Unter dem Pflaster liegt der Strand

Unter dem Pflaster liegt der Strand

26. Dezember 2022 0 Von Uli Gierse

Was sollte sich ändern? Antworten mit Hannah Arendt (überarbeitet am 30.12.2022)

Inhalt: Wir sind solidarisch! – Wir haben begriffen! – Wir sind bereit für Veränderung! – Der Sinn von Politik ist die Freiheit! –  Unser Planet ist endlich! – Eine offene Gesellschaft braucht den Streit! – Eine liberale offene Gesellschaft muss sich wehren können! – Seid realistisch fordert das Unmögliche!

Der Jahreswechsel ist ein gern genutzter Anlass, über das vergangene und das zukünftige Jahr nachzudenken. Es macht auch Sinn, denn der Zeitpunkt ist zwar willkürlich, aber dafür im kollektiven Bewusstsein ein Markierungspunkt.

  1. Wir sind solidarisch!

Es ist die Zeit der guten Vorsätze und der gut gemeinten Appelle. Unser Kanzler hat schon mal zu Weihnachten in den Zauberkasten gegriffen: Weihnachten – alle -Gemeinschaft – Zusammenhalt [1]

Alle stehen zusammen – Wir sind das Volk – eine Gemeinschaft!

Solidarisch mit der Ukraine, mit den Flüchtlingen aus aller Welt, mit den EU-Nachbarstaaten, mit den in prekären Verhältnissen lebenden Mitbürgern? Bullshit – zu Weihnachten und zum Jahreswechsel ist wieder einmal viel von Solidarität die Rede, das meiste davon ist leider nur Hokuspokus.

Solidarität entsteht nicht einfach durch seine Beschwörung und auch nicht als moralischer Appell. Solidarität ist selbst gegen einen gemeinsamen Feind nicht selbstverständlich, wie man tagtäglich in Bezug auf die Ukraine sehen kann. Solidarität auf Grund von Angst funktioniert erst recht nicht, weil auf ängstliche Menschen kein Verlass ist, denn sie suchen normalerweise nach einem Weg aus der Angst und fliehen. Und der Bundeskanzler schürt diese Angst in der deutschen Bevölkerung eher, indem er in der Regel die Bedrohung in den Vordergrund rückt und nicht die Lust weckt, sich gemeinsam zu wehren.

 „Der gemeinsame Feind kann Solidarität nur wecken, und zwar in genau dem Maße als er Lust weckt, sich gemeinsam zu wehren (statt getrennt davonzulaufen).“[2]

Und sich gemeinsam zu wehren, bedeutet vorhandene Kampf- und Schützenpanzer, Patriot-Systeme etc.  an die ukrainischen Armee zu liefern und nicht zu verzögern.

2. Wir haben begriffen!

Das Wort „Zeitenwende“, welches die Spindoktoren von Olaf Scholz für den Vernichtungskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine gefunden haben, ist nicht nur das Wort des Jahres, sondern leider wahr.

Ich sage leider, weil nicht nur die im Rückblick so friedliche Zeit nach 1945 auch in Europa durch den Krieg der Russischen Föderation (eigentlich seit 2014) vorbei ist, sondern auch, weil der Krieg deutlich gemacht hat, dass nur der massive Aufbau einer Energie- Autonomie durch die Erneuerbaren uns aus der Abhängigkeit von einem Verbrecherstaat befreien kann. Paradoxerweise und auch das gehört zur Zeitenwende hat der Krieg eines fossilen Rohstoffhändlers das Thema Klimakatastrophe bei uns wieder auf die Agenda gestellt, die vorher vor allem von der Corona-Pandemie beherrscht wurde. Der Krieg und die wirtschaftliche und soziale Transformation, die das Aufhalten der Klimakatastrophe nötig macht, konfrontiert uns mit grundsätzlichen Fragen.

3. Wir sind bereit für Veränderung!

Es geht dabei auch um eine neue Politik, die Abkehr vom neo-sozialdemokratischen Denken in Einzelthemen. Politik, gern auch als bezahlte Beratung von Beratungsfirmen, ist komplexer als das gewerkschaftliche Modell von Tarifverhandlungen. So kann man in Detailfragen wie Gas- und Strompreisbremse, Kindergelderhöhung, Bürgergeld oder Mindestlohn verfahren, die Klimakrise und auch der Krieg gegen die Ukraine stellt uns allerdings vor komplexere Entscheidungen. Die Komplexität der Transformation  stellt grundsätzliche Fragen an die Politik und an die Gesellschaft.

Die einfachste zuerst: Weniger Wachstum, teurere Lebensmittel und teures Benzin dürfen nicht ohne die Zustimmung des unteren Teils der Einkommensverteilung beschlossen werden. Das obere Drittel oder zumindest die Superreichen müssen sich an der Kompensation der Lebenskosten beteiligen. Andernfalls droht ein weiterer Rechtsruck. Aber werden die Reichen sich beteiligen oder werden sie sich in Steueroasen zurückziehen?

Wie kann diese Beteiligung aussehen?

Aus Vermögensteuer und Erbschaftssteuer könnte ein der Umverteilung geschaffen werden, aus dem ein bedingungsloses Grundeinkommen finanziert werden könnte. Ein interessanter Vorschlag kommt von Piketty, dieser schlägt zur Existenzsicherung der jüngeren Generation vor, dass jeder  zum 25. Geburtstag 125.000 Euro aus dem Topf der Umverteilung bekommt, um sich eine eigene Existenz aufzubauen.  Am besten EU-weit.

Es müssen also Entscheidungen getroffen werden, die schmerzhaft sein können und aktuell noch keine parlamentarische Mehrheit haben.

4. Der Sinn von Politik ist die Freiheit!

Die Begründung für diese Umverteilung, die die Reichen und Superreichen nicht arm werden lässt, sondern wahrscheinlich werden sie es gar nicht merken, ist ganz einfach: Es geht um den Sinn von Politik.

Nicht als Opferentschädigung, sondern als Einlösung von Freiheit und Chancengleichheit.

Die menschliche Würde ist unabdingbar nicht nur mit der körperlichen Unversehrtheit verknüpft, sondern hat seinen Kern in der tagtäglichen Erringung der Freiheit. Oder in den Worten Hannah Arendts[3]: „Und Freiheit ist nicht nur eines unter vielen Phänomenen des politischen Bereichs, wie Gerechtigkeit oder Macht oder Gleichheit; Freiheit – auch wenn sie direktes Ziel politischen Handelns nur in Zeiten der Krise, des Krieges oder der Revolution sein kann – ist tatsächlich der der Grund, warum Menschen überhaupt politisch organisiert zusammenleben. Der Sinn der Politik ist Freiheit, und ohne sie wäre das politische Leben sinnlos.“[4]

In einer zu Heute vergleichbaren Situation, im Angesicht des drohenden Atomkrieges, schrieb Arendt 1962: „So ist der Begriff der Freiheit, der lange Zeit zugunsten der Vorstellung, Ziel aller Herrschaft sei nicht die Freiheit, sondern die Wohlfahrt des Volkes, das Glück der höchsten Zahl, aus den politischen Diskussionen irgendwie verschwunden war, nun ins Zentrum der Staatskunst zurückgekehrt“3.

Die utilitarische Sicht, Glück der höchsten Zahl,  kommt vielen Politikerinnen entgegen, denn sie glauben, wenn sie nur ihre Klientel materiell ein wenig pampern, dann werden sie wiedergewählt. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft und mehr sei in einer Demokratie mit Verhältniswahlrecht nicht drin. Es müssen Kompromisse gemacht werden, das sei das Wesen von Politik, und so wurschtelt man sich durch.  Die Königin des Durchwurschtelns in Berlin oder Brüssel war Angela Merkel, und dafür wurde sie geliebt. Doch schon kurz nach ihrem Abschied man gemerkt, dass diese eher passive Abwartehaltung Deutschland in eine fatale und teure Abhängigkeit von russischem Öl, Gas und Kohle gebracht hat. Und nicht nur das. Deutschland hat um dem großen Götzen Schuldenbremse gefällig zu sein, wesentliche Bereiche der staatlichen Infrastruktur kaputtgespart und andere wie die Digitalisierung nicht entwickelt. Merkel nannte ihre Politik gern alternativlos – Realpolitik, die sich auf das was real ist konzentriert und alle Ideologie hinter sich lässt.

Hannah Arendt bemerkte 1942 (!) dazu: „Solche Fragen (es geht um die militärischen Kampf gegen die Nazis und dem Wusch nach einer jüdischen Armee, welche von den Engländern abgelehnt wurde) kann nur der stellen, der noch immer nicht begriffen hat, wie unglaublich verliebt ein Realpolitiker in die Realität ist. Allein die Tatsache, daß eine Sache wirklich existiert, versetzt ihn in solch einen Enthusiasmus, daß er sich gar nicht mehr fragen kann, ob das Existierende für oder gegen ihn ist. Da ferner die Realitäten, die am nächsten sind, sich am stärksten fühlbar machen, rechnet ein realistisch denkender Mensch nur mit dem, was direkt vor seiner Nasenspitze liegt.“[5]

Ich finde, dass erklärt die Blindheit der Merkel/Steinmeier – Russlandpolitik und die Sehschwäche der SPD-Führung bis heute gut.

Realpolitiker und Friedensfreund Mützenich beklagt in dem TAZ-Interview, dass „Menschen sich das gegenseitig antun“. Der Krieg der Russischen Föderation wird individualisiert, und die Ukrainer werden zu Mittätern gemacht. Und das ohne Not, sondern weil man nicht bereit ist sich den neuen Fragen zu stellen. Und ist dann auch nicht bereit einzusehen, dass die Russische Föderation diesen Krieg verlieren muss und es eine Fortsetzung der Appeasementpolitik nicht geben darf, will man nicht auf absehbare Zeit von Russland bedroht werden.

Die aktuellen Krisen (Krieg und Erderhitzung) bedrohen unsere Freiheit und die unserer Kinder. Und wenn man Hannah Arendt folgen will, dann gibt es keinen höheren Sinn für Politik als die Freiheit.

In der Ukraine wird aktuell die Freiheit Europas, die auf dem festen Versprechen, Konflikte nur friedvoll zu lösen, beruhte, vor einem revisionistischen Russland verteidigt. Und wie selbst das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, ist Klimaschutz Freiheitsverteidigung für die jüngeren Generationen. Beides ist leider in der Bundesregierung und auch im Bundestag bis heute nicht angekommen, trotz Zeitenwende-Rede. 

Die Bundesregierung will niemand verunsichern und behauptet daher, sie habe die Lage im Griff. Und im Zweifelsfall gibt es einen Doppel-Wumms. Das hat zwar die befürchtete Mobilisierung des rechten Lagers erstmal verhindert, ist jedoch keine Lösung auf Dauer.

5. Unser Planet ist endlich!

Die Rückstände in der Digitalisierung, in der Gesundheitsversorgung, bei der Deutschen Bahn kann man sicher im nächsten Jahrzehnt aufholen, die grundlegenden Fragen hat man damit aber noch nicht beantwortet.

Ist das Kapitalismus-Modell, nur über Wachstum Fortschritt und Wohlstand generieren zu können, noch zukunftstauglich?

Man tut so als sei die Dekarbonisierung der Energieversorgung ein Klacks und würde zum Erfolgsmodell, bei der die deutsche Industrie weiter mit billiger Energie rechnen könnte. Stimmt das denn?

Das Erfolgsmodell der kapitalistischen Moderne ist am Ende angekommen, meint dagegen Ulrike Hermann (siehe auch Fossile Energien und Krieg vs. „grünes Schrumpfen“ (Ulrike Hermann) – FEININGER). Ich fürchte, sie hat Recht, denn die Moderne fußte auf dem Selbstverständnis, dass wir, wenn wir nur aggressiv genug gegen die Natur vorgehen, genug Energie und genügend Rohstoffe haben, um mit Technologie Arbeit zu ersetzen und ausreichende Konsumgüter zu produzieren.

Diese Ausbeutung der Natur kommt aber faktisch an ein natürliches Ende, der Begrenzheit der Resourcen und muss daher schnellstens gestoppt werden: Nicht um die Natur zu retten, sondern um ein Leben von Menschen auf der Erde weiter möglich zu machen. Die Rettung der Artenvielfalt ist davon ein wesentlicher Punkt.

Doch selbst wenn es schnell gelingt – dank, privater Gier nach Profit – die Erneuerbaren schnell zur alleiniger Energiequelle zu machen, bleibt das Problem des Wachstums als stabilisierendes Element des Kapitalismus. Die chemischen Elemente sind begrenzt, Metalle sind endlich. Selbst für die nötigen Photovoltaik-Module werden die Rohstoffe knapp. Es stellt sich also die Frage, ob wir so weiter wirtschaften können und sollen?

Die Moderne beruht zum einen auf dem Prinzip der ständigen Wachstums der Ökonomie, aber auch existentiell auf einem Modell, Produktivität und Wachstum durch Aggression auch in den sozialen Verhältnissen herzustellen. Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf, aber des Menschen Konkurrent. Geiz ist geil, wie man neudeutsch sagt. Dieses Modell der allseitigen Konkurrenz hat mit der Erfindung der Sozial-Media-Plattformen nun auch den Einzelnen erreicht. Das wirkt sich zum einen in den Shitstorms von virtuellen Stammeskulturen wie aber auch als Konkurrenz mit uns selbst, neudeutsch Selbstoptimierung.

Dabei geht es doch nur darum, ein besseres Leben zu ermöglichen. Das hat in der Moderne durch den Kapitalismus eine Zeitlang ganz gut geklappt, obwohl die soziale Frage zwar ungelöst blieb, gab es die säkularisierte Hoffnung auf eine positive Zukunft, wenn nicht für einen selbst, dann aber für unsere Kinder.

Die Triebfeder der Moderne war eine generelle kulturelle Stimmung, die wirtschaftliches Wachstum als Vorwärtsbewegung betrachtete. Auch die Menschen, die in schwierigen sozialen Verhältnissen leben mussten, konnten die Hoffnung haben, dass es ihnen oder ihren Kindern mal besser gehen würde, wenn sie bereit waren, hart zu arbeiten. Ökonomisches Wachstum sollte zur Überwindung der Knappheit, der Armut und des Mangels führen. Und damit sollte auch en passant das Versprechen der Aufklärung eingelöst werden, den Menschen aus seiner Unmündigkeit zu befreien.

Dieses Modell ist in der schon lange in der Krise. Selbst in den alten westlich kapitalistischen Staaten gibt es seit ca. 2000 keine Entwicklung mehr, in der die Kinder bessere Jobs als ihre Eltern erlangen könnten, sondern bestenfalls gelingt es das Wohlstandsniveau zu halten. Man spricht daher in der Soziologie von der Postmoderne. Und das alles noch unabhängig von der notwendigen ökologisch-sozialen Transformation.

6. Eine offene Gesellschaft braucht den Streit!

Die positive Zukunft ist gerade nicht zu sehen. Es geht für alle Seiten nur um die Verhinderung des Schlimmsten. Es gibt nur apokalyptische Szenarien, gegen die wir kämpfen: Klimaapokalypse, Pandemien, neoimperialistische Diktaturen, die kein Problem mit Vernichtungskriegen haben und ökonomische Krisen, die von einem weiteren Crash der völlig aus dem Ruder gelaufenen Finanzmärkte noch optimiert werden könnten.

Doch darüber wird nicht diskutiert. Und das ist fatal, denn wenn es um die Verteidigung der Freiheit als Zweck geht, dann muss es auch die Freiheit der politischen Debatte als Mittel geben.

Da es diese Debatte nicht wirklich gibt, sondern die politische Klasse sich nur gern selbst auf die Schulter klopft, wundert es mich nicht, dass Teile der jüngeren (letzten?) Generation  in tiefe Zukunftsskepsis fallen und das machen, was sie können: Bilder auf Instagram inszenieren. Aufmerksamkeiterzeugen ersetzt aber nicht den politisch inhaltlichen Streit. Zwei Jahre nach Friday-for-Future ist es zu wenig, auf einem Tempolimit, 9 Euroticket oder dem Beharren auf einer Zahl, 1,5 Grad, zu beharren. Gefragt sind Antworten auf komplexe Fragen.

Da ist eine Entwicklung am Werk, die gut in das Bild der bürokratisierten Politik passt. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Wichtig ist nicht die Auseinandersetzung mit anderen, sondern nur die eigene Selbstoptimierung. Jagoda Marinic’ bezeichnet in einem SZ-Kommentar das als neues Biedermeier: “Der Selbstoptimierungsfanatismus zwischen überhöhter Yogapraxis und überbewussten Atemtechniken ist das neue Biedermeier. Das neue Biedermeier braucht keine Holzmöbel, sondern Bilder von seiner Zen-Matte auf Instagram. Als Biedermeier löst man die Spannungen nicht mehr in Auseinandersetzungen mit anderen, man atmet die Anspannung weg.” (Silvester: Bitte nicht noch mehr Selbstoptimierung – Meinung – SZ.de (sueddeutsche.de)

Kritik an den mangelnden Fortschritten der Ampel ist nötig, aber bleibt letztlich hilflos, wenn es nicht gelingt aus der „Zeitenwende“ eine Wende im Denken hinzubekommen. Der paternalistische Slogan von Olaf Scholz „You never walk alone“ oder das abstrakte Beschwören des Zusammenhalts bringt uns dabei nicht weiter.

7. Eine liberale offene Gesellschaft muss sich wehren können!

Wehrhaft zu bleiben ist offensichtlich gegen Aggressoren wie Putin nötig, aber auch im normalen Alltag. Lernt man das in der Schule? Sich wehren, Kritik zu äußern, selbst Entscheidungen zu treffen? Komplexität gut zu finden? Fehler gut zu finden? Mündigkeit, Selbstständigkeit als Ziel anzusehen? Oder ist die Oberlehrerin der Nation weiter Teflon-Merkel, an der alle Kritik abperlt? Merkel war ein Vorbild an Anpassung. Und das lernt man auch an der Schule, Anpassung, Opportunismus lohnt sich.

Streit gilt bei Menschen, die sich anpassen wollen, als schlecht. Und Parteien, die sich intern streiten, wurden häufig abgewählt. Das Schwarz-Weiß-Denken ist so gesehen nicht nur das Produkt von Social-Media-Plattformen, sondern Ergebnis von Schule und Politik. Wenn man das ändern will, muss man Streiten als notwendiges Element von Demokratie verteidigen und Debatten um Veränderungen fördern und nicht tabuisieren.

Von fatalem Schwarz-Weiß-Denken sind auch die Debatten um postkoloniale und gendertheoretische Identitätspolitik geprägt. Da wird eine virtuelle identitäre Stammeskultur von Opfern konstruiert, die gegen alle nicht der eigenen Blase Zugehörigen aggressiv austeilt. Vielfalt, Diversität sieht anders aus.

Eine offene, freie Gesellschaft ist nicht im Rahmen von Zweifrontenkriegen (Wir und die anderen) lösbar, sondern nur dann, wenn allen Beteiligten klar wird, dass eine Debatte in Freiheit den Respekt vor der Meinung des anderen gebietet. Kurz gesagt, es muss einen Maßstab geben, um Politik und auch Identitätspolitik beurteilen zu können. Dieser Maßstab kann aber nur das Produkt einer sich entwickelnden Zivilgesellschaft sein und nicht ein Dogma, welches Teilgruppen oder auch die Mehrheit ausgeben. Der Weg aus Patriarchat, Homophobie, Rassismus und Kolonialismus ist lang.

Das heißt aber nicht, dass Ideologien, die menschenverachtend sind, mit den Prinzipien unserer Verfassung im Einklang wären. Der misogyne, homophobe, antisemitische, terroristische Islamismus zum Beispiel der Islamischen Republik Iran ist raus als dem demokratischen Konsens.

Der politischer Islamismus gewinnt seine zerstörerische Aggressivität aus einer Konstruktion als Opfer von westlichem Imperialismus und Kolonialismus. Hier kommt aber hinzu und das verbindet Islamisten mit anderen identitären Stämmen wie den Rechtsradikalen, sie sehen ihre „Identität“ bedroht. Allen gemeinsam ist eine Sehnsucht als Opfer anerkannt zu werden.

Wenn Linkspopulistinnen nun meinen, man würde mit der Kritik am Islamismus einer Islamophobie das Wort reden, trifft das zwar auf die Argumentation der AFD zu, nicht aber auf die Kritikerinnen, die Islamisten nicht als Moslems kritisieren, sondern wegen ihrer undemokratischen, frauenfeindlichen, homophoben und antisemitischen Ideologie und Praxis.  Letztlich kommt es immer darauf an, Menschen nicht als Kollektive, sondern konkret als Menschen zu schätzen oder zu verurteilen. Oder wie der Kölner sagt: Jeder Jeck ist anders. 

8. Seid realistisch, fordert das Unmögliche!

Die  Frankfurter Spontis der Siebziger (Leute wie Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit) hatten mal eine Zeitschrift, die hieß Pflasterstrand. Dieser Name wurde inspiriert von der Parole der französischen 68-Revolte „Unter dem Pflaster liegt der Strand“.

Schön an der Metapher ist, dass es sich dabei um einen Zustand, der noch verwirklicht werden soll, handelt. Wir müssen die Pflastersteine erst mal wegräumen, wenn wir den schönen Strand finden wollen.

Zukunft lässt sich nicht verordnen, sondern nur praktisch entwickeln. Kritik und Debatte sind dabei unverzichtbar.

Die Psychologie und auch unsere Erfahrung sagt uns, dass Menschen sich nur ungern verändern, unser Gehirn will eigentlich in Ruhe gelassen werden, um sich den alltäglichen Dingen widmen zu können. Professorinnen sind deshalb sprichwörtlich zerstreut.

Deshalb werden Menschen nur genussvoll neue Gewohnheiten annehmen. Veränderung braucht Komfort, die Aussicht auf einen schönen Sandstrand.

Doch was machen unsere politischen Parteien? Sie kritisieren den politischen Gegner und belobigen sich selbst. Alles wird gut, wenn du mein Waschmittel kaufst. Angela Merkel wird heute kritisiert, dass sie Putins Krieg mit ermöglicht hat, weil sie konfliktscheu die Russlandpolitik durch finanzielle Abhängigkeit absichern wollte. Doch was macht die Ampel anders, wenn sie die aktuellen Krisen schönredet und feige vor Putin kuscht, indem sie die Ukraine z.B. nicht mit Kampf- und Schützenpanzer ausrüstet.

Als erstes muss sich also die Debattenkultur in der Politik ändern. Politische Parteien müssen bereit sein, zuzugeben, dass es viele offene Fragen in Bezug auf die Transformation in eine bessere Zukunft gibt. Und dazu müssen diese Fragen in den Parteien wie auch in allen möglichen Medien und Räumen diskutiert werden. Das meint auch das Grundgesetz[6], wenn es von der Mitwirkung an der Bildung des politischen Willens des Volkes redet. So gesehen sind Parteien auch pädagogische Einrichtungen der Mündigkeitserziehung. Eigentlich müsste ihnen die staatliche Finanzierung gestrichen werden, da sie ihrer Aufgabe nicht gerecht werden.

Denn erst wenn die Pflastersteine in einer öffentlichen Debatte identifiziert werden, können wir sie wegräumen, und damit den Glauben an eine Zukunft wieder erwecken. Und die Aufgabe der Bürokratie, des Staatsapparats, wäre es dann, die Probleme einer Lösung zuzuführen und nicht nur zu verwalten.

Wenn man Visionen hat, muss man nicht zum Arzt, sondern dann ist man auf der Suche nach einem besseren Leben und genau darum geht es. Es ist wie bei der Solidarität, Menschen sind nur dann bereit ihre Rituale und Gewohnheiten zu ändern, wenn damit die Erwartung, dass das Leben besser wird, verbunden ist. Dann ist Mensch auch bereit sich zu ändern und aufgeschlossen für die Argumente anderer. Das wäre dann eine offene Gesellschaft, eine selbstbewusste Zivilgesellschaft, beides ist heute, obwohl sich alle darauf beziehen, leider noch eine konkrete Utopie, an der man arbeiten muss.


[1] Auf Twitter am 24.12.2022, aufgerufen am 25.12.2022

[2] Hannah Arendt: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher: Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung Aufbau, S.57

[3] Dank an Bruno Heidlberger für dieses Zitat und die damit verbundene Inspiration. Portal für Politikwissenschaft – Die ukrainische Revolution und das Versagen deutscher Außenpolitik. Mit Bezügen zu Hannah Arendt (pw-portal.de) oder in Aufklärung und Kritik, 2/2022, S. 14.

[4] Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, München 1994, S. 231

[5] Arendt, Hannah. Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher: Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau« 1941–1945 (German Edition) (S.61). Piper ebooks. Kindle-Version

[6] Grundgesetz  Art 21: §1 Verfassungsrechtliche Stellung und Aufgaben der Parteien

(1)Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe.

(2) Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, indem sie insbesondere auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluss nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen.