Zum 9. November: Unser Vermächtnis
Dokumentation
Rede von Jason Stanley (Dokumentiert in der FAZ vom 11.11.25)
Ein Jude, schrieb der liberale Rabbiner Leo Baeck, fragt nicht, was er glauben soll, sondern was er tun soll. Was sollen wir heute tun? Eine Rede, die am 9. November in der Frankfurter Synagoge nicht vollständig vorgetragen werden konnte.
Am 7. November 1938 erschoss der siebzehnjährige Herschel Grynszpan in Paris den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Er war verzweifelt über die Lage seiner Eltern, polnischer Juden, die aus Deutschland vertrieben und faktisch staatenlos geworden waren. Grynszpan hatte allen Grund, zutiefst wütend auf ein Regime zu sein, das ihm seine Menschlichkeit absprach, seine Menschenrechte missachtete und seine Sicherheit und sogar sein Leben bedrohte.
Mein Urgroßvater, Magnus Davidsohn, war von 1912 bis zur Reichspogromnacht während der gesamten Existenz der Synagoge an der Fasanenstraße in Berlin deren Hauptkantor; Leo Baeck war viele Jahre lang ihr Rabbiner. In den 1957 erschienenen Memoiren meiner Großmutter Ilse Stanley, „Die Unvergessenen“, schildert sie, wie ihr Vater an jenem Abend seine Erleichterung ausdrückte: „Es ist ein Glück, dass der Mann, der ihn erschossen hat, kein Jude aus Deutschland war. Wir hatten großes Glück.“
Goebbels wollte die liberale Synagoge zerstört sehen
Es stellte sich heraus, dass die Nazis sich nicht um solche subtilen Unterschiede scherten. Die NS-Regierung hatte jahrelang auf genau ein solches Ereignis gewartet. In einem von Propagandaminister Joseph Goebbels geplanten Angriff riefen die staatlichen Medien zu einem Anschlag auf die Juden Deutschlands auf. Die Memoiren meiner Großmutter enthalten eine Beschreibung der Radiomeldung vom Abend des 9. November, die dem Anschlag auf die deutschen Juden unmittelbar vorausging: „Der Abend verstrich. Ich wurde unruhig und schaltete das Radio ein. Dessen lauter Lärm brachte die Außenwelt plötzlich in das stille Zimmer. Der Kommentator verlas soeben die neuesten Meldungen: ,Der Leichnam des jungen Barons von Rath wird zur Beisetzung nach Berlin überführt. Wie bereits berichtet, ist Baron von Rath, der in Paris von einem Juden angeschossen wurde, heute Abend seinen Verletzungen erlegen. Wir können den Juden in Paris nicht anklagen; er ist außerhalb unserer Reichweite. Doch das deutsche Volk fordert Gerechtigkeit für dieses Verbrechen an einem seiner besten jungen Männer. Das deutsche Volk fordert, dass die Juden in Deutschland für den Mord an einem unschuldigen Mann büßen – es fordert volle Vergeltung für dieses unfassbare Verbrechen, diese dreiste Provokation des Weltjudentums gegen das deutsche Volk. Wir nehmen die Herausforderung an und beantworten sie mit der berechtigten Empörung, die in jedem Herzen gegen die jüdischen Mörder aufsteigt.‘“
Was meine Großmutter damals noch nicht wusste: Die Synagoge, die in meiner Familie „unser Haus“ genannt wird, war von Goebbels persönlich zur Zerstörung verurteilt worden.
Kurz nachdem meine Großmutter das Radio ausgeschaltet hatte, sah sie, wie sie schreibt, „einen roten Schein die Dunkelheit erhellen [. . .] Mein Haus stand in Flammen.“ Meine Großmutter arbeitete damals im Untergrund mit der jüdischen Gemeinde Berlins im Konzentrationslager Sachsenhausen. Sie wusste genau, wozu die Nazis fähig waren. In diesem Moment war sie mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Berlins zusammen (den sie „Herrn Gross“ nannte). Als sie zur Tür hinausgingen, flehte er sie an, nach Hause zu gehen, worauf sie antwortete: „Zuerst zu meiner Synagoge. Bitte – zuerst zu meiner Synagoge.“
„Wir stürmten hinaus, als beide Telefone erneut klingelten. Sie klingelten mir die ganze Fahrt über in den Ohren, während Herr Gross mit rasender Geschwindigkeit durch die stillen Straßen Berlins raste. Ich wusste, sie würden weiterklingeln – aus allen Teilen Berlins, aus anderen Städten, aus Städten in ganz Deutschland. Sie würden die ganze Nacht klingeln. Wir bogen in die Fasanenstraße ein, parkten und rannten zum Tempel. Er war fast im dichten Rauch verschwunden, doch aus den Kuppeln loderte Feuer und tauchte den Himmel in ein rotes Licht. Menschen drängten sich umher, zurückgehalten von SA-Männern. Ich verstand nicht alles, aber die Details brannten sich in mein Gedächtnis ein. Einige Frauen mussten den Messwein gefunden haben. Sie schütteten es auf die Flammen, während sie das Horst-Wessel-Lied sangen: „Wenn das Blut der Juden aus unseren Messern spritzt“, schrien sie und sprangen wild umher. Das kenne ich doch, dachte ich. Woher nur? Natürlich aus Filmen über die Französische Revolution, als sie um die Guillotine tanzten . . .“
Gründgens schickte seinen Gestapo-Wagen
Meine Großmutter war Schauspielerin, ausgebildet von Max Reinhardt und später unter anderem für Fritz Langs Film „Metropolis“ engagiert. Der Legende nach schickte ihr Freund Gustaf Gründgens seinen Gestapo-Kommandowagen, um meinen Vater abzuholen, der zehn Tage später sechs Jahre alt wurde. Wie bei jedem Angriff auf eine zum Sündenbock gemachte Minderheit war damit nicht meine Großmutter gemeint.
Das Ziel von Goebbels war es, die Juden in Konzentrationslagern so brutal zu behandeln, dass man sie zur freiwilligen Deportation zwingen konnte. Ende Juli 1939, mehr als acht Monate später, taten meine Großmutter und mein Vater genau das: Sie segelten von Hamburg ab, vorbei an der Freiheitsstatue, in ihr neues Zuhause in New York. Meine Großmutter schreibt in ihren Memoiren: „Wie Millionen andere wurde auch ich dazu auserwählt, ein Doppelleben zu führen. Eines Tages, der wie jeder andere schien, wurde mir gesagt: ‚Bleib genau dort stehen, wo du bist. Dein Leben ist beendet. Erfüllt oder nicht – es endet jetzt. Du wirst nicht sterben – geh und beginne ein neues. [. . .] Obwohl ich stolz darauf war, das Privileg zu haben, ein zweites Leben fernab meines Geburtsortes zu beginnen, blieb ich von dem Gefühl der Qual nicht verschont. Meine Wurzeln waren tief in der deutschen Erde verankert. Vielleicht brach ein Teil davon ab und blieb dort, denn wie soll ich erklären, dass mein Herz manchmal von einer Kraft angezogen wird, die Tausende von Kilometern entfernt ist?“
Mein Vater und seine Familie verkörperten eine deutsch-jüdische Tradition, die sich tief mit Deutschland identifizierte. Bevor er in die Synagoge ging, war mein Urgroßvater Opernsänger. Zwei Mitglieder des ursprünglichen Wagner-Ensembles waren Juden. Mein Urgroßvater war einer von ihnen, der andere sein Bruder Max. Für meine Familie war es völlig unverständlich, dass irgendjemand sie nicht als Deutsche ansehen könnte. Deutschland war für sie ein Land, in dem Menschen verschiedener Religionen im Grunde dazugehörten. Doch 1935 wurde meinem Vater, seinen Eltern und Großeltern die Staatsbürgerschaft aberkannt, trotz dieser tiefen Verbundenheit mit ihrem Land.
Im Ruhrgebiet noch nie einen Juden getroffen
Als Teenager in Deutschland spürte ich diese Ablehnung auch, wenn auch weniger stark. Ich wurde ständig gefragt: „Woher kommst du wirklich?“ Wenn ich „Deutschland“ antwortete, lachten mich Leute aus, deren Familien keinerlei Verbindung zum Erbe Wagners hatten. In den Achtzigerjahren hatte im Ruhrgebiet noch nie jemand einen Juden getroffen. Ich galt als jemand mit arabischen oder türkischen Wurzeln, nicht mit deutschen. Deshalb fühle ich mich den Deutschen, die als „Passdeutsche“ beschimpft werden, zutiefst verbunden. Diejenigen, die heute diese Bezeichnungen verwenden, um ihre Mitbürger zu verteufeln, hätten ähnliche Ausdrücke auch benutzt, um meine Familie zu beschreiben. Das weiß jeder hier.
Seit Beginn der Aufklärung plädierten die deutschen Juden für den Liberalismus, für eine Gesellschaft, die auf gemeinsamer Menschlichkeit basiert. In seinem Aufsatz „Über die Frage: was heißt aufklären?“ von 1784 schreibt der deutsch-jüdische Philosoph Moses Mendelssohn: „Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen.“ Das Ideal einer Gesellschaft, die sich der Verbesserung der Menschheit widmet, ist von zentraler Bedeutung für das deutsch-jüdische Aufklärungsdenken. Dies war eine Vision der Freiheit, die eine reiche menschliche Vielfalt, einschließlich religiöser Vielfalt, ermöglichte.
Heute dienen auch Transsexuelle als Sündenböcke
Laut dem NS-Politiktheoretiker Carl Schmitt entsteht eine Nation durch die Wahl eines Feindes. Die Wahl eines Feindes vereint ansonsten unterschiedliche Elemente einer Gesellschaft. Die Nazis wählten die Juden. Zu anderen Zeiten, an anderen Orten wurden andere Gruppen als Sündenböcke ausgewählt – Muslime, Schwarze, Transsexuelle. Die Konstruktion einer Nation auf der Grundlage der Wahl eines rassischen, ethnischen, religiösen oder sexuellen Feindes ist der Kern des Faschismus.
Liberale Demokratie ist das Gegenteil von Faschismus. Sie ist ein System, dessen zwei Ideale Freiheit und Gleichheit sind. Freiheit bedeutet, dass Menschen ihre Kulturen und Traditionen frei wählen dürfen; keine Tradition ist unantastbar. Gleichheit bedeutet, dass keine Gruppe über eine andere gestellt wird.
Weltweit erleben wir, wie Autokratien liberale Demokratien mithilfe bekannter faschistischer Mechanismen verdrängen. Die faschistische Formel basiert auf der Theorie des Großen Austauschs. Die Nation wird mit einer dominanten rassischen, religiösen oder ethnischen Mehrheit identifiziert. Rassische, religiöse und sexuelle Minderheiten werden verunglimpft. Gleichheit wird als Mythos dargestellt. Die Vergangenheit der Nation wird als glorreich verklärt. Kritik an der Geschichte wird als Verrat gebrandmarkt.
Ziel der Attacken war der Liberalismus
Die zentralen antisemitischen Texte der NS-Ideologie, die „Protokolle der Weisen von Zion“ und „Mein Kampf“, richten sich nicht gezielt gegen religiöse Juden. Das Ziel ihrer Attacken ist vielmehr der Liberalismus, für den sie die Juden verantwortlich machten. Anstoß nahmen sie an der Einwanderung von Nichtweißen, die sie dem Liberalismus und somit den Juden anlasteten. Kurz gesagt, sie richteten ihre Waffen gegen die multirassische und multireligiöse Demokratie – eine Idee, die der Nationalsozialismus den Juden zuschrieb.
Deutsche Faschisten behaupten, religiöse Minderheiten seien eine Bedrohung für die deutsche Größe und Tradition. Wir sollten stets vorsichtig mit dem Vokabular nationaler Größe umgehen. Doch aus heutiger Sicht lässt sich klar erkennen, dass Deutschlands kulturelle Tradition und sein Erbe, und ein Großteil seiner Größe, eher das Ergebnis seiner religiösen Toleranz und seiner liberalen Traditionen sind als deren Gegenteil. Denn was wäre die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ohne den Beitrag ihrer jüdischen Bevölkerung?
Die deutsch-jüdische Tradition, die die Familie meines Vaters verkörpert, ist eines der größten Vermächtnisse der Menschheit. Deutschsprachige Juden haben so viel zur Mathematik, Physik, Philosophie, Literatur und Kunst beigetragen. Im zwanzigsten Jahrhundert gewannen deutsche Juden mehr als zwanzig Nobelpreise. Von unseren Mathematikern über unsere Philosophen bis hin zu unseren Schriftstellern und Denkern – die moderne Welt der Kultur, Kunst und Wissenschaft wäre ohne den Beitrag deutschsprachiger Juden schlichtweg unvorstellbar. Der Verlust der liberalen intellektuellen Tradition der deutschsprachigen Juden ist eine große Tragödie. Die „deutsche Größe“ war historisch gesehen immer nur durch die Vernichtung ihrer religiösen Minderheiten gefährdet, nicht durch deren Blüte.
Auch jüdische Werte wurden vertrieben
Es ist notwendig, sich daran zu erinnern, dass die Reichspogromnacht inszeniert wurde, um nicht nur uns Juden aus Deutschland zu vertreiben, sondern auch die Werte und Ideale, für die wir eintraten – Liberalismus, Humanismus, Kosmopolitismus. Man sollte wohl die Traditionen keines Landes als großartig betrachten. Doch insofern die deutschen Traditionen großartig sind, liegt das an der deutschen Weiterentwicklung dieser Ideale.
Im Sinne dieser liberalen Ideale lehnen manche jüdischen Intellektuellen die Idee eines Staates ab, der auf Ethnizität, Rasse oder Religion basiert, auch wenn es unsere eigene ist. Andere verurteilen schlicht das Apartheid-System des Staates Israel und fühlen sich mit dem Schicksal des palästinensischen Volkes verbunden. Meine Eltern waren in dieser Frage tief gespalten. Meine Mutter ist eine polnische Jüdin aus Chelm, die 1940 zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester in den Gulag deportiert wurde. Nach ihrer Rückkehr nach Polen in 1945 stellten sie fest, dass sie die einzigen Überlebenden ihrer Großfamilie waren – sieben meiner Großonkel und alle ihre Kinder waren von den Deutschen ermordet worden. Meine Mutter ist der Idee eines jüdischen Nationalstaates zutiefst verpflichtet. Als meine Mutter mit meinem Bruder nach Israel reiste, sagte sie nach einigen Tagen zu ihm: „Als ich klein war, waren alle bewaffneten Menschen gegen mich, sie waren meine Feinde, und ich hatte Angst. Hier sind alle bewaffneten Menschen auf meiner Seite.“
Mein Vater lehnte die Idee eines jüdischen Staates ab
Viele von Ihnen hier haben Ihre eigenen Geschichten, Geschichten, die Ihnen – wie meiner Mutter – Trost spenden, weil Sie die Bewaffneten an Ihrer Seite haben. Auch das ist meine Familie. Ich verstehe dieses Gefühl zutiefst. Die Angst der deutschen Juden wird dadurch verstärkt, dass sie in einem Land leben, in dem unser Volk seit Jahrzehnten von Kräften aus dem gesamten politischen Spektrum ins Visier genommen wird.
Mein Vater, ein deutsch-jüdischer Intellektueller, lehnte die Idee eines Staates, der eine Religion bevorzugt, stets ab. Er sah in der Enteignung und dem Verlust der Palästinenser immer etwas Ähnliches wie seine eigene Familiengeschichte. Ich bin bei Weitem nicht der Einzige, dessen Eltern unterschiedliche Ansichten zu diesen Themen hatten. Und doch sind wir alle Juden.
Die Unterstützung des Massenmords der Hamas an unserem Volk am 7. Oktober ist unerträglicher Antisemitismus. Ebenso unerträglicher Antisemitismus ist es, die Vertreibung von Juden aus Israel zu befürworten, ohne gleichzeitig beispielsweise die Vertreibung aller weißen Europäer aus den Vereinigten Staaten und Kanada zu unterstützen. Antisemitismus ist es, in unseren Gotteshäusern oder jüdischen Schulen aufzutauchen und uns wegen des Vorgehens Israels anzuschreien. Einzelne Juden für Israels Handeln verantwortlich zu machen, ist Antisemitismus. Diese antisemitischen Handlungen unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit oder des Liberalismus zu verbergen, ist ein Verbrechen gegen diese Ideale.
Die Anmaßung der Deutschen
Kritik an den Gräueltaten Israels im Gazastreifen hingegen ist kein Antisemitismus. Kritik an Israels langjähriger ungleicher Behandlung des palästinensischen Volkes ist ebenfalls kein Antisemitismus.
Eine beträchtliche Minderheit der amerikanischen Juden steht Israels Umgang mit den Palästinensern kritisch gegenüber. Unter jungen amerikanischen Juden ist die Zahl der kritischen Stimmen deutlich größer. Obwohl die liberale deutsch-jüdische Tradition nicht mit einem Staat vereinbar ist, der Bürger zweiter Klasse aufgrund von Religion oder ethnischer Zugehörigkeit schafft, scheint Deutschland entschieden zu haben, dass nur jene jüdischen Stimmen zählen, die Israel bedingungslos unterstützen. De facto haben sich die Deutschen die Macht angemaßt, zu bestimmen, wer jüdisch ist und wer nicht. Mir wurde von klein auf beigebracht, dass dies Antisemitismus sei. Es ist beleidigend, von Nichtjuden darüber bestimmt zu werden, wer jüdisch ist und wer nicht. Unerträglich ist es, wenn es sich dabei um Deutsche handelt.
Die jüdische Schriftstellerin und Journalistin Masha Gessen wurde kürzlich mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet. Die Preisverleihung wurde jedoch abgesagt, da sie in einem Artikel eine Analogie zwischen Gaza und dem Warschauer Ghetto gezogen hatte. Aber auch Hannah Arendt erkannte die Ungleichbehandlung der Palästinenser deutlich und befürwortete einen Staat, der Juden und Palästinensern die gleichen Rechte als gleichberechtigte Bürger einräumt.
Arendt und Einstein dürften hier nicht mehr sprechen
Hannah Arendt dürfte heute in Deutschland nicht mehr sprechen. Albert Einstein unterstützte einen binationalen Staat mit freier Einwanderung für Palästinenser und Juden. Auch er dürfte heute in Deutschland nicht mehr sprechen. Wir können nicht gleichzeitig stolz auf jüdische Geistesleistungen sein und ignorieren, dass viele derjenigen, auf die wir stolz sind, die Bevorzugung jüdischer Bürger durch Israel gegenüber nichtjüdischen kritisierten. Ungeachtet dessen, was andere Deutsche uns einreden mögen: Wir sind alle Juden.
Deutsche Juden haben die liberale ethische und politische Tradition mitbegründet und sie als jüdisches Selbstverständnis anerkannt. Der Liberalismus ist eine schwierige Tradition, die uns die strenge Forderung auferlegt, die eigenen Leute nicht zu bevorzugen. Doch unser Erbe als deutsche Juden lehrt uns, dass alle Menschen nach dem Bild Gottes und nicht nach dem Bild unserer Feinde behandelt werden sollen. Viele Jahre lang saß mein Urgroßvater auf dem Podium der Synagoge in der Fasanenstraße, neben ihrem anderen Oberhaupt, dem großen deutschen Rabbiner Leo Baeck, und lauschte dessen Ausführungen über das Wesen und den Charakter des Judentums. Mein Urgroßvater ergänzte Rabbiner Baecks Lehren mit seinem Gesang.
Zwei Traditionen im Judentum
In seinem 1905 erschienenen Werk „Das Wesen des Judentums“ argumentiert Leo Baeck, dass das Judentum die erste „rein ethische Religion war, deren eigentlicher Inhalt die Moral ist“. Und dass der Jude, anders als Anhänger anderer Religionen, nicht fragt, was er glauben soll, sondern was er tun soll. Baeck vertritt die Ansicht, dass das Judentum einen „universellen Charakter“ habe und dass „das Judentum vom guten Menschen spricht; die Worte ‚ein guter Jude‘ sind sowohl der Bibel als auch der mündlichen Überlieferung fremd. Es ist der Mensch, der vor Gott steht.“ Und: „Die Heiden, die sich von unmenschlichen und unmoralischen Taten fernhalten, sind die Kinder Noahs; auch sie sind die auserwählten Kinder Gottes.“
Unsere Religion kennt seit Langem zwei Traditionen: die partikulare und die universale. Der Pessach-Seder ist dem Gedenken an unsere Zeit in der Sklaverei in Ägypten und unsere anschließende Befreiung gewidmet. Seine verschiedenen Elemente sind symbolisch. So erinnert beispielsweise das Salzwasser, in das wir unsere Karpas tauchen, an die Tränen, die wir in der Sklaverei vergossen haben. Nach der ersten Interpretation handelt der Pessach-Seder von unserer Sklaverei, der Sklaverei des jüdischen Volkes in Ägypten, und unserer Befreiung. Nach der universalistischen Interpretation handelt der Pessach-Seder vom Schmerz der Sklaverei und der Freude der Befreiung. Seine Botschaft ist allgemein gültig, nicht nur für das jüdische Volk.
In seinem Werk thematisiert Rabbi Baeck diesen Konflikt zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Baeck argumentiert, dass sich die eine Interpretation nicht ausschließt: „Ihr Volk bot ihnen einen sicheren Ort, von dem aus sie die Menschheit beobachten und verstehen konnten, so wie die Menschheit ihnen wiederum den wahren Platz ihres eigenen Volkes aufzeigte. Die Vorstellung vom eigenen Volk und die Vorstellung von ihrer Verantwortung gegenüber der Welt im Allgemeinen bestärkten einander, und so stand das Verständnis des Besonderen nicht im Widerspruch zum Verständnis des Allgemeinen.“
Das Erbe der Aufklärung ehren
Baecks Argumente lassen sich auf die Auslegung des Pessach-Seders anwenden. Wie wir gesehen haben, betrachtet Baeck den Fokus der Bibel auf das jüdische Volk als eine Art Erzählmittel, als einen Weg für einzelne Juden, sich persönlich mit universellen moralischen Werten zu verbinden. Der Pessach-Seder wird also zunächst als Geschichte über unser Leiden und unsere Befreiung erzählt. Dies liegt daran, dass er uns mit dem Allgemeinen verbinden soll – mit dem Schmerz der Sklaverei und der Freude der Befreiung. Wie Baeck sagt, steht das Verständnis des Besonderen nicht im Widerspruch zum Verständnis des Allgemeinen.
Man mag Leo Baecks Interpretationen dieser Texte widersprechen; es gehört zur jüdischen Tradition, unterschiedliche Deutungen vorzunehmen. Doch Leo Baeck hatte mit seiner Auffassung der Bedeutung der deutsch-jüdischen Tradition recht. Im zwanzigsten Jahrhundert begründete er diese liberale Tradition vom Rednerpult der Synagoge in der Fasanenstraße aus. Man kann verstehen, warum Goebbels vor 87 Jahren, an diesem Tag, persönlich die Zerstörung der Synagoge meiner Familie anstrebte.
In Leo Baecks Schriften wird die Tradition der Aufklärung als jüdische Tradition bezeichnet. Ich selbst bin eng mit diesem Religionsverständnis verbunden. Doch wenn Sie heute hier sitzen, sind Sie es auch. Wir deutsche Juden, auch jene, die neu zu diesem Land gekommen sind, sollen dieses Erbe ehren und daraus lernen.
Die NSDAP gab sich demokratisch
In den Jahren vor der Reichstagswahl 1932 mäßigte die NSDAP ihr Image. Ihre öffentlichen Äußerungen ließen sie damals zwar als rechtsextreme Partei erscheinen, doch stellte sie keine existenzielle Bedrohung für die Demokratie oder die Minderheiten in Deutschland dar. Es ist menschlich, die schlimmsten Szenarien auszublenden. Doch sollte Deutschland angesichts seiner Geschichte diesen Weg erneut beschreiten, gibt es dafür schlicht keine Entschuldigung. Keine zukünftige Werbekampagne wird den Makel tilgen können.
Wir dürfen nicht vergessen, dass Deutschland heute besonderen Gefahren ausgesetzt ist. Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, J. D. Vance, forderte die Ablehnung eines liberal-demokratischen Staatsbürgerschaftsverständnisses, das liberale Ideale in den Mittelpunkt der amerikanischen Identität stellt. Er plädierte für dessen Ersetzung durch ein Verständnis, das auf einer langen amerikanischen Abstammung basiert. Dass er mit einer nichtweißen Tochter von Einwanderern verheiratet ist, hat ihn nicht von diesen Ansichten abgehalten. Obwohl er formell ein wohlhabender Geschäftsmann ist, wettert er gegen die Eliten. Diese Widersprüche lassen sich problemlos miteinander vereinbaren.
In Amerika werden heute Schüler, fleißige Eltern und ihre Kinder von der Straße und von ihren Arbeitsplätzen entführt und ins Gefängnis verschleppt. Weiße Südafrikaner genießen einen Sonderstatus als Flüchtlinge, während die Grenzen für nichtweiße Flüchtlinge geschlossen sind, selbst für jene, die an der Seite unserer Soldaten im Ausland gekämpft haben. Soldaten patrouillieren grundlos in den Städten. Die Medien werden von den milliardenschweren Verbündeten des Machthabers gekauft. Bücher werden verboten, und kritische Geschichtsschreibung wird durch patriotischen Unsinn ersetzt.
Amerikas Druck auf Deutschland
Während die amerikanische Demokratie in den Faschismus oder etwas Ähnliches abgleitet, wird der Druck auf Deutschland steigen, diesem Beispiel zu folgen. Es wird unerlässlich sein, dass Deutschland die Lehren seiner Geschichte beherzigt.
Mit diesen Worten möchte ich die Realität nicht verharmlosen. Der Weg einer multikulturellen Demokratie ist steinig. Es ist nicht leicht, mit Menschen anderer Traditionen zusammenzuleben. Gegenseitiges Missverständnis zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Bräuchen ist zu erwarten. Um Vertrauen aufzubauen, müssen wir die Traditionen anderer kennenlernen und sie unsere. Das erfordert Zeit und Mühe. Doch wie wir seit dem heutigen Gedenktag wissen, kann Deutschland nicht ohne massive Gewalt gegen viele Menschen umkehren.
Wir sind heute hier, um des Erbes des deutschen Judentums zu gedenken, der liberalen Ideale, welche die Nationalsozialisten auslöschen und ersetzen wollten. Um dieses Erbe zu bewahren, müssen wir uns seiner Zerbrechlichkeit und seiner Bedeutung bewusst sein. Das liberale Ideal, der Kern der deutsch-jüdischen Tradition, besagt, dass wir alle an einer gemeinsamen Menschlichkeit teilhaben und dass niemand aufgrund seiner Herkunft, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung gegenüber einem anderen bevorzugt wird. Auch dies war das Ziel der Gewalt der Reichspogromnacht.
Wir erleben in Deutschland erneut den Aufstieg dieser Kräfte, die behaupten, Einwanderung bedrohe die Tradition der europäischen Aufklärung und die vermeintliche Größe Deutschlands. Doch der Kerngedanke der europäischen Aufklärung ist die gemeinsame Menschlichkeit aller Menschen. Der Kern des Nationalsozialismus hingegen ist das Gegenteil. Angesichts der Schrecken der Reichspogromnacht müssen wir uns auf ein Deutschland verpflichten, das frei ist von der vergifteten Ideologie, die zur Vertreibung meiner deutschen Familie und zum Massenmord an meiner polnischen Familie führte. Alles andere hieße, den Nationalsozialisten den Sieg zu überlassen.
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Ich verfasste diese Worte, um sie am Abend des 9. November in der Westend-Synagoge in Frankfurt vorzutragen. Sie wurden von vielen (aber nicht allen) Zuhörern mit großem Zorn aufgenommen; einige erhoben sich und äußerten lauten Protest. Schließlich schritt der Rabbiner ein und unterbrach meine Rede. Daher waren viele dieser Worte nicht zu hören.