
Wohin geht unsere offene Gesellschaft?
Von Dr. Bruno Heidlberger
„Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich gehe keinen anderen“.
(Friedrich Merz)
Was wird aus dem Konservativismus?
Am 29. Januar 2025 hat der Bundestag erstmals mit den Stimmen der AfD einen von der Union eingebrachten Antrag zur Begrenzung der Migration angenommen. Die AfD feierte das Ergebnis als historisch. Jetzt und hier beginne eine neue Epoche.
AfD-Parlamentsgeschäftsführer Bernd Baumann sagte, die Abstimmung sei „wahrlich ein historischer Moment“. Wie andere westliche Länder erlebe nun auch Deutschland „das Ende der rot-grünen Dominanz“ – und zwar „für immer“.
Wir erleben seit Jahren einen weltweiten gesellschaftlichen Rollback mit Parallelen zur Zwischenkriegszeit. Das Rollback ist eine Reaktion auf liberale Zumutungen, und soziale Verwerfungen, die manche nicht länger ertragen wollen. In den USA, in Europa, in Deutschland. Illiberale Politik ist inzwischen Mainstream.
Offensichtlich war die Liberalisierung in Deutschland seit den letzten 50 Jahren, insbesondere seit Merkel Kanzlerschaft, viel fundamentaler und jenseits liberal-akademischer Milieus eine viel größere Herausforderung als bislang gedacht. Mit dem Auftreten der Neuen Rechten und der AfD als ihr parlamentarischer Arm wird eine unheilvolle Vergangenheit lebendig, die vergessen schien.
Die AfD will eine Änderung des liberalen Systems der Bundesrepublik Deutschland.
Björn Höcke: „Diese Republik und das sie beherrschende medial-politische Establishment sind zu einem Augias-Stall geworden. Wir, liebe Freunde, müssen diesen Augias-Stall ausmisten! Dieses Land braucht eine politische Grundreinigung!“ Höcke will also den „Volkskörper“ vom „links-grünen Schmutz“ reinigen. Höckes klinische Sprache ist keine demokratische mehr.
Einen Vorgeschmack auf diese „Grundreinigung“ erleben wir gegenwärtig in den USA. Trump als Vorbild der AfD. Besonders im Justizministerium. Trump macht damit wahr, was im sogenannten „Projekt 2025“ angekündigt worden war die Zerschlagung des Verwaltungsstaates, den Trump den „tiefen Staat“ nennt. Kann. Trump gab auch das Ende aller Diversitätsprogramme (DEI) in Bundesbehörden bekannt. Wer das nicht tue, müssen mit nachteiligen Folgen rechnen.
Dass es den Rechtsnationalisten um eine „fundamentale Kehrtwende“ in der Politik geht, hat Jörg Meuthen 2016 auf dem Stuttgarter Programmparteitag der AfD unter frenetischem Beifall seiner Anhänger erklärt:„Wir wollen weg vom links-rot-grün- versifften 68er-Deutschland und hin zu einem friedlichen, wehrhaften National- staat.“ Männer sollen wieder das Land verteidigen, diesmal gegen „Umvolkung“ und „Islamisierung“ – und Frauen viele Kinder kriegen.
Auch der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt forderte zwei Jahre nach dem Stuttgarter Parteitag der AfD eine „Konservative Revolution“.
So beklagte Dobrindt eine „linke Meinungsvorherrschaft“ sowie „selbsternannte Volkserzieher“ in Politik und Medien, die eine „bürgerliche Mehrheit“ zu ertragen hätte.
Merz scheint aus wahltaktischen Gründen mit dem 29.01.2025 an seine Idee einer „deutschen Leitkultur“ vor 35 Jahren anzuknüpfen zu wollen – ohne diesen Begriff benutzen. Vordergründig geht es um die Begrenzung der Migration, wie schon vor 35 Jahren. Letztlich geht es, wie damals, um die Mobilisierung von Affekten, weniger um nachhaltige Lösungen als um Stimmenfang. Das ist das eigentliche Problem.
»Deutsche Leitkultur« ist ein konstruierter politischer Kampfbegriff, der Ende der 1990er-Jahre vom damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU Friedrich Merz in die Asyldebatte eingeführt wurde.
Von einer Debatte zu sprechen, grenzt an Euphemismus, es war schlicht Hetze. Theo Sommer notierte 1998 in der Zeit dazu: „Um den Rechtsextremen Wählerstimmen abspenstig zu machen, haben sich die Bajuw-Arier von der CSU noch nie gescheut, ein paar Blut-und- Boden-Furchen auf dem braunen Acker zu ziehen. Es gilt die Parole: Wahlkampf ist’s, haut drauf!“ Und was sagt Carsten Linnemann heute dazu?
„Damals wurde das Problem gelöst“, erkläre Carsten Linnemann bei Maybrit Illner am 30.01.25. Hat er recht?
Im Mittelpunkt der Asyldebatte in den 1980er und Anfang der 1990er Jahre standen wie heute Begriffe wie „Asylmissbrauch“, „Scheinasylant“, „Asylschmarotzer“ oder „Asylantenflut“. Sie wurden von Springerpresse und Spiegel, von CDU, CSU, Republikanern und NPD im Wahlkampf offensiv eingesetzt. Wörter als Brandsatz.
Die Folge war eine Welle von Brandanschlägen auf Ausländerunterkünfte in Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992), Mölln (1992) und Solingen (1993). Als makabere Konsequenz aus der Welle rassistischer Gewalt machte die SPD unter Parteichef Björn Engholm und Oskar Lafontaine den Weg frei für die De-Facto- Abschaffung des Asylrechts. Grüne und PDS stimmten dagegen.
Die Tragödie wiederholte sich in Freital, Heidenau, Bautzen, Clausnitz, Chemnitz usw. Mit über tausend Anschlägen auf Flüchtlingsheime markierte das Jahr 2015 den traurigen Höhepunkt.
Rechtsextremistische Straftaten machten 2018 mit 20.431 mehr als die Hälfte aller registrierten Straftaten aus. Die Blutspur, die der Rechtsextermismus durch Deutschland gezogen hat ist sehr breit. Die Amadeu Antonio Stiftung zählt seit 1990 bis Mitte November 2017 195 Todesopfer und 13 Verdachtsfälle rechtsextermer Gewalt.
Deutsche Leitkultur“ – „Wir und die anderen“. So wie der Vordenker der Neuen Rechten Carl Schmitt unterscheidet auch die AfD zwischen „wir“ und den „anderen“, zwischen. Freund und Feind. Freund ist, wer durch Abstammung und Tradition zum „Volk“ gehört, Feind wer nicht dazu gehört oder wie Marc Jongen formuliert: „Der Pass allein macht noch keinen Deutschen.“
Trump macht es gerade vor und Musk empfiehlt die AfD zu wählen, weil nur die AfD Deutschland vor dem Untergang retten könne.
Ähnliches sagte Björn Höcke in seiner Dresdener Rede 2017: Die AfD sei „die letzte evolutionäre Chance für unser Land“. Ansonsten gäbe es eine demokratische Revolution. Und das sei „in den Augen von Kalbitz und des Höcke-Flügels eine nationalistische.“
Bei einer Rede des Flügels der AfD beim Kyffhäuser-Treffen in Thüringen auf Schloss Burgscheidungen am 23.06.2018 erklärte Kalbitz: Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh seien in seinen Augen nicht „verloren“: „Wir sind nicht bereit, auch noch einen Quadratzentimeter dieses Landes zu verzichten.“ (Original im Wortlaut, Anm. d. Verf.) Daraufhin langanhaltender Applaus und lautes rufen: „Widerstand! Widerstand!“ […]. Und weiter: „Wir werden keine Kompromisse machen. […] Heimat ist nicht verhandelbar. Ja, wir sind die Götterdämmerung dieses globalisierten Multikulturalismus, wir sind die Totengräber der fauligen Reste dieser 68er-Zersetzung. […]. Wir brauchen die Festung Europa, Grenzen dicht, Remigration jetzt!“ Über die Mitglieder der 68er-Bewegung sagte er: „Wir werden auf ihren Gräbern tanzen. […] Und: „Die AfD ist die letzte evolutionäre Chance für dieses Land. Danach kommt nur noch ‚Helm auf’. Und das möchte ich nicht. […]
Was ist der Zweck des 68er-Bashings?
Für den Journalisten Alan Posener ist der Zweck des 68er-Bashings die „Radikalisierung des illiberalen Bürgertums“. Wie die Konservative Revolution nach dem Ersten Weltkrieg“, schreibt Alan Posener, richte sich „Dobrindts »konservative Revolution« im Namen des Bürgertums gegen das Bürgertum“. Damals war, so Posener, „die liberale jüdische Bürgerlichkeit der Hauptgegner, heute“ sei „es die liberale, weltoffene Bürgerlichkeit“. Und „so wie man damals behauptet“ habe, „die ganze Republik sei »verjudet«, würden heute „Meuthen und Co.“ behaupten, „die Republik sei von den 68ern gekapert worden und »rot- rot-grün versifft«„.
Zweck des reaktionären 68er-Bashings ist die Verunsicherung und schließlich die Spaltung der Mitte, um das illiberale Bürgertum zu gewinnen, die Bundeskanzlerin zu stürzen, um dann die politischen Koordinaten weiter nach rechts verschieben zu können. Mit Merkels Verzicht auf den Parteivorsitz Anfang Oktober 2018 scheinen Seehofer, Dobrindt, Scheuer, Söder einen Meilenstein im neurechten Projekt „Merkel muss weg!“ erreicht zu haben.
Merkel ist weg. Merz will es 25 Jahre später wissen. Nach der Abstimmung mit der AfD hagelt es weiter Kritik an der Union. Michael Friedmann sprach von einer „katastrophalen Zäsur“ und einem „unentschuldbaren Machtspiel“. Ex-Kanzlerin Merkel nannte das Vorgehen von CDU-Chef Merz „falsch“.
Es sei erforderlich, „dass alle demokratischen Parteien gemeinsam über parteipolitische Grenzen hinweg, nicht als taktische Manöver, sondern in der Sache redlich, im Ton maßvoll und auf der Grundlage geltenden europäischen Rechts, alles tun, um so schreckliche Attentate wie zuletzt kurz vor Weihnachten in Magdeburg und vor wenigen Tagen in Aschaffenburg in Zukunft verhindern zu können“, mahnte Merkel in ihrer Erklärung.

Die Politik muss zur Mehrheit sprechen statt den Verhetzten nach dem Munde reden. Das war das Motto von Angela Merkel während der letzten Jahre ihrer Kanzlerschaft. Nicht die Verhetzten muss die Politik gewinnen, sondern jene, die ein Unbehagen empfinden, ohne deswegen schon den Anstand, Toleranz und Würde verloren zu haben.
Demokratische Parteien suchen deshalb ihre Mehrheiten unter Demokraten. „Die AfD ist eine menschenverachtende, gewalttätige, geistig brandstiftende antidemokratische Partei, sie hetzt, sie hasst und sie steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes.“ (M. Friedmann) Friedrich Merz’ Antrag vom 29.01.25 war ein kalkulierter Tabubruch und zugleich ein Brandbeschleuniger für die AfD und ihren Einfluss, meint Friedmann. Denkt man Merz’ Logik konsequent zu Ende, – „mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht“ -, braucht nicht in einer großen Koalition, muss aber mit einer de facto „Zusammenarbeit“ mit den Rechtsextremen enden, da die AfD auch in anderen Fragen mit der Union gemeinsame Schnittpunkte hat: z. B. Selbstbestimmungsgesetz, Genderverbot, Lieferkettengesetz. Mir scheint, dass der 28.01.25 die Generalprobe für eine zukünftige CDUCSU-Minderheiten Regierung sein könnte, die „nicht rechts, nicht links schaut, nur geradeaus“, die also „aus der Mitte“ heraus wechselnde Mehrheiten sucht, völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht“.

Was die Neue Rechte und die AfD nie geschafft haben, das haben jetzt CDUCSU und FDP geschafft, die Spaltung der bürgerlichen Mitte. Das könnte auch den Anfang der Zerstörung der Union sein, die im Gunde eine Selbstzerstörung wäre.
Die Probleme scheinen jetzt erst richtig anzufangen.