Kurzer historischer Rückblick auf den Pazifismus
Gut 100 Jahre nach Kants Appell Zum ewigen Frieden (1795) stimmt Karl Liebknecht 1914 im Deutschen Reichstag gegen die Bewilligung von Kriegskrediten und spaltet damit die Arbeiterbewegung. Weil die Folgen immens waren, wurde diese Anti-Aufrüstungsposition von Liebknecht zu einer links-kommunistischen Grundhaltung. Dass diese Haltung nur gegen eine Aufrüstung von kapitalistischen Staaten war, ging dabei häufig unter. Die russischen Genossen, die sich im Bürgerkrieg um die Macht in Russland befanden wären für einen generellen Pazifismus auch nicht zu haben gewesen. Propagandistisch kam dabei unter die Räder, dass es aus linker Perspektive offensichtlich im Kern um den Staat selbst ging, den es zu verteidigen oder zu bekämpfen galt.
Doch gehen wir noch mal 120 Jahre zurück: Immanuel Kant lebte und arbeitete in einem Staat (Preußen), der weder demokratisch, noch republikanisch war, sondern absolutistisch. Es gab einen Fürsten (König, Herzog o.ä.), der zwar nicht allmächtig war, aber formal keine menschliche Gewalt über sich hatte.
Kants Appell war vor dem Hintergrund war deshalb auch kein rein pazifistischer Friedensappell, sondern die Vision einer friedlichen neuen Weltordnung im Gegensatz zu den herrschenden Verhältnissen. Diese neue Weltgemeinschaft sollte aus demokratischen Republiken (damals gab es nur zwei, die USA und Frankreich), fußend auf internationalem Recht, einen „Völkerbund“ konstituieren. Denn: „Der Frieden muss gestiftet werden – er entsteht nicht einfach.“
1914 meinten die europäischen Monarchen, die sich verwandtschaftlich in Abneigung verbunden waren, nun wie schon immer in einem Krieg die ungelösten Machtfragen lösen zu können. Dazu brauchte man Geld, denn der Deutsche Reichstag wurde zwar inzwischen demokratisch von allen erwachsenen Männern gewählt, hatte aber immer noch keine wirkliche Macht, außer im Haushaltsrecht. Und um Krieg zu führen, brauchte man vor allem Geld, das sollte durch Kredite beschafft werden und dazu brauchte man den Reichstag. Dieser stimmt dann auch 1914 fast einstimmig den Plänen von Kaiser und seiner Regierung zu. Außer dem SPD-Abgeordneten Karl Liebknecht, der mit der „Burgfrieden-Politik“ der SPD-Fraktion nicht einverstanden war.[1]
Das war der Beginn der Spaltung der nationalen wie internationalen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Karl Liebknecht gründete 1915 zuerst die Gruppe International (Spartakus) und zum Jahreswechsel 1918/1919 die KPD mit. Die Ablehnung der Kriegskredite war nicht durch eine pazifistische Grundhaltung motiviert, sondern eine politische Ablehnung. Liebknecht und andere lehnten den monarchisch nationalistischen Obrigkeitsstaat wie das kapitalistische Wirtschaftssystem ab. Ihr Ziel war ein sozialistisches Rätesystem.
Nach 1933 stellte sich das Problem des Pazifismus in Deutschland praktisch nicht, da Pazifismus in der NS-Diktatur nicht geduldet wurde, er galt als staatsfeindlich und wurde hart verfolgt. Die NS-Ideologie war mehr noch als die preußische zutiefst militaristisch und nationalistisch. Krieg war für die Nazis nicht nur das Mittel zur Eroberung von Territorium, sondern ein „natürliches“ Ausleseprinzip, denn Gewalt und Kampf galten als Ausdruck von rassischer Stärke. Die Nazis glorifizierten den „soldatischen Geist“, Opferbereitschaft und bedingungslosen Gehorsam. „Frieden“ wurde als „Schwäche“ dargestellt und galt als „undeutsch“. Öffentlich geäußerter Pazifismus galt als „Wehrkraftzersetzung“, ein Straftatbestand, der mit dem Tode bestraft werden konnte (besonders im Krieg). Historiker gehen davon aus, dass mehrere Tausend Menschen[2] aus religiösen Gründen den Kriegsdienst verweigerten. Davon wurden mehrere Hundert hingerichtet – meist durch das Reichskriegsgericht. Viele weitere wurden zu Haftstrafen, Zwangsarbeit oder KZ-Haft verurteilt, wo sie häufig misshandelt oder zu Tode geschunden wurden. Mit dem Tode bedroht waren auch alle „Fahnenflüchtige“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland von den alliierten Siegermächten zuerst entmilitarisiert worden. Doch mit dem Beginn des Kalten Krieges, sollte Westdeutschland wieder eine Armee bekommen und Mitglied der neu gegründeten NATO werden. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO (1955) wurde mit Hilfe von alten Wehrmachtoffizieren eine neue Armee geschaffen – die Bundeswehr. Kriegsverbrechen und Nazi-Vergangenheit wurden beiseitegeschoben, der neue Feind war das Sowjetimperium.
Doch viele Deutsche hatten genug vom Krieg. Besonders christliche Gruppen, z. B. Teile der evangelischen Kirche, stellten sich aus Gewissensgründen gegen den Militärdienst.
In den 1950 er Jahren entstand so die „Ohne mich“-Bewegung“, ein loses Bündnis gegen Wiederbewaffnung und gegen die Remilitarisierung. Dabei spielte sicher auch eine Rolle, dass die junge deutsche Republik noch nicht wirklich bei den Deutschen angekommen war. Neben denen, die tatsächlich „Nie wieder Krieg“ wollten, gab es auch politische Motive wie von Kommunisten, die das als Angriff auf ihre Leute im Osten ansahen, von Alt-Nazis, die nicht mit ihrer Nazivergangenheit abgeschlossen hatten oder von Sozialdemokraten, die befürchteten, dass die Remilitarisierung in der NATO die Wiedervereinigung unmöglich machen würde. Viele Deutsche lehnten damals auch die von Adenauer betriebene Westbindung generell ab.

Zu einer Massenbewegung auf der Straße wurde die Friedensfrage dann aber als Reaktion auf den NATO-Doppelbeschluss von 1979. Am 12. Dezember 1979 beschloss die NATO die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen (Pershing II Cruise-Missiles), die auch Atombomben transportieren konnten, in Westeuropa – auch in Deutschland. Die Sowjetunion sollte, so der Plan, zu Verhandlungen über Abrüstung gezwungen werden, denn die Sowjetunion hatte zuvor SS-20-Raketen, die ebenfalls Atombomben tragen konnten, in Osteuropa stationiert.
Die Friedensbewegung verstand den NATO-Doppelbeschluss dagegen als reine Aufrüstung, nicht als Abrüstungsangebot. Es gab ein Gefühl von direkter Bedrohung durch einen Atomkrieg direkt vor der eigenen Haustür. Dagegen wurde das Motto: „Frieden schaffen ohne Waffen“ gesetzt. Hunderttausende Menschen[3] protestierten – jung, alt, religiös, links, parteilos. Die Kundgebung 1981 in Bonn war ein breites gesellschaftliches Bündnis – entsprechend vielfältig waren die Redner und Innen. Heinrich Böll,der Literaturnobelpreisträger und bekannte Intellektuelle kritisierte die Logik der Abschreckung und stellte die Friedensbewegung als moralisch notwendige Kraft dar. Petra Kelly, Mitgründerin der Grünen, setzte sich für gewaltfreien Widerstand und eine neue Friedenspolitik ein. „Wir wollen aus diesem waffenstarrenden, weltumspannenden Irrenhaus ausbrechen. Wir wollen kein Feindbild, wir wollen nicht das Fußvolk einer Raketenpartei sein.“ Hinter Petar Kelly, stand ihr Lebensgefährte Gert Bastian, bis 1980 Bundeswehrgeneral und Mitgründer der Gruppe „Generäle für den Frieden“. Für die SPD-Linke redeten Oskar Lafontaine und Erhard Eppler dazu kamen Vertreter der Kirchen – z. B. aus der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der katholischen Friedensbewegung Pax Christi. Bundeskanzler Helmut Schmidt kritisierte Lafontaine und andere SPD-Mitglieder (z.B. Gerhard Schröder und Olaf Scholz) öffentlich für ihre Teilnahme an der Kundgebung und warf ihnen vor, objektiv das Spiel der Sowjetunion zu betreiben. 1983kam die CDU unter Helmut Kohl nach einem Seitenwechsel der FDP an die Regierung und setzte die Raketenstationierung durch. 1987 regelte der INF-Vertrag die Stationierung der Mittelstreckenraketen neu. Sie wurden auf beiden Seiten abgebaut.
1983 zogen die Grünen, auch wegen der Friedensbewegung, erstmalig in den Bundestag ein. Die Grünen in ihrer Gründungsphase waren politische Pazifisten. Die einen waren wertegeleitete PazifistInnen wie Petra Kelly und Lukas Beckmann, für die Linken in der Partei wie Rainer Trampert waren die NATO und die Bonner Republik immer noch Instrumente des kapitalistischen Systems.
Dies änderte sich in den 90 er Jahren vor allem wegen der Jugoslawienkriege. Zum einen waren die linken Fundis inzwischen ausgetreten, weil sie für ihre Politik keine Mehrheiten mehr hatten, zum anderen änderte das Gemetzel von Srebrenica im Juli 1994 schon die Position der Nichteinmischung. Zum Schwur kam es dann allerdings erst 1999, als der damalige Außenminister Joschka Fischer die deutsche Beteiligung am Kosovo-Einsatz der NATO befürwortete. Das führte zu heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen. Aber Fischer setzte sich damals durch und die noch in der Partei verbliebenen linken PazifistInnen traten aus. Aus meiner Sicht nicht, weil die meisten prinzipienfeste PazifistInnen waren, sondern weil das für sie zum Wertekanon linker Politik gehörte. Dieser Wertekanon hatte sich seit 1914 zunehmend verselbstständigt, er galt, unabhängig von der Freiheit der zu verteidigenden Gesellschaft.
Dass die Grünen 2022 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine aktiv für Waffenlieferungen an die Ukraine eintraten, war deshalb keine Überraschung. Sicherheitspolitik wird bei den Grünen schon seit 1999 nicht mehr aus einer rein pazifistischen Sicht betrachtet, sondern mit dem Schutz der Menschenrechte verknüpft.
Die Linke (ehemals SED, PDS) dagegen, lehnt militärische Abschreckung und Auslandseinsätze der Bundeswehr trotz der Verurteilung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine immer noch prinzipiell ab. Sie argumentiert, dass solche Lieferungen den Konflikt verlängern würden und fordert stattdessen diplomatische Lösungen, ohne sagen zu können, wie diese aussehen sollen.
Das BSW, die Wagenknecht-Abspaltung von der Linken, verfolgt ähnlich wie in der Migrationsfrage einen nationalen Kurs. Die Bundeswehr soll ausschließlich rein defensiv auf dem nationalen Territorium agieren. Das BSW kritisiert die NATO im Duktus des Kalten Krieges als ein Bündnis, das seine Mitglieder zur Aufrüstung verpflichtet und als Machtinstrument für geopolitische Ziele dient. Russland wird nicht als Hauptaggressor des Überfalls auf die Ukraine kritisiert, sondern der NATO wird eine wesentliche Mitschuld assistiert. Die Zustimmung zur Grundgesetzänderung, Sicherheitspolitik von der Schuldenbrems auszunehmen, wird analog zur Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 gesetzt. (Siehe Foto) Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wären heute aber mit Sicherheit nicht im BSW.

Neuerdings geriert sich auch die AfD als Friedenspartei, insbesondere in den neuen Bundesländern. Faktisch fordert sie ähnlich wie das BSW eine starke, aber rein national aufgestellte Bundeswehr. Die AfD lehnt die NATO als zu US-lastig ab, setzt sich für eine strategische Partnerschaft mit Russland ein und lehnt Sanktionen gegen das Land ab, ebenso wie Waffenlieferungen an die Ukraine.
Und hier wird nun endgültig deutlich, bei rechten und linken „Friedensfreunden“ heißt die Frage nicht Krieg oder Frieden, sondern ist das mein Staat oder will ich einen anderen?
[1] Später folgte ihm noch ein zweiter Abgeordneter, Otto Rühle.
[2] Etwa 10.000 Zeugen Jehovas wurden während des NS-Regimes verfolgt, viele davon wegen ihrer Wehrdienstverweigerung oder der Weigerung, den „Führereid“ zu leisten. KZ-Haft: Circa 2.000 bis 2.500 Zeugen Jehovas kamen in Konzentrationslager. Todesopfer: Mindestens 250 bis 400 Zeugen Jehovas wurden hingerichtet, darunter viele wegen Wehrdienstverweigerung (z. B. durch das Reichskriegsgericht). Ihre Haltung beruhte auf der religiösen Überzeugung, dass sie „keine Menschen töten“ dürfen und „Gott mehr gehorchen müssen als Menschen“ (Apostelgeschichte 5:29). Dazu kamen mehrere hundert Fälle von Mitgliedern anderer Gruppen, Mennoniten, Adventisten und anderer protestantischer oder katholischer Pazifisten. Auch diese wurden verfolgt und wie der katholische Landwirt Franz Jägerstätter hingerichtet.
[3] Im Bonner Hofgarten 1981 allein über 300.000 Menschen