
Israel zwischen Zionismus und Islamismus
Der Titel kommt etwas provokant daher, soll aber keine Abrechnung mit dem Zionismus per se sein, sondern mit der vorherrschenden Interpretation durch die Netanjahu-Regierung und einiger rechtslastiger Vorgänger. Die Entstehung des Islamismus, im Israel-Nahostkonflikt u.a. durch Hamas und Iran repräsentiert, wird im zweiten Teil behandelt.

„Zionismus“ ist besonders in der muslimischen Welt zum Kampfbegriff geworden. Fakt ist, das der Staat Israel ohne die zionistische Bewegung nicht möglich geworden wäre. Der Nahost-Konflikt wird zu einem relevanten Teil von der Existenz der Staates Israel und damit auch vom Zionismus geprägt. Wir sehen eklatante Menschenrechtsverletzungen durch Israels Armee im Gaza-Streifen und islamistische Terroraktionen wie die vom 7. Oktober 2023 oder aktuell durch Bilder von hungernden Hamas-Geiseln. Dennoch ist den meisten Muslimen klar, dass Terror Probleme nicht lösen kann und Antisemitismus den Palästina-Konflikt verschärfen wird.
Beim Zionismus ist die Verortung ungleich schwieriger, denn nicht wenige Linke, vorwiegend auch aus Europa und den USA, verstehen sich als Zionisten und unterstützten dennoch das Projekt der Palästinenser nach einem eigenen Staat. M. a. W.: Der Zionismus ist sehr differenziert und beherbergt fast antagonistische Positionen, besonders im Verhältnis zur arabischen Bevölkerung des historischen Palästinas.
Die Problematik des Begriffs „Zionismus“ zeigt sich auch an den gegensätzlichen UN-Resolutionen 3379 von 1975 und 46/86 von 1991. In der ersten Resolution wird der Zionismus als rassistisch verurteilt und in der zweiten wurde die erste Resolution mit einem Stimmenverhältnis von 111 zu 25 bei 13 Enthaltungen aufgehoben.[1] Der Begriff hat sich seit der Ur-Idee Theodor Herzl fragmentiert, weil unterschiedliche Strömungen eben auch differenzierte Vorstellungen von der Besiedelung Palästinas hatten und haben. Theodor Herzl war als Spiritus Rector säkular, liberal und tolerant geprägt. Aber bereits vor Herzls Schrift „Der Judenstaat“ entwickelten sich zionistische Ideen und Organisationen.[2] Und nach Herzl, der 1904 starb, gewannen die Falken mehr und mehr Einfluss in der zionistischen Bewegung.
Noch 1944 wenige Wochen nach der Befreiung Paris‘ von Nazi-Deutschland schrieb Jean-Paul Sartre in seinem Essay „Betrachtungen zur Judenfrage“ über die Juden als ein Volk unerschütterlicher Sanftmut mit Verabscheuung von Gewalt auch inmitten einer feindseligen Umwelt.[3] Das Ausmaß der Shoah war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal in vollem Umfang bekannt. Nach mehr als über 10 Jahren danach wurde der Staat Israel gegründet. Das Fundament für die Staatsgründung waren entschlossene Menschen und militärische Überlegenheit, die in der Zeit davor vorbereitet wurde.
Das jüdische Volk wurde in unterschiedlichen Intensitäten verfolgt und drangsaliert. Ein effektiver und nachhaltiger Widerstand in der Diaspora war aufgrund der Minderheitenposition kaum möglich. Die Integration von verschiedenen Zuströmen aus west- und osteuropäischen Staaten verhalf der zionistischen Bewegung zu einer resistenten Kraft gegen Übergriffe und Anfeindungen.
War diese Eigenschaft der zionistischen Bewegung noch Widerstand, so mehr ergeben sich die Fragen über den Sinn der Zerstörung des Gaza-Streifens. Ebenso fällt die Begründung schwer, dass Israel die Zerstörung syrischer Militärfähigkeit nach dem Sturz des Assad-Regimes Ende 2024 vorgenommen hat. Ein Angriff gegen Israel lag nicht vor. Eine präventive Schwächung des Militärs (über 70 % wurde zerstört) eines Nachbarstaates, der sich gerade in einer Phase potentieller Befreiung befindet, ist per Definition eine Völkerrechtsverletzung. So auch die Bewertung des UN-Sonderberichterstatters Ben Paul. Ein Kollege von Ben Paul, George Katrougalos, erkennt im israelischen Vorgehen ein Muster: Angriffe gegen souveräne Staaten ohne Provokation.[4]
Wie lässt sich die die Bombardierung Damaskus im Juli 2025 erklären, als es in der syrischen Provinz Suweida zu Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und die von Israel „beschützen“ Drusen kam? Warum interveniert Israel militärisch exterritorial? Im niederländischen De Volkskrant wurde der Angriff auf Syrien nachvollzierbar kommentiert:
„Alles deutet darauf hin, dass Israel ein geschwächtes und geteiltes Syrien anstrebt. Dies ist ein gefährlicher Kurs, für Syrien selbst, aber auch für Israel und den Rest der Welt. Ein Syrien, das dem Chaos zum Opfer fällt, könnte erneut zu einer Brutstätte des Terrorismus werden. … Mit seinen Bombardierungen donnerte Israel wie ein Elefant durch diesen Porzellanladen und verletzte zum x-ten Mal das Völkerrecht. Durch seine militärische Macht und sein überhebliches Auftreten ist Israel zu einer zunehmenden Quelle der Instabilität im gesamten Nahen Osten geworden.“[5]
Ist das ein zionistisches[6] Programm oder lässt sich dieser Prozess ähnlich erklären wie der des Irans: regionales Hegemoniestreben mit militärischer Macht und religiösen Zutaten. Wie konnte aus dem sanftmütigen Volk eine Regierung hervorgehen, die derart massiv militärisch agiert? Geht der Selbstschutz so weit, dass Völkerrecht und nationale Integrität nicht mehr zählen? Ist das noch Herzls Zionismus? Um Herzls Definition eines Judenstaates ranken sich viele Interpretationen und unversöhnliche Auslegungen. Er selbst war vielleicht auch nicht eindeutig, was durchaus menschlich ist.
1.1 Herzls „Judenstaat“
Selbst der Begründer der zionistischen Idee eines Judenstaates Theodor Herzl wird von vielen Zionisten als Verräter angesehen, weil er nicht nur Palästina als den einzig möglichen Ort für einen Judenstaat ausmachte, sondern auch Argentinien und als Übergangslösung – ein Vorschlag aus UK – auch Uganda ins Spiel brachte. Zion liegt schließlich nicht in Uganda oder Argentinien, sondern ist ein Berg bzw. Hügel in Jerusalem, auf dem der symbolträchtige göttliche Tempel Jahwes stand. „Jahwes“ ist der jüdische Eigenname Gottes. Es liegt auf der Hand, dass die Mobilisierung der Juden in der Diaspora mit dem Ziel Zion mehr Zugkraft entwickeln konnte als die argentinischen Pampas. Herzl definierte den Judenstaat wie folgt:
„Der Judenstaat ist allerdings als eine ganz eigentümliche Neubildung auf noch unbestimmtem Territorium gedacht. Aber nicht die Länderstrecken sind der Staat, sondern die durch eine Souveränität zusammengefassten Menschen sind es.“[7]
Mit Herzls Tod im Jahr 1904 verschwand auch die Idee, eine Lösung des Juden-Problems außerhalb von Zion und Palästina zu suchen. Herzl selbst sah sich als aufgeklärten säkularen Juden, der den Judenstaat aufgrund eigener gescheiterter Assimilierung entwarf. Der Judenstaat war nach Herzl nicht die Antwort auf die Verheißung des geheiligten Volkes in Palästina, sondern die folgerichtige Reaktion auf eine verhinderte Assimilierung der Juden in Europa.
Die Verfolgung, Ghettoisierung und Ausschlüsse von Juden ließen Herzl keine andere Möglichkeit. Er, der sich stets assimilieren wollte, wurde von einer Burschenschaft wegen seiner Herkunft nicht aufgenommen. In seiner damaligen Heimatstadt Wien wurde ein Antisemit Bürgermeister und die Stimmung in Europa kippte immer mehr gegen das Judentum. Im sogenannten Dreyfus-Skandal in Frankreich wurde vom französischen Militär ein jüdischer Hauptmann (Alfred Dreyfus) mit gefälschten Dokumenten beschuldigt, Spionage (jüdische Verschwörung) für den Feind betrieben zu haben.[8] Dreyfus wurde degradiert, verurteilt, verbannt und gequält. Die Assimilation der Juden war auch in der Grand Nation des „Liberté, Égalité, Fraternité“ gescheitert. Der Antisemitismus war hartnäckig und gewann noch mehr an Einfluss.
1.2 Politischer Zionismus
Herzls Argumente waren in erster Linie politisch. Juden sollte so frei leben können wie andere auch und ein eigener Staat würde die Voraussetzungen schaffen. Das Motiv war nicht religiös und deshalb gilt Herzl für viele auch nicht als „Zionist“ im religiösen Sinne, sondern als Begründer des „Politischen Zionismus“. Einige Interpretationen gehen auch noch weiter, denn in Herzls Buch „Der Judenstaat“ ist nur auf einer Seite der Begriff „Zion“ erhalten. Er schreibt von „zionistischen Vereinen“, die das Leiden der Juden durch Almosen lindern.[9] Der Tempel mit seiner religiös-historischen Anziehungskraft wird von Herzl zwar nicht thematisiert, aber Palästina war auch für ihn die „unvergessliche historische Heimat“. Herzl schreibt dazu:
„Palästina ist unsere unvergessliche historische Heimat. Dieser Name allein wäre ein gewaltig ergreifender Sammelruf für unser Volk. Wenn seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten wir uns dafür anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln. Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müsste.“[10]
Die Analyse des Absatzes wirft Fragen auf. Herzl verfolgt das Ziel, dass Israel ein Stück Territorium vom Osmanischen Reich übernehmen wird und im Gegenzug die Juden den Türken in der Bewältigung der Staatsfinanzen helfen.
Dazu kam es dann nicht, weil das Osmanische Reich im ersten Weltkrieg unterlegen war und Palästina zum Mandatsgebiet des Vereinten Königreichs (UK) erklärt wurde. Herzl konnte aufgrund seines Ablebens diese Entwicklung nicht begleiten; aber es war sein Herzenswunsch, dass die Gründung eines eigenen Staates von London, das Herzl als nicht antisemitisch bewertete, gesteuert werden sollte. Er behielt damit recht, denn die vom Zionisten Chaim Weizmann vorbereitete Balfour-Deklaration war die Basis für die spätere Entwicklung hin zum Judenstaat. UK war maßgeblich an der Entstehung Israels und am Palästina-Konflikt beteiligt.
Herzl selbst sah in der „neuen Heimstätte“ einen Wall gegen die Barbarei. Diese Formulierung erinnert ein wenig an die Aussage des ehemaligen Verteidigungsministers Israels Ehud Barak von Israel als einer „Villa im Dschungel“ umgeben von unberechenbaren und feindlichen Nachbarn.[11] Ein Stück Wahrheit enthält diese Feststellung, denn die Nachbarschaft der Juden in Israel entwickelte sich von Anfang zu einer Verteidigungsgeschichte gegen das arabische Interesse. Die Barbarei ist auf beiden Seiten zu finden; sowohl während Israels Gründungsphase als auch seit dem 7. Oktober 2023 und der Zeit zwischen diesen Fixpunkten. Der Militarisierungsaspekt liegt in der Aussage Baraks, aber auch Herzls Wall gegen Asiens Barbarei kann nicht ganz einem „sanften“ Gemüt zugeschoben werden.
„Der Judenstaat ist als neutraler gedacht. Es braucht nur ein Berufsheer – allerdings mit sämtlichen modernen Kriegsmitteln ausgerüstetes – zur Aufrechterhaltung der Ordnung nach außen und innen.“[12]
Herzl war an dieser Stelle geradezu prophetisch, denn es war die technologische Überlegenheit in der Gründungsphase und auch aktuell, die den Staat militärisch ermöglichte und sichert. Herzl wusste um die Überlegenheit europäischer Technik in seiner Zeit. Die Juden waren in Wissenschaft und Technologie gut vertreten und sollten davon profitieren, dieses Wissen und Know-How unter Flankierung finanzstarker Investoren zu nutzen, auch für die Sicherung ihres neuen Lebens.[13]
1.3 Palästina: nicht das „Land ohne Volk“
Herzl beschreibt in seinem Buch auch einen Teil der Besiedlung Palästinas, denn es sollte Land von den Verpächtern des Osmanischen Reichs gekauft werden, was auch geschah. Er übersah allerdings die schon vorhandene Bevölkerung in Palästina. In seinem Buch wird dieses andere Volk nicht erwähnt. Die Barbaren aus Asien verortete er noch weiter östlich. Historiker streiten sich mehr oder weniger, ob das Zitat „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ tatsächlich von Herzl stammt. Selbst Michael Brenner, renommierter Professor für jüdische Geschichte, ist auf das Gerücht hereingefallen, Herzl hätte ein Land ohne Volk in Palästina vermutet. In seinem Buch „Geschichte des Zionismus“ (durchgesehene Ausgabe 2019) unterstellt Brenner, dass Herzl die Palästinenser nicht wahrgenommen hätte.[14] In einem aufschlussreichen Interview 5 Jahre später entlarvt er es als Mythos, denn Herzl hätte Palästina besucht und die Gegebenheiten gekannt. Brenner erklärt Herzls Naivität bezüglich eines friedlichen Zusammenlebens mit dessen Auffassung, dass die europäische Zivilisation der des Nahen Ostens überlegen sei und die Juden deshalb mit offenen Armen empfangen würden.[15]
In Herzls Roman „Altneuland“ [16] aus dem Jahr 1902 stehen die arabischen Einwohner – der Begriff „Palästinenser“ entstand erst in den 1960er Jahren – der jüdischen Einwanderung durchaus positiv gegenüber, denn auch sie können die neue von Juden implementierte neu Infrastruktur nutzen. In Herzl Roman, der prosaisch die Agenda des „Der Judenstaat“ abbildet, wird das Gebiet Palästina vom Osmanischen Reich mit einem Besiedlungsvertrag in Besitz genommen. Herzl Reise nach Palästina im Jahr 1898, eigentlich angedacht, um den deutschen Kaiser Wilhelm für die Idee des Zionismus zu gewinnen, ließ die Erkenntnis reifen, dass Palästina von Menschen bewohnt war, die sich nicht einfach neuen jüdischen Siedlern unterwerfen wollten, sondern ebenfalls Interesse an einer souveränen Heimstätte hatten. In der türkischen Armee hatten sich bereits arabische Offiziere zusammengetan, die genau das verfolgten: die Befreiung vom osmanischen Joch. Und im Gegensatz zu den migrierenden Juden lebten diese Araber bereits dort, was später als Palästina bezeichnet wurde. Nach der ersten Alija (Einwanderungswelle) noch vor dem Entstehen der zionistischen Bewegung war das Verhältnis von Arabern zu Juden ca. 500 zu 50 Tausend. Insofern ist der Einwand nachvollziehbar, diese Demografie einzubeziehen. Im Jahr 1936 während der fünften Einwanderungswelle (1933 bis 1945) wurden ca. 400.000 jüdische Bewohner gezählt, die damit 1/3 der Bevölkerung erreichten. Das konnte nicht ohne Eindruck auf die Palästinenser bleiben. Schon 1881 kam es zu Scharmützeln mit jüdischen Einwanderern.[17]
Herzl hat im „Judenstaat“ noch vor seinem Besuch in Palästina zu Nicht-Juden wie folgt geschrieben:
„Und es fügt sich, dass auch Andersgläubige, Andersnationale unter uns wohnen, so werden wir ihnen einen ehrenvollen Schutz und die Rechtsgleichheit gewähren. Wir haben die Toleranz in Europa gelernt.“[18]
Im Roman „Altneuland“ wurde das Bild korrigiert, denn er konnte sich in seinem Besuch 1998 davon überzeugen, dass es kein „Land ohne Volk“ war. Dieser Slogan soll im Übrigen nicht von ihm, sondern vom britisch-jüdischen Schriftsteller und Zionisten Israel Zangwill stammen. Aber selbst das gilt nicht als gesichert. Zumindest hat Zangwill 1901 in einem Artikel „The Return to Palestine“ der New Liberal Review den Slogan populär gemacht und damit der zionistischen Bewegung suggeriert, das angestrebte Land hätte keine Bevölkerung.[19]
Herzls Bild des israelischen Utopia geht davon aus, dass die Juden bereits als Staat über das Territorium verfügen, wo sich andere mit gleichen Rechten einfinden können. Das passt weder für die frühen Siedlungen der 1920er Jahre, der Staatsgründung und was danach kam. Herzl hat das Palästinenserproblem nicht sehen wollen, die Briten haben es – obwohl initiiert – lange ignoriert. Brenner sieht das Problem im berechtigten Anspruch beider Gruppen und macht es sich damit salomonisch einfach.
Herzl hat in seinen Tagebüchern im Eintrag für den 12. Juni 1895 eine Strategie für die Besiedlung Palästinas angeboten, die sich weitgehend mit der Vertreibung der arabischen Bevölkerung deckt.
„Wenn wir das Land besetzen, werden wir dem Staat (das osmanische Reich; der Autor), der uns aufnimmt, sofortige Vorteile bringen. Wir müssen das Privateigentum auf den uns zugewiesenen Ländereien sanft enteignen. Wir werden versuchen, die arme Bevölkerung über die Grenze zu bringen, indem wir ihr in den Transitländern Arbeit verschaffen, während wir ihr in unserem eigenen Land jede Beschäftigung verweigern. Die Eigentümer werden sich auf unsere Seite schlagen. Sowohl der Prozess der Enteignung als auch die Entfernung der Armen müssen diskret und umsichtig durchgeführt werden. Lassen Sie die Immobilieneigentümer glauben, dass sie uns betrügen, indem sie uns Dinge für mehr verkaufen, als sie wert sind. Aber wir werden ihnen nichts zurückverkaufen.“[20] (Übersetzt vom Autor)
Dieser Prozess wurde noch unter dem Osmanischen Reich angestoßen und nach dem ersten Weltkrieg unter dem britischen Mandat weitergeführt. Die Regierung des Königsreichs beschränkte 1922 mit dem sogenannten Churchill-Weißbuch den nicht mehr kontrollierbaren Zustrom vor allem aus Osteuropa und erklärte, dass Palästina kein rein jüdischer Staat werden würde.[21] Damit wurde auch die Interpretation der vage formulierten Balfour-Deklaration geschärft.
1.4 Heiliges Recht der Wiederbesiedelung
Die Juden haben nach Herzls Lesart ein historisch verbrieftes Recht aufgrund der Vertreibung vor 2000 Jahren und den verbliebenen Gemeinden in Palästina. Die Palästinenser waren die ganze Zeit anwesend und die überaus große Mehrheit in dem Land, dass auch ihnen durch die Briten zugesagt wurde. Brenner stellt zurecht fest, dass es ohne die Shoah vielleicht nicht zur Staatsgründung gekommen wäre.[22] Mit der Shoah haben wiederum die Palästinenser nichts zu tun gehabt. Der humanitäre Druck war groß, und es bot sich opportunistisch an, die bereits organisierten Fluchtströme von Europa nach Palästina zu realisieren. Die Interessen der Palästinenser wurden nicht gewürdigt, was schon die britischen Mandatsträger bewog, die Besiedelung Palästinas zu begrenzen. Das war erfolglos, rettete aber vielen Juden das Leben und verschärfte den Konflikt mit den Menschen, die schon dort lebten. Herzls Forderung aus dem „Judenstaat“, dieser möge ehrenhalber anständig gegründet werden, konnte durch die Shoah und den zweiten Weltkrieg kaum erfüllt werden.
2 Zionistischen Strömungen nach Herzl
Als Herzl den Ideen der französischen Revolution nach Paris folgte und erst durch die Dreyfuss-Affäre desillusioniert das Ziel der Assimilation aufgab, wurde im Herzen Osteuropas eine andere zionistische Strömung herausgebildet. Ein Protagonist und Journalist aus Odessa mit dem Namen Ascher Ginzberg (geb. in Kiew), der unter dem Pseudonym Achad Ha’am agierte, erkannte in der gescheiterten Assimilation einen Vorteil. Ha’am wollten keinen Judenstaat, sondern einen jüdischen Staat mit eigener, nämlich hebräischer Sprache und Kultur. Er fürchtete die Auflösung des Judentums durch Assimilation. Er sah die kulturelle Renaissance des Judentums als Voraussetzung für eine nationale Heimstätte. Liberal waren beide eingestellt, aber Herzl als Westjude hatte eine andere Sozialisation als der Ostjude Ha’am, der unter den russischen Pogromen gelitten hatte. Ha’am erkannte im Gegensatz zu Herzl aufgrund seiner Reisen nach Palästina sehr früh, dass die arabische Bevölkerung nicht erfreut auf die jüdische Einwanderung nach Palästina reagieren würde. Ha’am war realistischer als der Utopist Herzl.[23]
Beide zählten sie dennoch zu den moderaten Vertretern der Bewegung gen Palästina, auch wenn Ha’am das religiös-kulturelle Element für die jüdische Szene in Osteuropa stärkte, was später bis heute eine große Rolle in der Entwicklung Israels einnehmen sollte.
2.1 Misrachi: religiöse Zionisten
Im Jahr 1902 noch zu Herzls Lebzeiten wurde die „Misrachi (zu Deutsch: nach Osten) im litauischen Vilnius gegründet.
Die Misrachi-Organisation hielt es für eine religiöse Pflicht, den Staat Israel zu gründen, und zwar abgeleitet von der Tora als Großisrael (Eretz Israel). Einige Ultra-Orthodoxe wiederum meinen, dass Israel erst nach dem Erscheinen des Messias erlöst sein wird und vorher kein Staat sein kann.
Die durchaus zionistische Misrachi-Partei war unter den jüdischen Orthodoxen eine Option, den Staat Israel zu unterstützten ohne die Prämissen der Ultraorthodoxie negieren zu müssen. Das ultraorthodoxe bzw. charedische Judentum gewinnt aufgrund der eigenen dynamischen Population (7,1 Kinder pro Frau) immer mehr Einfluss.[24] Die Misrachi-Partei wurde 1956 aufgelöst und ging später in die „Mifleget Datit Leumit“ (deutsch: Religiöse Nationale Partei) über, die aktuell in Knesset und Regierung vertreten ist und deren Vorsitzender der rechtsradikale Finanzminister Bezalel Smotrich ist.
Ähnlich klingend, aber anders zu verorten sind die „Misrachim“, der Begriff für orientalische Juden, die inzwischen über ca. die Hälfte der israelisch-jüdischen Bevölkerung stellen. Die orientalischen Juden (oder Misrachim) wählen überwiegend israelische Rechtsparteien, denn linke Parteien werden mit den europäischen Juden (oder Aschkenasim) in Verbindung gebracht, die im Verdacht stünden, Israel als eine koloniale Enklave zu bevorzugen. Die Misrachim pflegen eine jüdisch-arabische Kultur. [25]
Der Zionismus war ursprünglich a-religiös. Der Historiker Moshe Zimmermann bewertet die Veränderung wie folgt:
„Im Zuge der Einwanderung von orthodoxen Juden aus den arabischen Ländern seit 1948, aber auch wegen der durch religiöses Sentiment beeinflussten Siedlungsbewegung seit dem Sechstagekrieg 1967, änderte er seine säkulare Grundhaltung. Das führte dazu, dass Ultraorthodoxe sich nun mit dem neuen, vom jüdischen Fundamentalismus motivierten Zionismus anfreunden und sogar die Zusammenarbeit mit dem rechtsnationalistischen Block vorziehen.“[26]
Dabei wird die Einteilung von „rechts“ und „links“ von der Palästina-Politik determiniert.
2.2 Die sozialistischen Zionisten
Mit der zweiten Alija zwischen 1904 und 1914 und dritten Alija (1919–1923) – vorwiegend aus dem osteuropäischen Raum – kamen junge zionistische Sozialisten nach Palästina. Unter ihnen auch bekannte Vertreter wie Berl Katznelson, Mitbegründer der israelischen Kaufhauskette „Maschbir“ und „Kuppat Holim Me’uhedet“, Israels drittgrößter Organisation für Krankenversicherung und medizinische Dienstleistungen. Weitere Protagonisten waren der zweite israelische Staatspräsident Jizchak Ben Zvi und David Ben-Gurion, der die Gründung Israels 1948 ausrief und erster Staatschef wurde. [27]
Die zionistischen Sozialisten setzten sich für die Abschaffung des Kapitalismus und die Entwicklung kollektiver landwirtschaftlicher Siedlungen ein, die in Gestalt der Kibbuze realisiert wurden.
Zionismus und marxistische Ideen waren kompatibel soweit das Thema „Internationale Solidarität“ ausgespart blieb. Und wie in den USA konnten die neuen Bürger Staat, Verfassung und Wirtschaftsordnung nach mehrheitlichen Vorstellungen gestalten. Da „Arbeit“ schon bei Herzl einen großen Raum in seinem „Der Judenstaat“ einnimmt, war eine Verbindung zu den Idealen der europäischen Arbeiterbewegung nicht abwegig. David Ben-Gurion ging so weit, dass er das territoriale Anrecht der Araber in Abrede stellte, weil sie das Land nicht bearbeiteten, sondern brachliegen ließen.[28]
Die marxistische „Poalei Zion“ („Arbeiter Zions“) machte die abnormale wirtschaftlichen Situation der Juden für den Antisemitismus verantwortlich, was in einem eigenen Staat verändert werden könnte.[29] Es bestanden noch andere sozialistische Gruppen mit tlw. nationalistischer Agenda, der Kern blieb die Kibbuzim-Bewegung.
Die zionistischen Sozialisten konnten sich auf Marx und die Bibel berufen. Noch in den 1980er Jahren waren die Gewerkschaften in Israel Eigentümer der meisten Industriebetriebe. Die Lage ist nun anders und die genossenschaftlichen Kibbuze sind nur noch in der Minderheit. Die Privatisierung und soziale Differenzierung beherrscht das heutige Israel. Danny Wieler schrieb schon im Jahr 2012:
„Hundert Jahre nach ihrer Gründung und 50 Jahre nach ihrem Höhepunkt sehen die meisten Kibbuzmitglieder ihre Lebensform vom Aussterben bedroht. Von den meisten Israelis wird die Kibbuzbewegung nicht mehr ernst genommen und als Episode der israelischen Geschichte abgetan.“[30]
Der Rechtsruck in Israel wurde auch von der Entwertung der Kibbuz-Bewegung begleitet. Auch diese Entwicklung hat mit der Fragmentierung des Zionismus zu tun. Es ist der in den 1920er Jahre aufkommende rechte revisionistische Zionismus.
2.3 Chaim Weizmann: Synthetischer Zionismus
Chaim Weizmann wurde vor über 75 Jahren von der Knesset zum ersten Präsidenten Israels gewählt. Weizmann, geboren im heutigen Belarus, kam als junger Mann nach Deutschland und absolvierte ein Studium zum Chemiker in den 1890er Jahren. Weizmann war bereits glühender Zionist, als er in der Schweiz, wohin er seinen akademischen Lehrern folgte, mehrere zionistische Vereine gründete. Er ging 1904 nach England, weil er erkannte, dass die zionistische Bewegung sich dort besser entfalten könnte. Das Umfeld war deutlich weniger antisemitisch eingestellt. Im Jahr 1910 wurde Weizmann britischer Staatsbürger.
Weizmann, der in den Jahren davor Palästina und die ersten jüdischen Siedlungen besuchte, setzte auf das richtige Pferd, denn das Vereinigte Königreich wurde 1920 auf der San Remo Konferenz nach dem 1.Weltkrieg und der Zerschlagung des Osmanischen Reiches das Mandat für Palästina zugesprochen, was zwei Jahre später vom Völkerbund bestätigt wurde. Weizmanns hartnäckige zionistische Bemühungen mündeten in die Balfour-Deklaration, an der er wesentlich mitwirkte.[31]
Es war ein Schreiben bestehend aus 67 Worten des britischen Außenministers Arthur Balfour an den seinerzeit prominentesten zionistischen Repräsentanten Lionel Walter Rothschild, das eine Unterstützung der zionistischen Idee Herzl signalisierte. Weizmann, der Generalsekretär des Zionistischen Welt-Kongresses Nachum Sokolov und der britische Unterhändler Mark Sykes hatten die Korrespondenz vorbereitet.[32]
Weizmann steht für die Synthese des Herzl’schen „Politischen Zionismus“ der Staatsgründung und dem „Praktischem Zionismus“, der eine jüdische Besiedelung bis zur Mehrheit der Gesamtbevölkerung präferierte. Auf dem Achten Zionistenkongress in Den Haag rief Weizmann dazu auf, beide Richtungen zu vereinen, was fortan als „Synthetischer Zionismus“ zur Leitlinie der Bewegung wurde. Im Jahr 1920 wurde Weizmann zum Präsidenten der Zionistischen Organisation gewählt, der er bis 1931 und von 1935 bis 1946 vorstand. Die Unterbrechung resultiert aus dem britischen Weißbuch von 1930, das eine Beschränkung des jüdischen Siedlerstroms festgelegt hatte. Weizmann trat aus Zorn zurück, denn so könne die Majorisierung Palästinas nicht gelingen.
Erst die britische Erneuerung, das jüdische Projekt verpflichtend zu unterstützen, konnte Weizmann motivieren wieder Präsident zu sein.[33] Die extrem antisemitische Haltung Nazi-Deutschlands ab 1933 („Juden-Boykott“ am 1.April 1933) mit der einsetzenden jüdischen Fluchtbewegung hat die britische Regierung umdenken lassen. Das Dilemma mit der inzwischen widerständigen palästinensischen Bevölkerung war damit nicht mehr zu vermeiden. Im Jahr 1939 wurde ein weiteres Weißbuch mit einer noch engeren Begrenzung jüdischen Zuzugs erstellt, was in den Augen der Zionisten und auch Weizmanns einen britischen Verrat darstellte. Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs veränderte auch die Koordinaten in Palästina, denn nun konnte Weizmann in den USA massiv für einen Judenstaat in Palästina auch als Bollwerk gegen das antisemitische Nazi-Deutschland werben.
Zeitgleich setzen sich Weizmann und David Ben-Gurion für die Bildung einer jüdischen militärischen Einheit in Palästina ein. Weizmann, der über lange Zeit eine feste pro-britische Haltung einnahm, wurde später vehement kritisiert, als die Briten den Flüchtlingszustrom verhindern wollten und letztlich durch (Untergrund)Milizen wie Stern-Gang (Lechi), Irgun und Haganah aus dem Land gebombt wurden.[34] Es war nicht nur die Stunde der religiösen und revisionistischen Zionisten, aber diese Strömungen bekamen deutlich Oberwasser.
2.4 Revisionistischer Zionismus und Netanjahu
Die Revisionisten gewannen in der zionistischen Bewegung mehr Aufmerksamkeit und Zuspruch mit dem wachsenden Widerstand der arabischen Bevölkerung in Palästina. Waren Herzl und Weizmann um ein friedliches Miteinander bemüht, sahen die Revisionisten die Araber als ernstzunehmende Feinde an, denen nur mit Stärke begegnet werden könne. Das richtete sich auch gegen Herzls unrealistische Vorstellung der sachten und unmerklichen Enteignung und Vertreibung.
Der Hauptrepräsentant war der russische Schriftsteller Wladimir Zeev Jabotinsky. Für ihn waren die Araber, die er ansonsten respektierte, 500 Jahre hintendran und es galt die Araber mit einer „eisernen Wand“ zurückzuhalten. Jabotinsky schrieb in seinem lesenswerten Essay :
„Die zionistische Kolonisierung muss entweder aufhören oder ungeachtet der einheimischen Bevölkerung fortgesetzt werden. Das bedeutet, dass sie nur unter dem Schutz einer Macht (England, der Autor) fortgesetzt und weiterentwickelt werden kann, die unabhängig von der einheimischen Bevölkerung ist – hinter einer eisernen Mauer, die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann. Das ist unsere Arabienpolitik; nicht wie sie sein sollte, sondern wie sie tatsächlich ist, ob wir es zugeben oder nicht. Wozu sonst die Balfour-Erklärung? Oder das Mandat? Ihr Wert für uns besteht darin, dass eine externe Macht sich verpflichtet hat, in dem Land solche Verwaltungs- und Sicherheitsbedingungen zu schaffen, dass es der einheimischen Bevölkerung unmöglich ist, unsere Arbeit zu behindern, sollte sie dies wünschen. “[35] (übersetzt vom Autor aus dem Englischen)
Der in Russland eigentlich assimilierte Wladimir Jabotinsky hatte sich bereits im Ersten Weltkrieg mit der Gründung der Jüdischen Legion im britischen Heer exponiert. Er unterstützte 1918 auch die „Befreiung“ Palästinas durch die britischen Truppen. 3 Jahre später wurde er in die Exekutive der zionistischen Organisation aufgenommen, um sie im Jahr 1923 wegen zu nachsichtiger Haltung gegenüber der britischen Mandatsmacht zu verlassen. Jabotinsky gründete 1925 die rechtsgerichtete Jugendorganisation Betar und die Union der Zionisten-Revisionisten, die bis zum Ausscheiden aus der Zionistischen Weltorganisation im Jahr 1935 21% der Delegierten stellte.[36] Ursprünglich dem Sozialismus zugetan entwickelte sich Jabotinsky vom liberalen Individualisten zum Nationalisten. Jabotinsky erkannte sehr weitsichtig die Gefahr des deutschen Nationalsozialismus und entwickelte folgerichtig Massenauswanderungspläne, die allerdings von den betreffenden Regierungen in Polen, Rumänien und Ungarn abgelehnt wurden. Die Geschichte zeigt, dass Jabotinsky richtig lag. Die drohende Vernichtung osteuropäischer Juden durch Pogrome und Aufsaugens durch die Sowjetunion machten Jabotinsky große Sorgen auch hinsichtlich nationaler Ambitionen. Aber auch Jabotinsky erkannte, dass die Juden in der Sowjetunion, die er politisch ablehnte, sicher waren im Verhältnis zu Nazi-Deutschland.[37]
Zusammenfassend lässt sich Jabotinsky als ein nationalistisch zionistischer Antisozialist beschreiben, der mit allen Mittel den Judenstaat anstrebte; aber in den Arabern ein Hindernis sah, dass nicht diplomatisch einzuhegen war. Diese Position des antidiplomatischen Zionismus wird als revisionistisch bezeichnet, weil die Agenda in Abgrenzung zur britischen Idee Transjordanien einschließt. Das Ziel ist ein Groß-Israel (Eretz Israel) noch über das Westjordanland hinaus. Die Rechtsparteien um Ben-Gvir und Smotrich sind echte Revisionisten, während Netanjahus Likud-Partei den Revisionismus auf das Westjordanland und inzwischen auch den Gaza-Streifen beschränkt. Jabotinsky wollte mehr.
„The goal of Zionism is: Eretz Yisrael as a single state on both sides of the Jordan River.“[38]
Jabotinsky Einfluss auf die zionistische Bewegung, besonders der rechtsradikalen Ausrichtung war enorm. Sein Privatsekretär war Benjamin Netanjahus Vater Ben-Zion, der später als Professor für jüdische Geschichtete lehrte. Ben-Zion zog mit seiner Familie 1962 in die USA, um dem israelischen Sozialismus zu entkommen. Jabotinskys Einfluss hielt offenkundig lange vor. In diesem Geist rechtsgerichteter Juden wuchs auch am Benjamin Netanjahu auf, der sich betont antisozialistisch und neoliberal gibt. Während seiner Regierungszeit wurde industriell privatisiert und die soziale Schere ging weiter auf. Korruptionsprozesse gegen Netanjahu und der Versuch, die Gewaltenteilung zu verwässern sind Anzeichen einer Politik, die von allen rechten Populisten weltweit getragen wird. Eine Seelenverwandtschaft zu Donald Trump ist offensichtlich. Die besondere Tragödie besteht im Zusammenspiel der beiden Protagonisten.[39]
Die von Netanjahu geführte Likud-Partei (ehemals Likud-Block) entstand ganz wesentlich aus dem Heruth, einer klassisch revisionistischen Partei mit allen reaktionären Eigenschaften. Heruth war nach der Fusion 1977 die bestimmende Fraktion im Likud. Um aber die bis dahin regierende Arbeiterpartei bei den nächsten Wahlen abzulösen, verzichtete Heruth auf die Doktrin der Revisionisten, „Israel auf beiden Seiten des Jordans“ errichten zu wollen.[40]
Der aktuelle Regierungsblock besteht aus Netanjahus Likud, Shas-Partei (Ultraorthodoxe), dem Vereinigten Thora-Judentum, Smotrichs Religiös-Zionistische Partei, Ben-Gvirs Otzma Yehudit und der rechtsradikalen Noam-Partei. Der Block steht für religiös-revisionistische Politik der Gebietserweiterungen. Benjamin Netanjahu steht im Zentrum dieser Vereinigung stets unter dem Druck einer noch weiter rechten Partei, die partikularen Interessen zu achten. Rechtsradikale haben das Land im Griff zumindest bis zur nächsten Schicksalswahl.
3 Die Zweistaatenlösung: eine Sackgasse?
Moshe Zimmermann, der sich inzwischen aufgrund der Wandlung des Politischen Zionismus hin zur religiös-nationalistischen Ausformung nicht mehr als Zionist versteht, plädiert nach wie vor – ähnlich zur UN – für eine Zweistaatenlösung in Palästina.
Der Hamas-Überfall ist für Zimmermann das „Zerplatzen einer Illusion“: der schwelende Konflikt würde dauerhaft unter den Teppich gekehrt. Selbst die letzten Wahlkämpfe hätten das Thema ausgespart.[41] Die Besetzungen des Westjordanlandes, die Hamas-Finanzierung der Gaza-Verwaltung durch Katar und vermeintliche Ruhigstellung durch militärische Grenzposten wurden als Normalität in den israelischen Alltag übernommen. Der Blick für die Perspektivlosigkeit der Palästinenser blieb trübe. Der Konflikt wurde „gemanagt“ und vertiefte auf palästinensischer Seite die Aversion gegen die israelische Besatzung. Es war aus palästinensischer Sicht nicht einmal ein eingefrorener Zustand, sondern das Erleben eines erodierenden potenziellen Staatsgebiets durch israelische Siedlungsinitiativen. Das Westjordanland, das von den religiös-nationalistischen Kräften so begehrt ist, wurde immer mehr zerklüftet.
Das Ziel der Unmöglichkeit eines Palästinenserstaats auf diesem Terrain wurde Siedlung für Siedlung näher gebracht. Der Gaza-Streifen wurde den Hamas-Terroristen überlassen. Dort wurden sogar israelisch Siedlungen zurückgeführt, um die Hamas zufriedenzustellen, was deren Image auch im Westjordanland eminent verbesserte. Die Fatah als dominanter Teil der Autonomieverwalterin des „schrumpfenden“ Westjordanlands wurde von der Hamas in den Schatten gestellt.

Die Position der Hamas ist nach dem 7. Oktober 2023 deutlich geschwächt, zumindest personell und im internationalen Einfluss. Für die Zeit nach Beendigung des Gaza-Kriegs haben sich Fatah und Hamas unter Vermittlung Ägyptens auf ein gemeinsames Komitee zur Verwaltung des Gaza-Streifens geeinigt.[42] Das Vorhaben wird angesichts der Ereignisse in Gaza kaum zu realisieren sein. Die UN hat sich zurecht deutlich gegen Hamas ausgesprochen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Hamas einen militanten und politischen Flügel hat, und letzterer gilt als weniger extremistisch. Bereits Ende 2023 erklärte Politbüromitglied Husam Badran dem Wallstreet Journal in Doha, den Krieg beenden zu wollen, während der militante Teil unter dem inzwischen getöteten Führer Jihia Sinwar weiter Raketen abschoss.[43]
Unabhängig von einer möglichen Einbindung gesprächsbereiter Hamas-Vertreter sieht Zimmermann die Fragmentierung des Westjordanlands (Abb. 10) durch die israelische Siedlungspolitik als das schwerwiegendste Problem einer Zweistaatenlösung an. Damit steht er nicht allein. Er hält er an diesem Ziel fest, auch wenn die Zahl der Siedler in den letzten 30 Jahren von 100 Tsd. auf 700 Tsd. anstieg. Er hält die Rückbildung der illegalen Siedlungen („Inseln israelischer Souveränität“) für sehr schwierig. Das Problem wurde durch den Hamas-Überfall und der sich daraus resultierenden Radikalisierung beider Seiten noch größer.
Zimmerman sieht dennoch keine Alternativen, denn gerade die verhärtete Feindschaft wäre in einer Einstaatenlösung eine noch größere Hürde für friedliches Miteinander. Siedler und Hamas-Anhänger müssen vorerst voneinander getrennt werden, wenn Gewalt sich nicht vermeiden lässt. Ein prominenter Vertreter der Einstaatenlösung ist der israelische Philosoph Omri Boehm, der in Anlehnung an den Politischen Zionismus Herzls einen Staat mit zwei Völkern für möglich hält.[44] Die Idee bezieht sich auf den Vorschlag Menachem Begins von 1977, den Palästinensern eine Autonomie in einem erweiterten Israel einzuräumen.[45]
Die Idee der binationalen Zweitstaatenlösung mit palästinensischer Autonomie: Bewohner des Westjordanlands und des Gazastreifens hätten die Wahl zwischen der israelischen und der jordanischen Staatsangehörigkeit und damit das jeweilige Wahlrecht für die Regierungsbildung der Parlamente. Die Konsequenz wäre die Aufgabe des „jüdischen Staates“, der vom Wahlrecht und -verhalten der Palästinenser abhängig wäre. Es wäre auch ein Wettlauf um die erfolgreichste Population. Momentan liegen die Palästinenser leicht vorn, sind aber durch den Gaza-Krieg in einem Abwärtstrend, der sich schon vorher abzeichnete. Eine wie von Boehm favorisierte Föderation könnte dennoch verfolgt werden, ist aber aktuell mehr Utopie als ein realistisches Szenario solange der Konflikt nicht weitestgehend bewältigt ist. Zwischen den Nationen braucht es vorerst einen neutralen Korridor.
Die Zweistaatenlösung ist die Ur-Idee der UN und die nationale Souveränität gemäß Völkerrecht ist durchzusetzen. Die Bildung von Staaten oder besser liberalen Staaten sollten nicht mehr wie vor einigen Jahrhunderten religiös-ethnisch definiert sein. Die Auswanderungs- und Migrationsbewegungen in der globalisierten Welt stellen an Staaten neue Herausforderungen, die mit der Erziehung zur religiösen Freiheit incl. des Atheismus bewältigt werden müssen.
Der Terrorismus, ob religiös wie im Nahen Osten oder politisch-rassistisch durch Putins Russland intendiert, basiert auf Feindschaft wie sie von Jabotinsky formuliert wurde. Das Ziel muss sein, dass Juden und Palästinenser in ihren Staaten mit den jeweiligen Minderheiten des Nachbarstaates gewaltlos übereinkommen. Dazu wird ein UN-Engagement und eine von Kontrahenten entmilitarisierte Zone (Korridor) unabdingbar sein. Zimmermann hält das für eine Mammutaufgabe und betont die Erkenntnis, dass momentan kein anderer praktikabler Vorschlag vorliegt.[46]
Demnächst folgt Teil II: Urknall des Islamismus
[1] Busse/ Stetter 2018, S. 98
[2] Rendtorff 1976, o.S.
[3] Jean-Paul Sartre 1944, S. 171
[4] ZDFheute 2024, o.S.
[5] De Volkskrant 2025, o.S.
[6] Mit “zionistisch” ist nicht der Ansatz Herzls‘ gemeint, sondern die religiöse Auslegung zur Vereinnahmung des gesamten historischen Palästinas
[7] Herzl 1896, S.56
[8] Achenbach/ Ginzel 2015, o.S.
[9] Ebenda, S. 24f
[10] Ebenda, S. 51
[11] Ronneburger 2011, o.S.
[12] Herzl 1895, S. 64
[13] Ebenda, S. 66f
[14] Brenner 2019, S. 34f
[15] Rapp 2024, o.S. (Interview mit Michael Brenner)
[16] „Altneuland“ wird prosaisch im Hebräischen mit „Tel Aviv“ übersetzt, der ersten in 1909 gegründeten jüdischen Stadt, die ehemals ein Vorort von Jaffa war. Herzls Einfluss ist nicht zu bestreiten. (Herzl 1902)
[17] Brenner 2019, S. 67
[18] Herzl 1895, S. 63f
[19] Penslar 2005, o.S.
[20] Herzl 1895, S. 88
[21] ECF 1970, o.S.
[22] Rapp 2024, o.S.
[23] Brenner 2019, S. 46ff
[24] Lintl 2020, S. 29
[25] Dachs 2018, S.47
[26] Zimmermann 2022, o.S.
[27] Tegtmeyer 2024, o.S.
[28] Brenner 2019, S. 80
[29] Brenner 2008, o.S.
[30] Wieler 2012, S. 6
[31] Serafin 2024, o.S.
[32] Kinet 2017, o.S.
[33] Hagalil 2022, o.S.
[34] Spiegel 2022, o.S.
[35] Jabotinsky 1923, S.7
[36] Vidal 1996, o.S.
[37] Brumlik 2021, o.S.
[38] Jabotinsky 1925, o.S.
[39] Poppe 2021, o.S
[40] Roman 1984, o.S.
[41] Zimmerman 2024, o.S.
[42] APN 2025, o.S.
[43] dpa 2023, o.S.
[44] Boehm, Stein, Zimmermann, Brumlik 2021, o.S.
[45] Zimmermann 2024, o.S.
[46] Edenda
Quellen
Achenbach, Rüdiger / Ginzel, Günther Bernd 2015: Theodor Herzl und sein Manifest für eine jüdische Nation. https://www.deutschlandfunk.de/die-idee-eines-juedischen-staates-2-theodor-herzl-und-sein-100.html. 30.07.2025
APN 2025: Hamas und Fatah einigen sich auf Bildung von Komitee für Gaza-Verwaltung nach Krieg. https://www.stern.de/news/hamas-und-fatah-einigen-sich-auf-bildung-von-komitee-fuer-gaza-verwaltung-nach-krieg-35279022.html. 03.08.2025
Boehm, Omri 2020: Israel – eine Utopie: Eine hoffnungsvolle Vision für den Nahen Osten. Propyläen Verlag
Boehm, Omri/ Stein, Shimon/Zimmermann, Moshe/ Brumlik, Micha 2021: Israel – welche Utopie? https://www.blaetter.de/ausgabe/2021/maerz/israel-welche-utopie. 01.08.2025
Brenner, Michael 2008: Die Entwicklung des politischen Zionismus nach Herzl. https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/israel/44948/die-entwicklung-des-politischen-zionismus-nach-herzl/. 31.07.2025
Brenner, Michael 2018: Eine Bewegung schafft sich ihren Staat: der Zionismus. https://www.bpb.de/shop/ zeitschriften/izpb/israel-336/268889/eine-bewegung-schafft-sich-ihren-staat-der-zionismus/. 30.06.2025
Brenner, Michael 2019: Geschichte des Zionismus. C.H.Beck, München 2002, durchgesehene Ausgabe 2019.
Brumlik, Micha 2021: Vladimir Jabotinskys „Die jüdische Kriegsfront“: Für eine „Jüdische Legion“. https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/vladimir-jabotinsky-die-juedische-kriegsfront-fuer-eine-juedische-legion-90924145.html. 02.08.2025
Busse, Jan / Stetter, Stephan 2018: Israels Skepsis gegenüber den UN. https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2018/Heft_3_2018/02_Busse-Stetter_VN_3-2018_7-6-2018.pdf. 30.07.2025
Dachs, Gisela 2028: Schmelztiegel oder Mosaik? Israelische Gesellschaft. https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/BPB_873-18_v%20ND%20IzpB%20336%20%E2%80%93%20Israel_WEB.pdf. 31.07.2025
De Volkskrant 2025: Überheblich und gefährlich. https://www.eurotopics.net/de/342175/was-bezweckt-israel-mit-luftangriff-auf-damaskus#. 25.07.2025
dpa 2023: Bericht: Politischer Flügel der Hamas für Ende des Kriegs. https://www.sueddeutsche.de/politik/nahost-bericht-politischer-fluegel-der-hamas-fuer-ende-des-kriegs-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-231220-99-360146. 03.08.2025
ECF 1970: British White Paper of June 1922 on Palestine – English. https://ecf.org.il/media_items/439. 31.07.2025
Hagalil 2022: „Vielleicht wird dann aus der Dunkelheit ein neues Licht auf uns scheinen“. https://www.hagalil.com/2022/11/weizmann/#. 02.08.2025
Herzl, Theodor 1895: The complete diaries of Theodor Herzl. https://ia903407.us.archive.org/2/items/the-complete-diaries-of-theodor-herzl/The%20Complete%20Diaries%20of%20Theodor%20Herzl.pdf. 31.07.2025
Herzl, Theodor 1896: Der Judenstaat. Textgrundlage: Athenäum Verlag, Königstein 1996. Neusatz von Michael Holzinger; Berliner Ausgabe, 2016, 4.Auflage
Herzl, Theodor 1902: AltNeuland. Books on Demand, Norderstedt, 2004.
Jabotinsky, Ze’ev 1923: The iron Wall. https://en.jabotinsky.org/media/9747/the-iron-wall.pdf. 02.08.2025
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Lintl, Peter 2020: Die Charedim als Herausforderung für den jüdischen Staat. https://www.swp-berlin.org/publications/products/ studien/2020S21_CharedimIsrael.pdf. 31.07.2025
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Rapp, Tobias 2024: »Es gibt den Zionismus der Begeisterung und den Zionismus der Verzweiflung«. https://www.spiegel.de/kultur/israel-es-gibt-den-zionismus-der-begeisterung-und-den-zionismus-der-verzweiflung-a-5388d3db-9171-4eb0-b51e-a63d1598d4cc. 30.07.2025
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Sartre, Jean-Paul 1944: Drei Essays. Ullstein Bücher; Frankfurt a. Main, 1960
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