Die letzte Chance?

Die letzte Chance?

3. November 2025 1 Von Volker Schellhammer

Als letzte Chance einer Bundesregierung wurde die im Frühjahr 2025 entstandene Koalition zwischen CDU/CSU und SPD gerne bezeichnet. Letzte Chance im Hinblick darauf, dass nach der nächsten Bundestagwahl befürchtet wird, dass die AfD die Mehrheit der Stimmen im Bundestag auf sich vereinen könnte. Angesichts dessen sollte man meinen, dass sich alle demokratisch gesinnten Parteien auf eine sinnvolle Zusammenarbeit, sei es auch nur im Einzelfall, einigen könnten.

Dass dies in Zeiten der größten Not durchaus gelingen kann, zeigen die Ereignisse, die in den letzten Wochen der „Ampel“ stattgefunden haben, als offen war, ob das schuldenfinanzierte Milliardenpaket für Verteidigung und Infrastruktur im Bundestag am Ende die nötige Zweidrittelmehrheit bekommt. Falls dies nicht gelungen wäre, hätte man damit rechnen müssen, dass nach der bereits angesetzten Bundestagswahl 2025 und nach der Konstituierung des neuen Bundestages die AfD, ggf. auch das BSW, eine solche Zweidrittelmehrheit hätten verhindern können. Insoweit gingen die staatstragenden Parteien ungewohnt trickreich, aber nicht verfassungswidrig, vor, als die Abstimmung am 18.03.2025 durch den „alten“ Bundestag erfolgte, der neue Bundestag sich aber erst am 25.03.2025 konstituierte.

SPD und CDU benötigten insofern die Stimmen der Grünen und der FDP. Die FDP verweigerte sich, man möchte fast sagen wie meistens, wenn es ernst wird, auch in diesem Szenario. Die Quittung erhielten die „Liberalen“ – nicht nur hierfür – durch die Wählerinnen und Wähler.

Zwischendurch musste noch der Bundesrat überzeugt werden, was wohl nur deshalb ziemlich geräuschlos gelang, weil den Ländern nach den Neuregelungen 100 Mrd. Euro zukommen sollen.

Da sich auch die Grünen ihrer staatspolitischen Verantwortung stellten, kam schließlich eine Zweidrittelmehrheit zustande.

Hierbei handelte es sich offenbar um einen Sonderfall, denn im weiteren Verlauf des ersten Jahres der Legislaturperiode zeigte sich, dass die Regierungsparteien mehr Wert darauf legten sich zu profilieren als gute Politik zu machen. Ich wage zu bezweifeln, dass irgendein Politiker der Regierungskoalition begreift, dass genau dieses Verhalten zu mehr und mehr Politikverdrossenheit führt. Und diese Politikverdrossenheit kann man sogar messen. Dazu muss man sich nur die jeweils aktuellen Umfragewerte ansehen. Die AfD marschiert und marschiert, ohne dass sie dafür etwas tun müsste. Es reicht ihr, auf das Gewürge der etablierten Parteien zu verweisen, ohne dass in irgendeiner Weise ersichtlich wäre, was die AfD besser machen würde oder könnte.

Viele Leute sind es aber inzwischen leid, sich das tägliche Parteiengezänk zuzumuten. Sie wollen vielmehr sinnvolle Lösungen. Und wenn es diese nicht gibt, wollen sie zumindest irgendeine Lösung, denn dies ist schließlich der Sinn einer Koalition, nämlich trotz unterschiedlicher Auffassungen zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, und zwar ohne dass wochenlang live in allen Medien zu sehen, zu hören und zu lesen ist, wie uneins die Regierungsparteien bei nahezu jedem angefassten Problem sind.

In den einschlägigen Umfragen ist die AfD mittlerweile an allen anderen Parteien vorbeigezogen, vor allem auch an CDU/CSU. Wie konnte das passieren? Und was wird dagegen getan?

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht in zwei Fällen ein Parteiverbot ausgesprochen: gegenüber der nationalsozialistisch orientierten Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahr 1952 und gegenüber der stalinistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahr 1956. Mit dem Verbot dieser extremen und demokratiefeindlichen Parteien war das Statement verbunden, nie wieder totalitäre Staatsformen zu tolerieren, womit letztlich die Grundlage für die allgemeine Akzeptanz des demokratischen Gemeinwesens gelegt wurde. Seitdem gab und gibt es immer wieder Parteien aus den ganz rechten und linken Spektren, denen aber regelmäßig vom Wahlvolk beschieden wurde, dass man derartige Organisationen nicht im Parlament haben wolle.

Das hat sich bekanntlich mittlerweile geändert. Den rechten Rand der Wählerschaft hatte jahrzehntelang die CDU, vor allem aber die CSU (wenn teilweise auch mit mehr oder minder dubiosen Figuren) abgedeckt. Der linke Rand war größtenteils in die SPD integriert. Es gab genau drei Wahlmöglichkeiten, nämlich den schwarzen oder den roten Block sowie (oftmals als Zünglein an der Waage) die FDP. Das bedeutete klare Alternativen, taktisches Wählen war den wenigen Wechselwählern vorbehalten. Das änderte sich erst mit dem Auftreten der Grünen, die erstmals 1983 den Sprung in den Bundestag schafften und somit eine absolute Mehrheit der Union (trotz 48,8 % !!) verhinderten.

Von da an gab es keine absoluten Mehrheiten mehr, auch weil seitdem immer wenigstens 4 (mit CSU 5) Parteien im Bundestag vertreten waren. Es begann die Ära Kohl und die der schwarz-gelben Koalitionen. 1989/90 brach dann (nach dem „kalten“ Krieg) der Frieden aus und es kamen ganz neue Wählerschaften hinzu, nämlich die bisher von freien Wahlen ausgeschlossenen Bürger der ehemaligen DDR. Wie sich diese politisch verhalten würden, war zunächst eher ungewiss.

Jedenfalls behaupteten sich die Koalitionen aus CDU/CSU und FDP weiterhin bis zur Bundestagswahl 1998. Diese brachte erstmals seit Jahrzehnten keine Mehrheit mehr für ein Regierungsbündnis mit Beteiligung der FDP. Da es jedoch für SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu einer Mehrheit reichte, wurden die Karten ab diesem Zeitpunkt neu gemischt.

Die gemütliche Bonner Republik, in der es verlässlich (nur) zwei Alternativen gab, hatte auch in Berlin noch zwei Wahlperioden überlebt, aber von da an war alles neu. Rückblickend könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Wählerschaft mutig geworden war und auch Alternativen in Betracht zog. Die Zeiten waren dafür auch durchaus günstig. Die Bedrohung durch den Warschauer Pakt war entfallen, die Ostblockstaaten hatten sich auf die Seite des Westens begeben, Demokratien waren in Mode, die Wirtschaft brummte, nur Umwelt und Klima bereiteten einige Sorgen.

Bei dieser Gemengelage war eigentlich vor jeder weiteren Bundestagswahl völlig unklar, wie sie ausgehen würde. Die Kernwählerschaft der Parteien war nicht mehr verlässlich. Neben den bisherigen „Platzhirschen“ Union, SPD und FDP gab es mit Bündnis 90/Die Grünen und der Linken zwei weitere Player, die an die Macht drängten.

Ab 2005 setzte sich die Union zuerst knapp und später immer mehr gegen die SPD als stärkste Kraft durch. Das führte allem Anschein nach zu einer gewissen Selbstzufriedenheit bei der Union mit ihrer weitgehend beliebten Kanzlerin Angela Merkel. Sie traf den Nerv der Zeit mit ihrer Politik der ruhigen Hand. Tatsächlich war das „weiter so“ dieser Ära die Ursache vieler Probleme, die Deutschland heute beschäftigen. Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen, Verrotten der Infrastruktur, Vernachlässigung äußerer und – in gewissem Maße auch – innerer Sicherheit, Ignorieren notwendiger Reformen u.a. im Gesundheits- und Rentenwesen rächen sich heute, und man fragt sich, warum niemand der Verantwortlichen gegen diese Bräsigkeit aufgestanden ist.

Sinnbildlich für die Fehleinschätzungen – oder besser gesagt für das Ignorieren – der bestehenden Probleme war das berühmte Zitat Angela Merkels aus dem Jahre 2015 zur Migrationskrise „Wir schaffen das!“ Hier soll das Vorgehen der Kanzlerin gar nicht kritisiert werden, vielleicht war es in der damaligen Situation tatsächlich „alternativlos“. Aber wenn man den Mund spitzt, muss man bekanntlich auch pfeifen, und genau das ist nicht oder jedenfalls zu wenig erfolgt. Stattdessen tat man so, als wäre der Migrantenansturm ein Glücksfall für Deutschland. Arbeitgeber träumten von gut ausgebildeten (und billigen) Fachkräften, die Politik erwartete Spitzenkräfte und Akademiker en masse. Aber die geweckten Erwartungen wurden nicht erfüllt, die Ernüchterung folgte bald.

Die weitere Entwicklung entpuppte sich in der Folge als Albtraum, und das gruseligste Gespenst kam in Gestalt der AfD daher. Für diese war die Entwicklung eher Traum als Albtraum. 2015 hatte die AfD zwar bereits einige Erfolge erzielt (damals noch mit ihrem Gründer und Parteichef Bernd Lucke), war aber weitgehend zerstritten, was am Parteitag Anfang Juli 2015 zur Abspaltung des wirtschaftsliberalen Parteiflügels und der Quasi-Übernahme der Partei durch den national-konservativen Teil führte. In der bundesweiten Sonntagsumfrage war die AfD unter 4 % und damit den schlechtesten Wert seit September 2013 gerutscht.

Und dann kamen die Migranten und mit ihnen der Aufstieg der AfD.

Schon zur Bundestagswahl 2017 verlor die schwarz-rote Koalition fast 14 Prozentpunkte gegenüber der vorherigen Wahl 2013, während die AfD fast 8 % dazu gewann. Kein Grund zur Panik für die etablierten Parteien, zumal die AfD zur Wahl 2021 fast 2 % verlor. Die SPD sah den Trend zur Verzwergung gebrochen, die Union war quasi ins Bodenlose abgestürzt, aber beide zusammen erhielten nicht einmal mehr 50 % der Stimmen. Dafür konnten aber die FDP (auf 11,5 %) und Bündnis 90/Die Grünen (14,8 %) ordentlich zulegen.

Olaf Scholz wurde Kanzler (was außer ihm niemand erwartet hatte), grün und gelb komplettierten die Ampel. Schon bald nach deren Regierungsstart erweckten die Protagonisten den Eindruck, ihren Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Anstatt die mittlerweile immensen Probleme anzugehen, regierte man am Wählerwillen vorbei, benahm sich kommunikativ laienhaft und erzeugte den Anschein, in erster Linie gegeneinander zu arbeiten. Einer Opposition bedurfte es praktisch nicht, so zerstritten wie die Regierung fast von Anfang an agierte. Die Union war ohnehin schwach und musste sich nach der schweren Wahlniederlage erst einmal die Wunden lecken.

Und was machte die AfD? Sie polemisierte herum und konnte sich genüsslich zurücklehnen und zusehen, wie sich die Regierung nach und nach zerlegte, während sie gleichzeitig ein Umfragehoch nach dem anderen verzeichnete. Der Rest ist bekannt, die Regierung schaufelte sich ihr eigenes Grab, es gab Neuwahlen und die AfD konnte praktisch ohne eigenes Zutun eine Ernte in Form eines Ergebnisses von 20,8 % einfahren.

Die beiden selbst ernannten Politik- und Taktikgenies Olaf Scholz und Christian Lindner hatten es mit ihren Tricksereien geschafft, aus der Ampelkoalition ein Trümmerfeld zu machen. Und nicht nur das, sie haben auch ihren jeweiligen Parteien einen Bärendienst erwiesen. Man fragt sich, was diese Herren mit ihren Egotrips eigentlich bezweckt haben. Vielleicht sind sie mit sich im Reinen, aber ihr politisches Vermächtnis ist verheerend.

Die politische Elite hatte damit endgültig bewiesen, dass sie nicht in erster Linie das Allgemeinwohl und damit auch die Zufriedenheit des Wahlvolkes im Auge hat.

Und damit sind wir wieder bei der letzten Chance, vielleicht der allerletzten. Nach der Wahl 2025 ergab sich immerhin die Konstellation, dass eine Zweierregierung der Union und der SPD möglich war. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass es sich hierbei noch um eine glückliche Fügung handelt, denn wenn Sahra Wagenknechts Truppe BSW nicht ganz knapp an der 5 %-Klausel gescheitert wäre, wäre das Land praktisch unregierbar geworden. Die Chance, nunmehr überzeugende Politik zu machen, war und ist vorhanden. Die Regierungsparteien taten so, als sei ihnen der Ernst der Lage bewusst.

Wenn es den Parteien ernst damit wäre, einen endgültigen Rechtsruck zu verhindern, so müssten sie jetzt der AfD mit dem gemeinsamen Ziel entgegentreten, unsere Demokratie offensiv zu verteidigen. Und was passiert tatsächlich? In Wirklichkeit scheint die Stunde der Egoisten und der Lobbyisten, der persönlich Enttäuschten und der verhinderten Karriereristen zu schlagen. Mitnichten wird an einem Strang gezogen. Jeder kocht sein eigenes Süppchen mit dem Ergebnis, dass keine Regierungspartei davon profitiert, dafür aber die AfD in den Umfragen immer stärker wird.

Aber warum wählen die Menschen überhaupt die AfD? An überzeugenden Lösungsvorschlägen der Rechtspartei kann es kaum liegen, wohl auch nicht daran, dass alle AfD-Wähler dem rechtsextremen Lager zuzurechnen sind. Es sind auch nicht mehr nur Protestwähler im engeren Sinne. Vielmehr scheint mir das Vertrauen in die etablierten Parteien in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht mehr existent zu sein, und das wiederum ist eine existentielle Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat. Insoweit ist es keinesfalls ausreichend, vor der AfD zu warnen und im Übrigen die althergebrachten politischen Rituale aufrechtzuerhalten, so wie wir es derzeit wieder erleben.

Union und SPD streiten über die Wehrpflicht, das Bürgergeld, die Renten, die Wahl von Verfassungsrichterinnen und anderes. Erhebliche Energie wird darauf verwandt, die Deutungshoheit über eine Aussage des Kanzlers zum Erscheinungsbild von Innenstädten zu gewinnen. Abgeordnete der SPD demonstrieren gegen den Kanzler, Jungparlamentarier der Union protestieren öffentlich gegen einen Rentenkompromiss. Diese Regierung braucht keine Opposition. Letzterer fällt im Übrigen auch nicht viel mehr ein, als alberne Strafanzeigen gegen den Kanzler zu stellen. Das Bild, das die bisher staatstragenden Parteien abgeben, wirkt angesichts der eigentlich zu lösenden riesigen Probleme zunehmend grotesk.

Ich frage mich, ob die agierenden politischen Akteure aller Parteien nicht bemerken, dass sie mit kleinlichen Streitereien untereinander vor allem sich selbst schaden. Ist den Parteien in ihrem Machtstreben der politische Überlebenswille abhandengekommen? Können sie keine Kompromisse mehr schließen und diese als notwendig „verkaufen“? Oder sind die maßgeblichen Akteure tatsächlich so abgehoben und der Realität entrückt, dass sie das Offensichtliche nicht mehr erkennen?

Das Volk möchte nur ordentlich regiert werden und sinnvolle Ergebnisse sehen. Den durchschnittlichen Wähler interessieren keine Details. Es gilt das Kurt Tucholsky zugesprochene Zitat „Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.“

In diesem Sinne gibt es noch einiges zu tun, und die Hoffnung stirbt zuletzt.