DIE GRÜNEN

DIE GRÜNEN

3. September 2024 1 Von Hans Dall

Von der sozialen Bewegung zur Gremien-Partei

Nach der Niederlage bei der Wahl zum EU-Parlament rutschen Bündnis90/Die Grünen weiter in den Umfragewerten ab. Anscheinend wenden sich nun auch Teile der grünen Kernwählerschaft ab. Die Grünen haben bereits bei der Europa-Wahl mehr als eine halbe Millionen Wählerinnen und Wähler an die Gruppe der Nicht-Wähler verloren, also an eine Gruppe, die nicht einfach mal eine andere Partei wählt. Das negative Erscheinungsbild der Ampelkoalition trifft nun auch die Grünen, obwohl sie sich bei allen Streitfragen eher kompromissbereit und loyal gezeigt haben. Der Niedergang setzte sich nun bei den Wahlen in Ostdeutschland fort. Die These dieser folgenden Ausführungen ist: Die Fokussierung der Politik auf Parlaments- und Regierungarbeit führt zu Enttäuschungen bei der grünen Wählerschaft und verhindert die Ausdehnung des grünen Wählerpotenzials.

Am Anfang stand der Protest, die Aktion: In den 1970er Jahren formte sich eine außerparlamentarische Bewegung, die sich vor allem auf Umweltprobleme konzentrierte: auf den Kampf gegen die Atomkraftwerke. Wyhl, Brokdorf, Wackersdorf und Kalkar stehen für diesen Kampf. Mit den Bürgerinitiativen entstehen regionale Zentren der Aktion und Gegen-Information. In dieser Zeit, 1979, gelingt der Bewegung ein Erfolg, der heute fast vergessen ist: Ministerpräsident Ernst Albrecht musste zugestehen, das der Bau einer Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben „politisch nicht durchsetzbar“ sei.

Mit dem Kampf gegen den Nato-Doppelbeschluss gelang sogar ein Bündnis mit  humanistischen Intellektuellen und Literaten sowie mit den traditionellen Linken, die an der Sowjetunion orientiert waren. Allerdings ohne sichtbaren Erfolg.

Ökologisch orientierte Gruppen, ehemalige Marxisten-Leninisten, Pazifisten, Feministinnen verbanden sich zu sozialen Bewegungen und zu einem Milieu, dass sich von den traditionellen Parteien abwendete und, nicht wie 1968, auf das studentische Milieu beschränkt war. Die „tageszeitung“ sah sich mit ihrer Gründung 1978 als Gegenöffentlichkeit für diese alternativen Milieus.

Die Parteigründung der Grünen 1980 kanalisierte den Weg dieser ökologischen, feministischen, pazifistischen Bewegungen in die Parlamente. Besonders in der Anti-AKW-Bewegung gab es in der radikalen Strömung Zweifel daran, dass über Parlamentsarbeit wesentliche Veränderungen zu erreichen seien. Die Anti-AKW-Bewegung konnte durch die Grünen in den Parlamenten die Abschaltung erreichen.

Der Sprung in den Bundestag gelang den Grünen dann schon 1983, belächelt wegen ihres anti-bürgerlichen Auftretens. Die Grünen wollten nicht sein wie die anderen Parteien: Trennung von (Partei-)Amt und Mandat, Rotation von Abgeordneten, Geschlechterparität, Basisdemokratie. Auch äußerlich wollte man sich abheben: selbstgestrickter Pullover statt Jackett und Krawatte. Legendär: Joschka Fischers Turnschuhe bei der Vereidigung zum hessischen Umweltminister.

Zunächst wurden die manchmal radikaleren Alternativen Listen in die Grünen integriert. Die ersten Jahrzehnte waren dann geprägt durch innerparteiliche Kämpfe zwischen Realos und Fundis, zwischen  Regierungsbeteiligung und Fundamentalopposition. Einige Führungspersonen der Fundis, z.B. Ebermann, Trampert, Dithfurt, verließen schließlich die Partei wieder.

Zunächst in einigen Bundesländern, dann 1998 im Bund gelang den Grünen die Beteiligung an der Regierung: Die an Reform und Kompromiss orientierten Realos hatten sich durchgesetzt. Nur noch in Detailfragen zur Programmatik oder bei der Besetzung von Ämtern wurden die unterschiedlichen Ansätze von Fundis und Realos berücksichtigt: Die Partei wurde weiter jeweils durch eine Vertreterin und einen Vertreter der beiden Parteiströmungen repräsentiert.  Erst mit der Wahl zweier Realos zum Parteivorsitz, Habeck und Baerbock 2018, wurde diese Berücksichtigung der Fundis beendet. Von vornherein schlugen die Grünen unter diesen beiden Vorsitzenden einen Kurs ein, der die Grünen koalitionsfähig machte: Die grüne Programmatik wurde im Bundestagswahlkampf 2021 als Regierungsprogramm propagiert. Da nun alle Parteien (außer der AfD) auf ihren Plakaten für Klimaschutz warben, war eine Abgrenzung für Spontan- und Wechselwähler/innen nicht immer evident. Im Wahlkampf gab es keine Kritik oder Abgrenzung gegen andere Parteien trotz massiver Anwürfe („Verbotspartei“ „Belastungsorgie für Familie“…). Die Konzentration des politischen Handelns aufs Parlament lässt die Vermutung zu: Man wollte die möglichen Bündnispartner nicht verschrecken.

Dabei hatten die Grünen einen Schub von außerhalb der Parlamente erhalten: vom Verfassungsgericht und im Frühsommer 2021 durch Fridays for Future.

Mit den Regierungsbeteiligungen seit den 1990er Jahren in einigen Bundesländern und nun zweimal im Bund wurde endgültig die Wandlung von der Bewegungspartei zur normalen Parlamentspartei vollzogen. Heute sind die Grünen in zehn Regierungen in Deutschland beteiligt. Das hat Auswirkungen auf die Art des politischen Handelns.

Wikipedia nennt die Grünen eine „Programmpartei“. Tatsächlich spielt die Formulierung der eigenen Ziele innerhalb der Partei eine zentrale Rolle, weil über diese Programmatik das politische Handeln, das heißt, die Konzentration auf das Wirken in den Parlamenten definiert wird: in Koalitionsverhandlungen und Regierungsbeteiligungen. In den Mitgliederversammlungen und Delegiertengremien spielt der Bezug auf die Zusammenarbeit in der Regierung, im Gemeinderat oder der Bürgerschaft eine große Rolle, eine Debatte über grundsätzliche Strategien des politischen Handelns jenseits der Koalitionsvereinbarung oder des Programms für die nächste Wahl findet parteiintern und -öffentlich nicht statt.

Die Parteiprogrammatik scheint nach Unterschrift unter den Koalitionsvertrag keine Rolle mehr zu spielen. MP Kretschmann bezeichnete das Parteiprogramm nach dem Koalitionsvertrag als eher störend. Oder wie ein Hamburger Abgeordneter formulierte: Die Koalitionsloyalität gilt nicht nur für die Bürgerschaftsfraktion für die Arbeit im Rathaus, sondern für die ganze Partei.

In vielen Fällen bleibt so unklar, was die Grünen als Partei eigentlich wollen, weil nicht die eigene Programmatik, sondern die Koalition für das politische Handeln von entscheidender Bedeutung zu sein scheint. In Hamburg wirken die Grünen deshalb häufig als Anhängsel der SPD. In der Bundesregierung wurde zunächst gar nicht Kritik an den Koalitonspartnern geübt, im Sinne des Gelingens der Koalition und des Staatswohls. In der Folge veränderte sich das Profil der Grünen: Reformschritte durch Beschlüsse, die häufig durch mühsame Koalitionsverhandlungen erzielt wurden, stehen im Mittelpunkt.  Diese Strategie hatte tatsächlich einige Fortschritte gebracht, vom Dosenpfand über den Atomausstieg bis zur Ehe für alle.

Da es um rechtliche Kodifizierungen von Politik , d.h. um Gesetzesbeschlüsse geht, wird Realopolitik gleichgesetzt mit Parlamentsarbeit. Kompromisse in der Koalition werden gern als Erfolg euphemistisch gefeiert, wie z.B. bei der Aufweichung des Klimaschutzgesetzes, statt zu betonen, dass die grünen Ziele eigentlich anders aussehen. Politik wird verkürzt fokussiert auf das, was in Parlamentsgremien passiert und vor allem: machbar ist. Hier wird entschieden, hier wird Politik gemacht. Der Bezugspunkt ist dann das Parlament und die Regierung. Für die Öffentlichkeitsarbeit spielt die  Parlamentsarbeit die zentrale Rolle. Nicht umgekehrt: Die Grünen wirken nicht in der außerparlamentarischen Öffentlichkeit auf anstehende Beschlüsse in den Parlamenten ein.

Angesprochen auf die Differenz zwischen Programm und Kompromiss wird gern entschuldigend vorgetragen: Wir haben leider nicht die Mehrheit… Zwar wird sicherlich in den Koalitionsgremien um das beste Ergebnis gerungen, aber die Öffentlichkeit wird  nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrages oder während der Legislaturperiode nicht im Sinne grüner Politik mobilisiert.

Die außerparlamentarische Sphäre der Politik wird vernachlässigt. Die Grünen nutzen, ja: organisieren nicht gesellschaftliche Koalitionen (z.B. mit grün-nahen NGOs wie Fridays for Future, der Deutschen Umwelthilfe oder dem ADFC), um auf den parlamentarischen Prozess Einfluss zu nehmen, sondern geraten durch ihre eingeschränkte Orientierung auf Parlament und Kompromiss in Opposition zu sonst den grünen Zielen nahestehenden NGOs. Die Partei der Grünen nimmt aufgrund der Beschränkung auf Gremienarbeit im Zwiespalt zwischen Koalitonsvertrag und Parteiprogramm ihre Rolle als eigenständige Organisation nicht wahr: Parteipolitik zu machen, das eigene Programm öffentlich und effektiv zu vertreten. Aktionen in der Öffentlichkeit (z.B. Demos oder eigenständige Aktionen) werden kaum von den Grünen initiiert, man schließt sich gern den Bewegungen an, beteiligt sich an der Organisation und der Festlegung von Inhalten, geht aber nicht initiativ voran. Für das Staatswohl (und den Koalitionsfrieden) werden Positionen vertreten, die nicht mal als Kompromiss durchgehen, sondern den Zielen der Grünen entgegenstehen: überflüssiges LNG-Terminal auf Rügen, Gasbohrungen vor Borkum oder dem Senegal, Mehrwertsteuererhöhung für Obst und Gemüse….

Insbesondere bei nicht vorhersehbaren Ereignissen (Krieg, Katastrophen, Enthüllungen) geben die Grünen nicht den Kurs vor. Sie organisieren nicht die Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern außerhalb der Parlamente zu allgemeinen oder bestimmten Fragen, bevor im Parlament oder in der Regierung (genauer: im Triumvirat der Parteioberen)  darüber entschieden wird.

Erst bei der nächsten Wahl werden dann die grünen Ziele wieder als Flyer verteilt. Da wundert sich dann so manche Wählerin, wieso die vorhergehenden Kompromisse so euphemistisch begrüßt wurden.

Koalitionsloyalität ist wichtig, man muss sich als Partner mit unterschiedlichen Programmen aufeinander verlassen können. Allerdings hat die Partei eine andere Rolle als die Mitglieder einer Regierung und die sie tragenden Fraktionen. Die Partei muss bereits zwischen den Wahlen öffentlichkeitswirksam propagieren, was ihre eigentlichen Ziele sind.

Die Sphäre der Partei ist nicht nur das Parlament, sondern auch „die Straße“, die Öffentlichkeit, die Beziehung zu anderen Organisationen, die nicht im Parlament sitzen. Es ist nicht Rolle der Partei, alles, was in der Koalition beschlossen wird, jeden Kompromiss, uneingeschränkt gutzuheißen. Die Partei darf nicht (nur) der verlängerte Arm der Parlamentsfraktion in die Öffentlichkeit sein, wenn sie bei nötigen Kompromissen nicht als Umfallerpartei oder als willfähriges Anhängsel einer größeren Partei erscheinen will.     

Will die grüne Partei nicht in Administrationsarbeit und dem Kleinklein der Reformbemühungen zerrieben werden, sollte sie sich an ihre Wurzeln als Partei der sozialen außerparlamentarischen Bewegungen erinnern.