges?

Dazu ein Rückblick auf die Jahre 1938 folgende. Um einen Krieg mit Nazi-Deutschland zu verhindern zwangen das Vereinigte Königreich und Frankreich die tschechoslowakische Regierung Ende August 1938 im Münchener Abkommen das Sudetenland an Deutschland abzutreten.

Für den britischen Premier Chamberlain war dieses Zugeständnis an Hitler-Deutschland eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung, heute würde man das spieltheoretische Analyse nennen. Für Groß-Britannien wäre die Abtretung des kleinen Sudetenlandes ein geringer Preis im Vergleich zu einer Wiederholung des Ersten Weltkriegs mit all seinen Schrecken. Ähnlich sahen das die Franzosen.

Heute würde man sagen, Chamberlain war außenpolitisch ein „Realist“, ein Politiker also der versucht, das, was er als nationales Interesse ansieht an die erste Stelle zu setzen, moralische Argumente seinen dagegen nicht zulässig. [1]

Das lag daran, dass die meisten britischen Politiker die Bedrohung durch Nazi-Deutschland als Fortsetzung der Konflikte mit dem deutschen Kaiserreich oder auch vergleichbar mit den imperialen Zielen Napoleon ansahen.

Winston Churchill kam zu einem anderen Ergebnis: In seiner Rede vor dem Unterhaus am 5.Oktober 1938, also kurz nach dem Münchener Abkommen, warnte Churchill: „ Viele Leute glauben, zweifellos ehrlich, dass sie nur die Interessen der Tschechoslowakei aufgeben, während ich fürchte, dass wir feststellen werden, dass wir die Sicherheit und sogar Unabhängigkeit Großbritanniens und Frankreichs zutiefst gefährdet und vielleicht sogar tödlich bedroht haben.“ Churchill hielt es für unerlässlich „ den Charakter der Nazi-Bewegung und die Herrschaft, die sie mit sich bringt, zu berücksichtigen“.

Wenn man genauer hingesehen hätte, dann hätte man auch schon früher

erkennen können, dass Putin und seine Mittäter Russland zu einem klerikalfaschistischen Land ummodelten.

Ich kann mir denken, dass das Political-Correctness-Gehirn zurückschreckt, wenn man das böse Wort Faschismus hört,. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, der zudem in Deutschland immer im Verdacht steht, die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren.

“Faschismus” heißt aber nicht, dass am Ende immer 60 Millionen Tote, Völkermord und Holocaust stehen müssen, sondern beschreibt erstmal ein Herrschaftssystem, welches bestimmte Gemeinsamkeiten hat.

Der Faschismus war eine Reaktion auf die Globalisierung und die Ungleichheiten, die sie schuf. „Die Faschisten lehnten die Vernunft im Namen des Willens ab und sie leugneten die objektive Wahrheit zugunsten eines glorreichen Mythos, der von den politischen Führern beschworen wurde, welche behaupteten dem Volke eine Stimme zu geben. Sie gaben der Globalisierung ein Gesicht, indem sie behaupteten, deren komplexe Herausforderungen seinen Folge einer Verschwörung gegen die Nation.“[2]

Vor allem ist Faschismus  eine wirkmächtige Erzählung, die den Menschen, vor allem Sicherheit verspricht. Es soll eine homogene Gesellschaft zum Schutz gegen die angebliche äußere Gefahr errichtet werden, indem alle störenden Elemente eliminiert werden. Deshalb darf man Höcke auch ungestraft einen Faschisten nennen. Der Kerikalfaschismus  begründet diese Erzählung zusätzlich religiös.  

Wenn man sich Putins Reden genauer anguckt, sein Nähe zu Alexander Dugin (Alexander Dugin – Putins Rasputin – Feininger) und das was er über die Ukraine sagt, sehen wir ein Russlandbild, das von einer mythischen Gründung der Kiewer Rus, einem Wikingerstamm, aus geht und sich religiös seinen eigen Ausdruck  im orthodoxen Christentum schafft. Das ist für die Konstruktion eines Erlösertums wichtig. Putin geht von der christlichen Annahme aus, dass die Welt fehlerhaft (sündig) ist. Die Welt sei gebrochen und zersplittert, der Westen dekadent und moralisch verkommen und Russland habe die Aufgabe, die Welt zu heilen. Die Russen hätten also eine Mission, nur sie könnten das tun. Am russischen Wesen soll die Welt genesen. Das Bündnis mit der orthodoxen Kirche unter Patriarch Kyill I. aufzubauen, war Putin daher sehr wichtig.

Ein quasireligiöser Heilungsauftrag war auch die ideologische Basis des Nationalsozialismus, der nationale Reinheit durch Säuberung, durch Eliminierung aller Schädlinge, vor allem der jüdischen Bevölkerung, herbeiführen wollte. Das wurde rassistisch begründet. Ein reaktionäres Frauenbild und offene Homophobie traten korrespondierend dazu. Weitere Zutaten waren: das Anknüpfen an einen mythischen Kult der Tradition, im Nazifall der Germanen; die Ablehnung des politischen Systems der Moderne, Demokratie und Gewaltenteilung, da wesensfremd; ein Anti-Intellektualismus, der sich in Exzessen wie Bücherverbrennung und „Entartete Kunst“ niederschlug und damit vor allem die jüdische Intelligenz treffen wollte; Ablehnung von Differenz und Kritik als „undeutsche“ Entartungen, dagegen wurde das Ideal der Volksgemeinschaft gesetzt; Verachtung für Schwache; Proklamierung des Rechts des Stärkeren und damit Legitimation für territoriale Eroberungen und die Versklavung der eroberten Bevölkerung; Verschwörungstheorien wie die von einem imaginierten Weltjudentums, an deren Spitze das Finanzkapital auf der einen Seite und der jüdische Bolschewismus auf der anderen Seite die Weltherrschaft erringen wollten(Protokolle der Weisen von Zion). Das verschwörungsideologische Denken der Nationalsozialisten zeigte sich auch während des Krieges. Hitler erklärte zum Beispiel den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stets mit angeblichen Machenschaften des Judentums, dessen „Agent“ Winston Churchill sei: „Der Mann, der es gemixt hat, ist Churchill; hinter ihm das Judentum, das sich seiner bedient“.

Für Putin ist der Churchill von heute: Wolodymyr Selenskyj, der zwar Jude ist, aber von den Nazis in der Ukraine manipuliert wird. Denn die Feinde des russischen Volkes, und das können in der traditionellen Schlachtenordnung nur Nazis sein, wollen die Ukrainer: innen von ihrer tiefen Bestimmung entfremden.

Und die Russen hätten daher die Aufgabe, die Einheit von Russland mit ihrem mythischen Geburtsort Kiew wiederherzustellen. Und sie tun es, indem sie in die Ukraine einmarschieren und die ukrainische Intelligenz töten und die Ukraine wieder zu dem machen, was sie einmal waren, nämlich Teil der russischen Nation.
Putins Vorstellung von Zukunft ist es daher, dass man sich völlig diesem russischen Körper und der Idee von Russland hinzugeben habe.

Dieser russisch-orthodoxe Klerikalfaschismus hat einen Vorläufer im rumänischen Faschismus der „Legion des Erzengels Michael“, auch „Eiserne Garde“ genannt, in den 1920er bis 1940er Jahre, der auch im Bündnis mit der orthodoxen Kirche Rumäniens stand.

Katholischen Klerikalfaschismus gab es im Spanien Francos, in Kroatien durch Ustascha-Führer Ante Pavelić oder in Chile Pinocets. Islamischer Klerikalfaschismus kann man im Gottesstaat der Mullahs und im Wahhabismus der Saudis besichtigen. Ein Hauch von evangelikalem Klerikalfaschismus weht einem in der Republikanischen Partei Donald Trumps entgegen.

Und die westlichen Demokratien schauen ungläubig auf diesen Irrsinn wie das Kaninchen auf die Schlange. Wenn man etwas lernen will aus dieser immer wieder selbst verschuldeten Blindheit, dann doch, dass man genau hinsehen muss und nicht das glaubt, was man glauben will.

Faschismus driftet immer in Richtung Krieg, da nur in der Verlagerung der inneren Widersprüche auf äußere Feinde der Machterhalt gesichert werden kann. Jegliche Form von Appeasement stärkt sie daher nur. Deshalb muss die Lehre aus dem Nazi-Desaster auch sein: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Und zwar genau in dieser Reihenfolge.

Wenn man die Putinsche Ideologie als Klerikalfaschismus identifiziert hätte, dann hätte man sich die Sätze wie „Wir haben uns in Putin getäuscht“, schenken können. Eine Befriedung wie sie im Minsker Abkommen versucht wurde, ist zum Scheitern verurteilt. Und deshalb hat Selenskyj Recht, wenn er Macron geantwortet hat: Wir sind nicht bereit etwas von unserem Territorium zu verlieren, um etwas (das Gesicht) für jemanden zu retten.

Die die Erwartung haben, Faschisten warteten nur auf einen Kompromiss in Verhandlungen, haben nichts verstanden. Sie vertreten nur das, was sie glauben wollen. Und das hat man ja gesehen, führt zu einer fatalen Blindheit. Auch deshalb muss Putin zumindest diesen Überfall auf die Ukraine als Verlierer beenden. Wenn Putin gesichtswahrend gewinnt, ist das zumindest eine Gefährdungslage, welche die EU massiv verändern wird. Jeder EU-Staat wird sich in Richtung Garnisionsstaat entwickeln müssen, das heißt die Rüstungsausgaben werden alle anderen Reformen überlagern. Wer das nicht will, wer also Frieden schaffen will, ohne Waffen, der muss erstmal mit dafür sorgen, dass Putin diesen Krieg verliert. Face Saving hin oder her.



[1] Dohnanyi argumentiert heute ähnlich

[2] Timothy Snyder: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. München 2017, S.12