Ernst Cassirer – Die Macht des Mythos

Ernst Cassirer – Die Macht des Mythos

13. Januar 2025 0 Von Gastautor

Zwei Beiträge von Dr. Bruno Heidlberger

  1. Dr. Bruno Heidlberger am 12.01.2025 auf X in einem Thread:



Am 10. März 1938 fiel Österreich. »Nicht der leiseste Widerstand zeigt sich bei der Intelligenz; nur sehr geringer bei der allgemeinen Bevölkerung [...] hoffnungslose Düsternis umgab uns«, (262f.) so Toni Cassirer. »Die Familie Cassirer, die sich noch in Deutschland befand, wanderte zum größten Teil aus.« Cassirers »jüngste Schwester mit ihrem Mann, eine Nichte mit Mann und Kind und meine Schwester Martha und ihr Mann vielen Hitler zum  Opfer« (268). Quelle: Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer. 

Stolpersteine: Berlin-Charlottenburg Sybelstr.

Stolpersteine: Berlin-Charlottenburg Sybelstr. 

Am 10. März 1938 fiel Österreich. »Nicht der leiseste Widerstand zeigt sich bei der Intelligenz; nur sehr geringer bei der allgemeinen Bevölkerung […] hoffnungslose Düsternis umgab uns«, (262f.) so Toni Cassirer. »Die Familie Cassirer, die sich noch in Deutschland befand, wanderte zum größten Teil aus.« Cassirers »jüngste Schwester mit ihrem Mann, eine Nichte mit Mann und Kind und meine Schwester Martha und ihr Mann vielen Hitler zum  Opfer« (268). Quelle: Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer

Ernst Cassirer (1874-1945) war ein Philosoph. Er forschte und lehrte in Berlin, ab 1919 an der Universität Hamburg und verließ Deutschland am 12. März 1933, sechs Wochen nach der Machtergreifung des NS-Regimes, auf Grund von Diskriminierung seiner Person und Familie jüdischer Herkunft.
»In den ersten Monaten der Hitler Diktatur hatte Ernst schon die Überzeugung ausgesprochen, dass das, was in Deutschland begonnen hatte, kein Judenverfolgung wäre, sondern auf die völlige Vernichtung der Juden abzielen, und dass er keinen Zweifel daran trage, dass dieses Ziel erreicht werden würde«, notiert seine Frau Toni Cassirer. Noch vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler trat Cassirer von seinem Lehramt in Hamburg zurück und emigrierte mit seiner Familie über Zürich und Wien nach Oxford.
Seine erste Stadion war Basel. Dort sprachen die Cassirers mit dem Philosophen Karl Joël, der hoffte: »Aber das muß doch bald alles vorübergehen.« Cassirer entgegnete: »Ich nehme an, daß das Regime zehn Jahre dauern wird; das Unheil, das es stiften wird, wird aber hundert bis hundertfünfzig Jahre weiterwirken«.

Wenn Hass und Hetze an die Stelle von Fakten und rationalen Gründen und für reale Probleme einfache Lösungen treten, dann ist nach Cassirer die Zeit des Mythos gekommen.

Cassirer habe aus seiner »Erkenntnis der Geschichte und des Mythos« gewusst, »was solche Bewegungen über die Menschen vermögen«. Auch in unserer Gegenwart droht die liberale Weltordnung unter der Last ihrer Widersprüche zusammenzubrechen.
Wenn Hass und Hetze an die Stelle von Fakten und rationalen Gründen und für reale Probleme einfache Lösungen treten, dann ist nach Cassirer die Zeit des Mythos gekommen.
Für Cassirer sind politische Mythen keine Fantasieprodukte, sondern strategisch konstruierte, künstliche Dinge, die von »geschickten und schlauen Handwerkern« geschaffen werden, ähnlich modernen Waffen wie Maschinengewehren oder Flugzeugen.
Ein zentraler Punkt in Cassirers Argumentation ist der Wandel in der Funktion der Sprache. Die Wörter müssen, einem magischen Zauberspruch gleich, immer wieder wiederholt werden. ›Altparteien‹, ›Mainstream-Medien‹, ›Lügenpresse‹, ›Klimadiktatur‹, ›Islamisierung‹, ›Genderwahn‹, ›Schuldkult‹, ›Umvolkung‹, ›Remigration‹. So wird Zuwanderung zum „Großen Austausch‹, Windräder zu »Windmühlen der Schande«, die wirtschaftliche Transformation zum ›Irrsinn einer grünen Elite aus dem Elfenbeinturm‹ und ›Hitler zum Kommunisten.“
In Hinblick auf die politischen Mythen des Nationalsozialismus erinnert uns Cassirer daran, diese in ihrer Stärke unterschätzt zu haben: »Jetzt ist es uns allen klar geworden, daß dies ein großer Fehler war. Wir sollten denselben Irrtum nicht ein zweites Mal begehen.«



2. Zur Einführung in das Denken Ernst Cassirers dokumentieren wir einen Vortrag von Dr. Bruno Heidlberger aus dem Jahre 2014:

Ernst Cassirer – Der Mensch als animal symbolicum

KI-Bild Ernst Cassirer heute (Grok)

Der Philosoph Ernst Cassirer, dessen Leben und Philosophie ich heute Abend kurz darstellen werde, gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der philosophischen Anthropologie. Ich habe Cassirer gewählt, nicht nur weil er ein aktueller Philosoph der Moderne ist, sondern auch weil er uns auf die Selbstgestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen hinweist.

Besonders in seinem Hauptwerk Die Philosophie der symbolischen Formen wird die Frage nach dem Wesen des Menschen aufgeworfen. Die Haupteigenschaft des Menschen liegt für Cassirer in seinem Vermögen, seine Umwelt und sich selbst mittels Symbolen zu interpretieren. Der Mensch ist ein animal symbolicum, ein Symbole schaffendes Lebewesen, das in einer Welt von Symbolen lebt. Diese Erkenntnis ist u. a. für die  Psychotherapie bedeutsam, wie ich im folgenden Vortrag erläutern werde.

Wer war Ernst Cassirer? Ich beginne mit einem Zitat von Albert Einstein, der Cassirer persönlich kannte:

»Er war einer von den wenigen in unserer Generation, die einem helfen, so etwas wie den Glauben an die Menschen aufrecht zu erhalten. Ein klarer sauberer Geist und ein abgeklärter verständnisvoller Mensch wie selten einer zuvor, und dabei aufrecht und von einer natürlichen Würde.«  A. Einstein

Mit Blick auf sein Lebenswerk kann man zu der Auffassung kommen, dass Heraklit, Goethe, Leibniz und Kant seine geistigen Vorbilder waren. „Wie kaum ein anderer“, so betont Jürgen Habermas, „repräsentiert Cassirer die gebildete Welt des europäischen Humanismus“ (Habermas, Phil. Profile, 52). 

Im Mittelpunkt der Philosophie Cassirers stehen Formen des „Weltverstehens“ wie Mythos, Kunst, Religion, Wissenschaft, Technik und Geschichte. In der Konsequenz bedeutet dies: Die wissenschaftliche Erkenntnis ist nicht das „Muster aller Erkenntnis“ und auch nicht die einzige Form unseres Selbst- und Weltverstehens. Cassirer hebt „insbesondere auch die emotionale Dimension der menschlichen Existenz“ hervor (O. Schwemmer, in: E. C. Werk und Wirkung: Hg. D. Frede, S. 3). Er betrachtet den Menschen  ganzheitlich als denkendes, fühlendes, handelndes und soziales Wesen.

In seiner Philosophie zeigt Cassirer, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich nur in Kultur entfalten kann. Er folgt damit nicht Sigmund Freud, der seine Theorie vom Menschen und seiner Kultur auf eine Anthropologie der Triebe aufbaut. Cassirer sieht die Hauptmotivation des Menschen in dem, was er Selbstbefreiung des Menschen durch Kultur nennt. Dabei spielt die Sprache eine wesentliche Rolle. Der Mensch lasse sich nur durch seine Sprache, seinen schöpferischen Geist sowie durch seine kulturellen Leistungen beschreiben und bestimmen. Menschsein heißt Tätigsein oder in Cassirers Worten: „Das Sein ist hier nirgends anders als im Tun erfassbar“ (PSF Bd. 1, Berlin 1923, S. 11). Hauptursache für das Entstehen von Kultur und Sprache ist für Cassirer die Lernfähigkeit des Menschen im sozialen Miteinander, was heute durch die Evolutionspsychologie bestätigt wird (Robin Dunbar, SZ 14./15. Sep. 2013, S. 20). Diese Lernfähigkeit zu unterstützen, zu fördern und auszubilden und ist Aufgabe von Bildung und Psychotherapie.

Der Begriff des Symbols ist Cassirers Zentralbegriff. Wir können Wirkliches nie unmittelbar erfassen oder wiedergeben. Wir bedürfen immer der Vermittlung durch Zeichen oder Symbole. „Nur wenn der Mensch Symbole einführt, kann er Erfahrung machen und Erkenntnisse gewinnen“ (Wuchterl 303). Aufgabe es Menschen ist sich zu einer selbstbestimmten Persönlichkeit zu formen, die nicht nur die Verantwortung für die Form seiner eigenen individuellen Existenz, sondern auch für die seiner kulturellen Welt trägt (vgl. Schwemmer, E.C. 1997, Klappentext). Damit wird der Mensch sich selbst zur Aufgabe und zum Projekt. 

1. Biografie und Werk

Ernst Cassirer wurde 1874 in Breslau als eines von sieben Kindern geboren. Er stammt aus einer wohlhabenden weit verzweigten jüdischen Kaufmannsfamilie, aus der auch einige andere prominente Kulturträger hervorgegangen sind.

Nach dem Abitur 1892 in Breslau begann Cassirer zunächst mit einem Jura-Studium. 1894 besuchte er eine Vorlesung über Kant bei Georg Simmel, die ihn so sehr begeisterte, dass er von nun an die Philosophie zu seinem Beruf machen wollte. Unter dem Einfluss der Neukantianer Hermann Cohen und Paul Natorp, die in Marburg lehrten, begann Cassirers intensive Beschäftigung mit Kants Kritik der reinen Vernunft, die bis zum Schluss seines Lebens ein zentraler Bezugspunkt seines Denkens blieb. Cassirer promovierte bei Natorp und Cohen mit einer Arbeit über Descartes, die mit „opus eximium“ (herausragend), eine seinerzeit selten vergebenen Note, bewertet wurde. Nach der Promotion ging er nach Berlin.

1902 heiratete er seine Cousine Toni Bondy, mit der er eine glückliche Ehe führte, aus der drei Kinder hervorgingen. Seine Arbeit, die er in Berlin über die Philosophie Leibniz’ schrieb, wurde preisgekrönt. Cassirer bereitete hier auch seine spätere Habilitationsschrift vor, die er zu einem vierbändigen Werk über das Erkenntnisproblem ausbaute. Dabei übernahm er von Kant den Gedanken, dass wir, wenn wir wahrnehmen und denken, nicht die Dinge der Welt einfach abbilden, sondern es ist umgekehrt: Indem wir wahrnehmen und denken, konstituieren wir unsere Wirklichkeit. Im Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen schrieb Kant 1798:

„Dieser Verstand aber ist ein gänzlich actives Vermögen des Menschen; alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloss seine Geschöpfe, der Mensch … schafft sich also seine Welt“ (Werke, Bd. VII, S.71).

Berliner Jahre 1905 -1919: Der Privatgelehrte

Cassirer arbeitete dreizehn Jahre als Privatdozent an der Berliner Universität, und damit genauso lange, wie später als Ordinarius an der Universität in Hamburg. Im Sommersemester 1907 fand Cassirers erste Vorlesung statt. Es ging um Kant, wie in den folgenden Jahren. Mit seinem ersten systematischen Werk (1910)  Substanzbegriff und Funktionsbegriff, eine an Gottfried Wilhelm Leibniz und an der Mathematik und Physik orientierten Begriffstheorie, erregte Cassirer in Berlin Aufsehen, später auch im Ausland.

In dieser ersten grundlegenden Schrift setzt sich Cassirer kritisch mit der auf Aristoteles zurückgehenden Abstraktionstheorie des Begriffs und mit der hiermit in Zusammenhang stehenden naiven antiken Weltsicht auseinander. Schon Parmenides erklärte, Sein und Denken seien eins. Da das antike Denken diese Identität in einem streng materiellen Sinne deutete, unterstellte es auch eine naturgegebene Identität von Mikro- und Makrokosmos, von Wort und Ding, von Symbol und seinem Objekt (Essay 175).

Der naiven antiken Weltsicht setzt Cassirer entgegen, „dass der menschliche Geist Wirklichkeit nicht einfach auffinde und abbilde, sondern gestalte und ausbilde“ (Graeser 133). Damit entwickelt Cassirer seinen Grundgedanken von der symbolischen Konstruktion der Wirklichkeit (vgl. Wuchterl 294).

Cassirer hat diesen Sachverhalt an der neuzeitlichen Geschichte der Mathematik und den Naturwissenschaften erläutert. So lässt sich z. B. die Bewegung eines Körpers physikalisch nur erfassen, wenn ihr, wie Husserl einmal formulierte, das „Ideenkleid“ der Mathematik übergeworfen wird, d.h. wenn sie in die Symbolsprache der Mathematik umgeformt wird. Naturwissenschaftliche Gesetze entspringen deshalb nicht einfach den Tatsachen, sondern werden erst im Lichte theoretischer Annahmen gewonnen.

Anders als Aristoteles hebt Cassirer hervor, dass wir die Dinge und Sachverhalte niemals in dem, „was sie für sich allein sind (erkennen), sondern nur in ihrem wechselseitigen Verhältnis“ (Cassirer, SubFuk 1910 S. 406 f). Ein Beispiel: O ist das chemische Symbol für Sauerstoff und repräsentiert als Symbol einen Zusammenhang, der über dieses Zeichen hinausweist. Gegen den antiken Substanzbegriff, der nur die Ding-Eigenschaft im Blick hat und alle Abläufe in Natur und Welt auf ein vorherbestimmtes Ziel (telos) gerichtet sieht, stellt Cassirer seinen Funktionsbegriff.

Wissenschaftliche Begriffe stehen nicht unverbunden nebeneinander. Während das Zeichen isoliert bleibt, „ist das Symbol immer Element eines Systems“ von Bedeutung (Recki 26). So ist z.B. der Begriff der Energie nicht als eine dingliche Qualität zu verstehen. Energie drückt einen funktionalen Zusammenhang zwischen den Phänomenen aus. Er kann auch mathematisch-numerisch zur Darstellung gebracht werden.

Man könnte Cassirer als einen Denker des funktionalen Zusammenhangs, modern gesprochen als einen holistischen oder ökologischen Denker charakterisieren, der uns darauf aufmerksam machen möchte, dass wir Tatsachen und Handlungen in ihrer Bedeutung nur dann verstehen, wenn wir sie nicht isoliert voneinander betrachten.

Dieser Gedanke Cassirers wurde etwa zeitgleich von dem Vordenker der Gestaltpsychologie Christian von Ehrenfels entwickelt. Er beschäftigte sich mit der Frage; Wie erkennen Menschen bestimmte Gestalten? Ehrenfels formuliert die Idee, dass wir bei der Wahrnehmung von Gestalten nicht so sehr Einzelheiten, sondern Relationen wahrnehmen. Ehrenfels meint z. B., dass eine Melodie zwar aus einzelnen Tönen bestehe, aber doch wesentlich mehr sei, als nur die Summe dieser Töne. Unverkennbar sind hier Parallelen zur Hermeneutik, eine Methode der Geistes- und Humanwissenschaften, zu erkennen (vgl. J. Rattner, Hermeneutik und Psychoanalyse, 44).

Während Cassirers Berliner Zeit brach 1914 der Erste Weltkrieg aus. Hervorzuheben ist, dass Cassirer, anders als die meisten Deutschen und deutschen Intellektuellen wie beispielsweise seine Lehrer Cohen und Natorp, nicht in patriotische Euphorie verfiel. Im Krieg war er wegen einer Hautkrankheit (Schuppenflechte) vom Wehrdienst befreit und leistete zivilen Dienst unter anderem in der französischen Abteilung des deutschen Kriegspresseamtes. Er bekannte sich gerade in dieser Zeit zu den Ideen des Humanismus, der Toleranz und des Kosmopolitismus (vgl. Wuchterl, 294) und begann sich damit zu beschäftigen, was europäische Kultur jenseits dieses nationalistischen Schlachtengetümmels sein kann.

Hamburger Jahre 1919 – 1933: Der Ordinarius und sein Werk.

Zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1933 nahm Cassirer an zeitgenössischen philosophischen Diskussionen teil, die unter dem Einfluss von Einstein, Heidegger, Bergson und dem Wiener Kreis um Carnap und Schlick standen. Cassirer pflegte seit Beginn der 20er Jahre engen Kontakt zur Hamburger Kulturwissenschaftlichen „Bibliothek Warburg“ mit ihrem als Kulturwissenschaftler bekannten Gründer Aby Warburg und nahm als philosophischer Gegenspieler an einem der kulturell bedeutendsten Ereignisse der damaligen Zeit teil: der Disputation mit Martin Heidegger in Davos. 1919 berief ihn die Universität Hamburg als ordentlicher Professor, wo er 1929 als erster jüdischer Gelehrter Rektor einer deutschen Universität wurde. Mit seiner dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen, trat Cassirer erstmals als systematischer Denker einer Kulturphilosophie in die Öffentlichkeit.

 Cassirer entwickelte seinen Symbolbegriff unter Einfluss von Leibniz und den Physikern Hermann von Helmholz und Heinrich Herz. Der Blick auf das geistige „Tun“ des Menschen steht im Zentrum von Cassirers Symbolverständnis.

Bei allen unseren geistigen Leistungen geht es darum, begriffliches Licht in das „Chaos der sinnlichen Eindrücke“ zu bringen, damit wir über unsere Erfahrungen denken und sprechen können. Cassirer bezeichnet den Menschen daher als „animal symbolicum“, als Ausdruckswesen, das seine Identität und Selbständigkeit in seiner symbolischen Ausdruckskultur findet. Die Symbolisierung geschieht in unterschiedlichen Formen, nicht nur in den Lauten der Sprache, in mythischen und künstlerischen Bildern oder in den abstrakten Formen der Wissenschaft, sondern auch in sprachlich vollzogenen Ritualen, Zeremonien, Techniken, Handlungen und Institutionen aller Art. Die jüngste Interpretation der Wirklichkeit führt uns in digitale Welten. Je nach der spezifischen Struktur dieser Symbolwelten erkennt der Mensch die Welt auf verschiedene Weise. Cassirer meint, dass die Entwicklung unseres Bewusstseins einer Entwicklungslogik unterliegt, die in ihm strukturell angelegt, aber historisch nicht immer realisiert ist. Er formuliert damit eine „evolutionäre Bildungstheorie des Geistes (vgl. Georg W. Oesterdiekhoff).

Der Emigrant – Exil: Professuren in Schweden und den USA 1933 – 1945

1933 begann für Cassirer die schwerste Zeit. Viele deutsche Juden waren wie gelähmt. Für Cassirer bestand kein Zweifel, dass es Hitler mit seinen Voraussagen ernst meinte. Noch vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler trat er von seinem Lehramt zurück und emigrierte mit seiner Familie über Zürich und Wien nach Oxford. Da sein Aufenthalt in Oxford auf zwei Jahre begrenzt war, begann Cassirer 1934 auf eine Einladung aus Schweden hin eine Vorlesungsreihe an der Universität Uppsala zu halten. Die Familie lebte In Schweden bis Mai 1941. Als auch dort die Situation brisant wurde, da Hitler bereits in Norwegen und Dänemark eingefallen war, entschied sich Cassirer, eine Einladung der Universität Yale in New Haven (Connecticut) anzunehmen. Er konnte dort zwei Jahre als Gastprofessor arbeiten.

1944 schrieb Cassirer in den USA Versuch über den Menschen (An Essay on Man). Es handelte sich um eine überarbeitete und gekürzte Fassung seines dreibändigen Werkes Philosophie der symbolischen Formen, das einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden sollte, auf das ich anschließend etwas genauer eingehen werde.

Als die Cassirers nach New York 1941 übersiedelten, war er 70 Jahre alt. Versuch über den Menschen hatte seine zweite Auflage erreicht. Auch die Einladung der Columbia Universität war zeitlich befristet und so musste Cassirer nach Ablauf der Zeit erneut einen Umzug ins Auge fassen. Er nahm ein Angebot der University of California in Los Angeles an. Ein erneuter Wechsel überstieg jedoch die Kräfte des durch eine Herzkrankheit und Diabetes geschwächten und überarbeiteten Cassirers. Es kam nicht mehr zu dem geplanten Ortswechsel. Am 13. 4.1945 starb er auf dem Campus der Columbia Universität an Herzversagen.

2. Versuch über den Menschen

Ausgangspunkt seines Essays über den Menschen ist seine an Sokrates orientierte These, dass alle philosophischen Denkansätze, trotz aller Unterschiede, die „Selbsterkenntnis“ als „höchstes Ziel philosophischen Fragens und Forschens“ betrachten (S. 15).

Vor dem Hintergrund dieser These führt Cassirer nun den Leser durch die wechselvolle Geschichte der philosophischen Anthropologie und ihrer Versuche, sich der zentralen Fragestellung „Was ist der Mensch?“ zu nähern.

Im 19. Jahrhunderts, so Cassirer, stehe mit Darwin die „Philosophie des Menschen“ „endlich auf festem Boden“. An die Stelle einer spekulativen Idee der Evolution, die noch in der Tradition der teleologischen Naturerklärung des Aristoteles stand, sei eine rein empirische Beschreibung der Entwicklung der Arten getreten.

„In unserer modernen Welt“, folgert Cassirer, „erleben wir den Zusammenbruch der klassischen antiken Theorie des Seins und, damit verbunden, der klassischen Theorie des Menschen“ (Essay 262). Wie schon Kant verwirft auch Cassirer die Vorstellung des Aristoteles, dass es überall in der Natur eine Zweckmäßigkeit gebe. Naturprozesse würden auf ein vorherbestimmtes Ziel (gr. telos) hin streben und sinnvoll verlaufen. Aristoteles verkehrt mit dieser Vorstellung die Ursachenverhältnisse in der Natur und kommt zu merkwürdigen Schlussfolgerungen wie z. B. dass es regnet, weil Pflanzen und Tiere zum Wachsen Regen brauchen, damit sie von uns Menschen gegessen werden können. Wir müssen, so Cassirer, die antike Wesensmetaphysik aufgeben, nach der es ein innewohnendes Prinzip oder eine festgelegte Essenz in jedem Ding gibt, die es begründet oder erklärt.

Cassirer betrachtet den Menschen nicht als „Substanz“, sondern als „funktionale Einheit“ (Essay 337). In Anschluss an Heraklit und an den Renaissance Philosophen Pico de la Mirandola vermeidet Cassirer, den Mensch durch eine geschichtslose Wesensbestimmung der Dimension von Wandel und Entwicklung zu berauben (337)

Cassirer bewertet Darwins Entdeckung zwar als weiteren Schritt in der Selbstbefreiung des Menschen. Eine Reduktion des Menschen auf ein bloßes Naturwesen aber, wie sie von Schopenhauer über Nietzsche bis Freud forciert wurde, weist Cassirer zurück (vgl. Hartung 312) Der Mensch und das menschliche Leben ist kein physikalisches Ding und muss deshalb mit anderen Begriffen gedacht werden, die sich radikal von denen unterscheiden, die uns die Phänomene der Natur erklären.

Anders als die organische Welt besitze die kulturelle Welt eine „unbestreitbare teleologische Struktur“ (42), weil der Mensch sich Ziele setzt und sein Handeln an Zwecken und Werten ausrichtet. Die Individualpsychologie spricht hier von Finalität, Adler von Lebensstil.

Ein Schlüssel zum Wesen des Menschen: Das Symbol

Cassirers Antwort auf die Krise der Anthropologie ist sein symboltheoretischer Ansatz, den er vor allem auf die Ergebnisse der Verhaltensforschung durch den Biologen Johannes von Uexküll stützt. Uexküll (1864-1944), lehrte seit 1925 in Hamburg.

Als bloßes Naturwesen könne der Mensch, wie andere Lebewesen, die Grenzen seiner Natur nicht überschreiten. Er braucht Nahrung, er braucht Wärme und pflanzt sich fort. Als Symbolwesen aber kann er die Grenzen seines organischen Lebens überschreiten, wenn er der Welt und seinem Leben eine spezifische geistige Form gibt, ja geben muss (vgl. Hartung ebd). Der Mensch verfügt anders als das Tier über ein „geistiges Bild oder einer Idee von Raum und Zeit“ (Meyer 242). Er konstruiert sich mythische, religiöse und geometrische Räume, die die Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern repräsentieren und Orientierung geben sollen. Damit lebt der Mensch nicht nur in einer reicheren, umfassenderen Wirklichkeit; er lebt sozusagen „in einer neuen Dimension der Wirklichkeit“ (49).

Der Mensch lebt nicht mehr in einer bloß physikalischen, sensualistischen, sondern in einem symbolischen Universum, dessen Bestandteile Sprache, Mythos Kunst, Religion, Wissenschaft, Geschichte und Technik sind.

Cassirer hat ein sehr weites Verständnis von Kultur, das auch den Begriff Zivilisation mit umfasst. Kultur ist nichts Abgehobenes, das in Konzertsälen oder Museen stattfindet. Kultur umfasst alles, was der Mensch hervorgebracht hat. Die Verwandlung von Natur in Kultur zeichnet die Tätigkeit des Menschen aus. Was auch immer der Mensch mit Sinn und Verstand tut, er bewegt sich in Symbolen (Recki, Kultur als Praxis, 32). Kurz: Mit dem Menschen kommt Bedeutung in die Welt, die sich in verschiedenen Formen kreativer und produktiver Gestaltungen äußert. Gleichzeitig sind die symbolischen Formen eine Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten geistigen Ausdruck.

Jeder von Ihnen kennt folgende Erfahrung: Drücken wir unsere Gefühle aus, unsere Wut, unsere Trauer und unseren Kummer, hat dies kurzfristig entlastende Wirkung. Wenn wir unsere Affekte aber durch symbolische Formen ausdrücken, gewinnen wir Abstand, indem wir sie gestalten, und können andere Menschen daran Anteil nehmen lassen. In Sprache, Mythos, Kunst und Religion werden unsere Gefühle in Werke umgewandelt, objektiviert. Goethe betrachtete diesen Prozess der Objektivierung als den entscheidenden Wesenszug seiner Poesie in seiner Jugend. (vgl. Mythus, S. 65).

Schon im Mythos begann der Mensch seine tief verwurzelten Ängste und Hoffnungen in eine Form zu bringen. Wir wissen alle, was mit uns und unserer Wahrnehmung passiert, wenn überbordender Stress oder schwere Schicksalsschläge unsere Gefühle durcheinander wirbeln. Sobald es uns gelingt, eine geistige Einstellung gegenüber krisentypischen Affekten wie Neid, Hass und Angst zu wählen, haben wir einen neuen Weg betreten, der uns am Ende weit weg von unserem unbewussten und instinktiven Leben führen wird (vgl. Mythus 64). „Kultur wird damit für den Menschen zu einem „Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung“„ (Essay 345), weil sie dem Menschen neue Handlungsspielräume der eröffnet.

Sprache als symbolische Form

In Anlehnung an Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie ist die Sprache die grundlegende symbolische Form. Deshalb nimmt sie bei Cassirer auch eine zentrale Rolle ein, auf die ich nun etwas genauer eingehen möchte. Cassirer unterscheidet verschiedene Schichten der Sprache. Die fundamentalste Schicht ist die Sprache der Emotionen. Ein großer Teil unserer Äußerungen gehört noch dieser Schicht an. Parallelen zur emotionalen Sprache finden wir in der Tierwelt: Schimpansen besitzen eine differenzierte Ausdrucksfähigkeit: Wut, Schrecken, Verzweiflung, Kummer, Bitten, Verlangen, Vergnügen – das alles wird auf diese Weise zum Ausdruck gebracht. Hier stoßen wir nun auf den entscheidenden Punkt. Beim Tier fehlt ein Element, das für die menschliche Sprache charakteristisch ist. Bei uns Menschen ist das Wort kein unwillkürlicher Gefühlsausdruck, „sondern Element eines Satzes, der eine ganz bestimmte syntaktische und logische Struktur besitzt“ (54). Das Revolutionäre der menschlichen Sprache ist nicht ihre Ausdrucks- und Kommunikationsfunktion, sondern ihre Darstellungs- und Bedeutungsfunktion. Sie kann Dinge beschreiben, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben und Dinge beschreiben, die in der Zukunft vielleicht stattfinden werden. Sie kann Urteile bilden, Theorien aufstellen, und sie kann danach fragen, ob diese Theorien wahr sind. Wir können zum Beispiel darüber sprechen, ob wir Egoisten sind oder nicht. Diese Unterschiede bezeichnen die eigentliche Grenze zwischen Menschen- und Tierwelt. Nur mittels Sprache können wird zum dem werden, was uns Menschen zu Menschen macht.

Als „geistiges“ Wesen ist der Mensch nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern umweltfrei, weltoffen (Scheler, Stellung des Menschen im Kosmos, 37 ff).

Ohne Sprache gibt es keinen selbstbestimmten Umgang, keine Verfügung über die Dinge und keine Orientierung in der Welt. Auf diesen grundlegenden Tatbestand machte einige Jahre später auch der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit seiner Aussage aufmerksam: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“.

Cassirer verdeutlicht diesen Tatbestand ausführlich am Beispiel der bekannten Biographie Helen Kellers. Helen Keller wurde durch eine Hirnhautentzündung im zweiten Lebensjahr, noch vor ihrer Sprachentwicklung, taubblind. Sie entwickelte Handzeichen, um mit ihrer Umgebung zu kommunizieren, konnte sich aber oft nicht verständlich machen. Dies führte zu heftigen Wutausbrüchen.

1887 trat die erst 21-jährige Lehrerin Anne Sullivan, die bereits mit der taubblinden Laura Bridgman zusammengelebt hatte, in Helens Leben. Sullivan wandte bei Helen die Methoden von Lauras Lehrern an. Sie ließ das Kind einen Gegenstand berühren und buchstabierte ihm dessen Namen gleichzeitig in die freie Hand, wobei sie ein Fingeralphabet verwendete. Diesen Zusammenhang begriff Helen sehr bald; der Durchbruch kam mit dem Wort water (Wasser). Sullivan berichtet hierüber:

„[E]s hat sich etwas sehr Wichtiges zugetragen. Helen […] hat gelernt, dass jedes Ding einen Namen hat und dass das Fingeralphabet der Schlüssel zu allem ist, was sie zu wissen verlangt. […] Als ich sie heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. Wenn sie die Bezeichnung für etwas zu wissen wünschte, so deutete sie darauf und streichelte mir die Hand. Ich buchstabierte ihr w-a-t-e-r in die Hand […] [Später] gingen wir zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Öffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoss und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die freie Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten, über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da. … Dann wandte sie sich plötzlich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte teacher in die Hand. […] Auf dem ganzen Rückweg war sie in höchstem Grade aufgeregt und erkundigte sich nach dem Namen jedes Gegenstandes […] Sie flog von einem Gegenstande zum anderen, fragte nach der Bezeichnung jedes Dinges und küsste mich vor lauter Freude. […] Alles musste jetzt einen Namen haben. […] „ (zit. nach Cassirer: Essay, S. 60 f)

Erst als Helen verstand, „dass sich die Symbolfunktion nicht auf bestimmte Fälle beschränkt“, sondern, ein „universell anwendbares Prinzip ist“ (ebd. 63), erst dann verstand sie, was Sprache ist und bedeutet. Das Kind hatte verstanden, „die Wörter nicht nur als mechanische Zeichen und Signale, sondern als Denkinstrumente einzusetzen“ (ebd). „Jedes Ding hat einen Namen“, formuliert in Kurzform Cassirers Auffassung vom Symbol als Element eines universellen Sinnzusammenhangs und verdeutlicht, wie sich für uns Menschen die Welt durch ein Netz von Bedeutungen bildet.

Das Beispiel Helen Keller zeigt uns, betont Cassirer, „dass ein Mensch beim Aufbau seiner Welt nicht von der Beschaffenheit des Materials abhängig“ ist, „das ihm seine Sinne liefern“. Die aristotelische positivistische Theorie des Sensualismus betrachtet Cassirer damit als widerlegt. Cassirer: „Wenn jede Idee tatsächlich nur das blasse Abbild eines ursprünglichen Sinneseindrucks wäre, dann wäre ein blindes und taubstummes Kind tatsächlich in einer verzweifelten Lage … „ (63).

Die Kultur und ihre stete Gefährdung – von außen und von innen.

Angesichts der Erfahrungen des Totalitarismus und des Völkermordes widmete sich Cassirer in den letzten Jahren seines Lebens den Brüchen und Pathologien der Kultur und vollzog damit eine Wende zu Sozialphilosophie. Sein Werk Vom Mythus des Staates (The Myth of the State), erschien postum 1946 (vgl. Graeser 1966, S. 27).  Die Entwicklung der Kultur führt für Cassirer ähnlich wie für Adorno und Horkeimer nicht automatisch zu mehr Selbstbestimmung und Humanität, sondern kann auch in ihr Gegenteil, in Schicksals- und Führerglaube umschlagen. Es gibt keine Humanitätsgarantie. In verzweifelten Lagen neigen verzweifelte Menschen zu fatalen Mitteln zu greifen. Die Fähigkeit zur rationalen Reflexion und zur Einnahme unterschiedlicher Perspektiven verarmt. Mythische Energien und Vorstellungen verdrängen dann andere Formen der Interpretation (vgl. Paetzold 106). Hinzu kommt die Gefahr der Instrumentalisierung der mythischen Energien durch die politischen Machthaber (ebd. S.107). In der Politik, so Cassirer, sei das Gleichgewicht nie vollständig etabliert, hier gebe es nur „eine relative Stabilität und Sicherheit“. Sind diese nicht mehr gewährleistet, entsteht der Mythos neu (Mythus 364).

Formen mythischen Bewusstseins heute

Auch im 21. Jahrhundert finden wir, trotz des Siegeszuges von Wissenschaft und Technik, die ihrerseits auch in Inhumanität umschlagen können, Formen mythischen Bewusstseins. Cassirer weist darauf hin, dass wir in unserer modernen Welt die mythische Wahrnehmung weder leugnen, noch auf sie verzichten können (Essay 124). Unsere Welt wurde zwar durch rationales Denken entzaubert und technisch verfügbar gemacht, aber viele Menschen fühlen sich den Zwängen von Wissenschaft und Technik ausgeliefert, die sie nicht mehr verstehen, und suchen nach Orientierung. Auch noch im Jahre 2013 glauben 60 % aller Deutschen an magische Kräfte. Religionen und magische Kulte befinden sich weltweit im Aufwind. Gerade in unsicheren Zeiten suchen Menschen offenbar etwas, woran sie glauben, dem sie vertrauen können.

Die mythische Wahrnehmung zeigt sich auch in dem, was wir Stimmungen nennen. „Die Welt der Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen“, schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Das magische Denken ist emotional gefärbt und zur Selbstreflexion unfähig, es sei denn, man setzt es rational ein. Sonst kann es unsere Selbst- und Realitätsbezug nachhaltig beeinflussen und uns zu unüberlegtem Handeln verleiten. Wir verlieren dann unsere  Reflexionsdistanz und auch unsere Würde.

Cassirer ist sich der steten Gefährdung unseres Lebens von außen wie von innen bewusst und übersieht nicht „die Spannungen und Reibungen, die starken Kontraste und tiefen Konflikte zwischen den verschiedenen Kräften des Menschen. […] Sie streben in verschiedene Richtungen und gehorchen unterschiedlichen Prinzipien“ (Essay 346). „Die Gegensätze“, hier folgt Cassirer Heraklit, „schließen einander nicht aus, sondern verweisen aufeinander: …  (ebd). Cassirer setzt auf die Mannigfaltigkeit der symbolischen Formen, die auch solche der Auseinandersetzung und des Streits sein können (vgl. Recki, rec 78 ff) Anders formuliert: „Kommunikation und nicht Konsens hält diese Welt zusammen“ (Schwemmer, Frede 49).

Cassirers Philosophie endet trotz persönlich erschütternder Erfahrungen während der NS-Zeit nicht im Pessimismus oder Fatalismus. Anders als z. B. Adorno und Horkheimer oder die postmodernen französischen Philosophen wie Lyotard, hat Cassirer ein nahezu „unbegrenztes Vertrauen in die Zugänglichkeit der Menschen gegenüber Begründungen“ (Schwemmer, Ein Philosoph S. 151). Er zeigt uns auch unsere Möglichkeiten, die Kultur mit kulturellen Mitteln zu kritisieren. Dem Mythos als Grundform jeder menschlichen Kultur stellt Cassirer den Logos der Sprache gegenüber. In der Sprache sei von Anfang an die Kraft des Logos, wirksam (vgl. Cassirer, Ernst: Sprache und Mythos, S. 156). Dieser ermögliche überhaupt erst die Dynamik der historischen Ausdifferenzierung der Kultur „und einen Fortschritt in der Selbsterkenntnis der Menschheit“. (Mersch, Dieter: S. 8 f). Solange wir das Vertrauen in die Kraft des Logos nicht verloren haben, solange wir auf unsere individuellen Gestaltungsmöglichkeiten bauen, entsteht für Cassirer erst gar nicht die Versuchung, uns mythischen oder irrationalen Vorstellungen hinzugeben. Modernen politischen Mythen sollen wir Widerstand leisten, aber auch die Mythen des Alltags aufdecken, indem wir unsere „Täuschungen und Illusionen“, unsere „Eigentümlichkeiten und Einbildungen loswerden“ (385). Cassirer strebt wie sein großes Vorbild Kant ins Licht und Helle. „Goethe hat einmal zu Schopenhauer gesagt, dass, wenn er eine Seite Kant lese, ihm zumute würde, als trete er in ein helles Zimmer“ (zit. bei Recki, rec. 99) Mit seiner kulturphilosophischen Anthropologie, mit der er die Eigenständigkeit des Menschen zu erweitern sucht, ist Cassirer ein Vertreter der kantischen Aufklärungsmaxime: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Dies schließt die kritische Prüfung unseres nur vorläufigen Wissens mit ein.

Kultur ist für Cassirer notwendige Voraussetzung für die Entfaltung der Menschlichkeit des Menschen. Solange wir uns nur an die geltenden Regeln der Zivilisation halten, sind wir noch nicht kultiviert, weil uns die moralische Identität fehlt. Cassirer geht es wie Kant um „innere Bildung“, d.h. die Ausbildung einer Persönlichkeit, deren moralische Identität in vernünftiger Autonomie besteht. Unter Selbstbefreiung des Menschen durch Kultur versteht Cassirer dann nicht nur die Befreiung aus fremden Zwängen durch eigene Kulturleistungen, sondern auch die Ausbildung zu einem Menschen, der Verantwortung für die Welt, in der er lebt, übernimmt. Aufgabe von Psychotherapie ist es, diesen universellen Prozess der Selbstbefreiung zu unterstützen.

Dr. phil. Bruno Heidlberger (Berlin)

Literatur:

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Rattner, Josef: Hermeneutik und Psychoanalyse, Würzburg 2009.

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Recki, Birgit: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004.

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Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos.