Auschwitz-Birkenau 

Auschwitz-Birkenau 

6. Juni 2025 0 Von Uli Gierse

Eine Reiseerfahrung und das Lager als politisches Prinzip

 

  

Die Reise – Eindrücke und neue Fragen

Ende Mai haben meine Frau, ich und ein befreundetes Paar eine Bildungsreise mit dem Bildungswerk Stanislaw Hantz nach Auschwitz gemacht. Die Vorträge und die Erkundung des gesamten Lagerkomplexes mit vielen vergessenen Orten machten die Reise zu einem unvergesslichen Ereignis.

Auf einer Wiese zu stehen, auf deren Boden die Asche der Ermordeten ausgeschüttet wurde, ist etwas anderes als Zuhause am Computer zu sitzen. Es sind auch nicht die kasernenartigen roten Backsteinbauten im Stammlager Auschwitz oder die Holzbaracken (Modell Pferdestall) in Birkenau, die beeindrucken, sondern Orte wie die Exekutionswand bei Block 25 in Birkenau.

In Block 25 wurden kranke und erschöpfte Häftlinge, im Lagerjargon „Muselmänner“ genannt, für die Gaskammern ausgewählt. Die selektierten Menschen wurden in Birkenau in die Baracke (Block 25) gesperrt und mussten unter fürchterlichen Bedingungen einige Tage warten, bis Lastwagen sie zu den Gaskammern brachten oder sie an der Wand neben der Baracke erschossen wurden.

Leider gibt es die Krematorien, die Massenmorde für 2000 Häftlinge gleichzeitig ermöglichten, nicht mehr, da die Verantwortlichen des Auschwitz-Museums Rekonstruktionen aktuell noch ablehnen und bemüht sind nur das, was noch vorhanden ist, zu konservieren. Das ist auch die Kritik des Überlebenden Stanislaw Hantz, des Namensgeber des Bildungswerks: „Das sah hier alles ganz anders aus, damals, sagte er, dabei zerschneiden seine Hände die Luft. Er mag es nicht, dass Spuren zerstört werden. Er mag es nicht, dass die Bäume im Lager wachsen, er mag nicht, dass Schriftzüge auf den Gebäuden verblassen und die Baracken ‚seiner‘ Zimmerei abgerissen wurden.“[1]

Vorher – Nachher:

aus Film der Roten Armee 27.1.1945 – heute

Das Gesamtlager wirkt heute leer und ist nur in seiner Größe erfahrbar, wenn man wie wir auch die zerstörten Orte besucht. Heute wächst auf dem Gelände viel grünes Gras und in den aufgegebenen Bereichen ein idyllischer neuer Wald. Kinder, die in Auschwitz geboren und bis zu ihrer Ermordung aufgewachsen sind, haben dagegen grüne Pflanzen oder Bäume höchstens aus der Ferne gesehen.

Andere Orte wie das KZ Monowitz mit 10.000 Häftlingen aus Auschwitz, welche die geplante Fabrik der IG Farben erbauen sollten, sind inzwischen ganz verschwunden. Heute stehen da lauter Einfamilienhäuser. Das ist ein verlorener Ort, der ein wichtiges Thema hätte bebildern können: die enge Zusammenarbeit zwischen SS-Staat und der deutschen Industrie. Und man sollte nicht glauben, dass die Häftlinge in Monowitz besser behandelt wurden als im Stammlager.

Beeindruckt hat mich auch ein Randaspekt, die quasiwissenschaftliche Einrichtung von Bio-Laboratorien für landwirtschaftliche Forschung auf einem riesigen Gelände, dem sogenannten SS-Interessengebiet. Pflanzen- und Tierzucht waren ein besonders Hobby insbesondere für Heinrich Himmler, dem SS-Chef. Die lokale Nähe zum Vernichtungslager macht auch Sinn, wenn man vermutet, dass für die SS das Ausmerzen von nicht erwünschten Pflanzen oder Tieren auch nichts anderes war als die Ermordung von über einer Million jüdischer Menschen und die De-Humanisierung von jüdischen und nicht-jüdischen Arbeitssklaven, polnischen Nazigegnern, russischen Kriegsgefangenen, von Sinti und Roma sowie Schwulen oder Zeugen Jehovas. Tier- und Pflanzenzucht und Menschenzucht haben einen gemeinsamen Nenner: Das Leben als solches beherrschen zu wollen. Die Lager und nicht nur Auschwitz-Birkenau sind Teil eines Programms, das Menschenversuche wie Tier- oder Pflanzenexperimente auf die Beherrschung von Körpern reduziert: Zucht durch Auslese.

Die wissenschaftlich nicht haltbare Vorstellung, dass es verschiedene Menschenrassen unterschiedlicher Qualität gäbe, führt zu der Vorstellung, mit Menschen genauso verfahren zu können wie mit toten Objekten. Und auch Ärzte, die unterscheiden zwischen Menschen unterschiedlicher Qualität (Rasse, Ungeziefer, Schädlinge), fühlten sich dann nicht mehr an ihren hippokratischen Eid gebunden, sondern agierten wie Metzger.   Ich glaube, man muss einfach begreifen, dass Vernichten, Zerstören, Leere produzieren, Nazi-Sachen sind. Getreu dem Motto: Nazis machen Nazi- Sachen. Dazu Stanislaw Hantz: „Vernichtung, das war die Sache der Nazis, erst die Menschen, uns, dann die Akten, die Krematorien, die Spuren.“

Warum konnte das geschehen?

Vorgeschichte Faschismus

Das Deutsche Reich war Mitte der 30 er Jahre ein faschistisches Regime wie viele andere in Europa. (Italien, Spanien, Portugal, Österreich bis 1938). Diese unterschieden sich.

Ihre gemeinsamen  Merkmale waren ein Traditionskult, die Verherrlichung der Vergangenheit, die Ablehnung der Moderne, Machismo, Überhöhung von Männlichkeit und traditionellen Rollenbildern, ein Anti-Intellektualismus, die Angst vor Fremden, Elitarismus, die Ablehnung von Gleichheit, Glaube an natürliche Hierarchien, Duce- Führerkult, Einparteienherrschaft, Nationalismus, Militarismus, Antikommunismus.

  • Der österreichische Austrofaschismus unter Engelbert Dollfuß / Kurt Schuschnigg war eher ein klerikalfaschistischer, katholisch-konservativer, antisozialistischer Staat, der die Vorstellung eines deutschen Großreichs ablehnte.
  • Ab 1939 herrschte in Spanien Franco, der ähnlich wie Österreich einen Nationalkatholizismus durch autoritäre Herrschaft und Verfolgung von Republikverteidigern propagierte.
  • In Portugal herrschte seit 1933 die Estado Novo unter António de Oliveira Salazar. Es war ein autoritärer, klerikalfaschistischer Staat, es galt eine Zensur, Geheimpolizei (PIDE) kontrollierte die Zivilgesellschaft. Es gab keine Parteien außer der „Nationale Union“. Portugal und Spanien waren im Unterschied zu Deutschland aber weniger auf territoriale Expansion, weniger imperialistisch ausgerichtet und Rassenideologie spielte keine große Rolle.

In Deutschland entwickelte sich im Unterschied zu den genannten Ländern, ein nach außen expansives, fanatisch antisemitisches Herrschaftssystem, der Nationalsozialismus. Die Nazis begnügten sich nicht damit den Staatsapparat zu erobern und eine Diktatur zu errichten, sondern gingen sofort daran die staatlichen Institutionen umzubauen. Das galt für die Justiz, die Polizei und alle anderen Institutionen wie auch Hochschulen. Man nannte das die Gleichschaltung. Parteien und Gewerkschaften wurden schon 1933 verboten und alle Freiheitsrechte wurden schon am 28.2.1933 außer Kraft gesetzt (siehe unten).

Die erste Phase der Machtkonsolidierung im Nationalsozialismus von 1933 bis 1938 war in Deutschland davon geprägt, die Ideologie der Volksgemeinschaft (Ein Volk, ein Führer) zu verankern, dazu diente auch der verpflichtende Wehr- und Arbeitsdienst oder die Frauen-, Mädchen- und Jungenorganisationen. Als Feinde wurden alle potenziellen Systemgegner, insbesondere aber Juden und Jüdinnen, identifiziert. Juden und Jüdinnen wurden als Schädlinge und Ungeziefer geframt. Man erhob den Anspruch Europa zu beherrschen, Europa zu erobern. Die Begründung war wie in allen anderen Fällen auch, die Deutschen müssen ihren Opferstatus ablegen und den angeblich benötigten Lebensraum vor allem in Osteuropa erobern. Dazu wurde die Wehrmacht massiv aufgerüstet, obwohl das im Versailler Friedensvertrag verboten war. Doch die Westmächte Frankreich und England waren bereit, um des Friedens willen Zugeständnisse zu machen (Appeasement-Politik). 1938 wurde Österreich, dann das Sudetenland, später der westliche Teil der Tschechoslowakei (Böhmen und Mähren) mehr oder weniger gewaltsam in das Deutsche Reich eingegliedert. Die Slowakei wurde zum abhängigen Satellitenstaat. Das war der Ausgangspunkt vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Hitler und Stalin einigten sich auf die Aufteilung Polens (wieder einmal) und setzen diese im September 1939 militärisch um. Das war dann auch der Startschuss für die ersten KZs auf polnischem Boden.

Krieg und Vernichtung

Die Ermordung von politischen Gegnern, Kriegsverbrechen oder Pogrome gegen Juden gab es historisch immer mal wieder. Neu war das Ziel, eine Bevölkerungsgruppe – die Jüdische – total auszurotten, ausgeführt von den Instanzen des staatlichen Gewaltmonopol selbst. SS, SA, Gestapo, Polizei und Wehrmacht bildeten dieses Gewaltmonopol und alle diese Kräfte waren auch Teil des Massenmordens. Diese Morde fanden statt in Wäldern, in den Ghettos, auf der Straße, aber vor allem in Lagern und speziell in Vernichtungslagern. Das war neu.

Ich habe mich immer wieder mit dem NS-Regime und dem Massenmord an den europäischen Juden beschäftigt, auch aus familiären Gründen (Meine Eltern waren Jahrgang 1913/1914). Das war auch ein Grund, mich mit Hannah Arendts Sicht auf diesen Zivilisationsbruch (siehe mein Buch) zu beschäftigen.

Doch nun, da ich zuhause am Computer sitze, weiß ich zwar konkreter, was sich vor Ort in Auschwitz-Birkenau abgespielt haben könnte, doch die sinnliche Anschauung und die politische Analyse sind nicht leicht zur Deckung zu bringen. Ich will daher erstmal schauen, ob der aktuelle Forschungsstand, soweit ich den überschauen kann, mir dabei weiterhelfen könnte.

Konzentrationslager sind keine Erfindung der Nazis, aber sie haben diese zu Todeslagern gemacht.

Konzentrationslager gab es nicht nur ab 1933, sondern die ersten wurden sogar von Sozialdemokraten errichtet. Dort wurden Kommunisten, die 1923 versuchten eine kommunistische Revolution anzuzetteln, nach Ausrufung des Ausnahmezustands in sogenannte Schutzhaft interniert. Und – das ist wirklich bedenklich – in Cottbus-Sielow wurde schon 1921 ein sogenanntes „Konzentrationslager für (unerwünschte) Ausländer“ auf dem Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers von der sozialdemokratisch geführten preußischen Staatsregierung errichtet. Dort wurden vor allem aus Russland und Polen geflüchtete Ostjuden interniert. Diese waren für die SPD-geführte preußische Staatsregierung unerwünschte Flüchtlinge.  

Hindenburg legalisiert die Errichtung der KZs

Das was dann ab Ende Februar 1933 passierte, war daher auch schon bekannt. Rein rechtlich beruht die Errichtung von Konzentrations- oder Schutzhaft-Zentren nach 1933 auf der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28.Februar 1933 (Reichstagsbrandverordnung). Nach Artikel 48 (Notverordnung) ordnete Reichspräsident Hindenburg an, dass „bis auf weiteres“ alle individuellen Freiheitsrechte (Meinungs-, Presse-, Versammlungs-, sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis) außer Kraft gesetzt wurden. Willkürliche Verhaftungen (Schutzhaft) und die ersten Konzentrationslager wie Dachau waren dadurch „legal“. Diese Notverordnung wurde bis zum Ende des NS-Staates nicht aufgehoben. 

Konzentrationslager werden zum Ausnahmeraum

Die Lager bilden einen Ausnahmeraum, in dem nicht nur die individuellen Freiheitsrechte gänzlich aufgehoben worden sind, sondern subjektives Recht und rechtlicher Schutz keinen Sinn mehr haben. In ihnen ist alles möglich. Die Bewohner der Lager, zuerst Kommunisten und Sozialdemokraten, dann Kriminelle und sogenannte Asoziale, später die schon vorher entrechteten Juden und Jüdinnen. Sie sind mit Eintritt in das Lager auf ihr nacktes Leben reduziert worden. Dieser Ausnahmeraum war auch für die Täter wichtig, denn es muss eine Ausnahmesituation herrschen, damit ganz normale  Menschen „böse“ handeln. Ein wichtiges Element aus Tätersicht mochte dabei sein, dass Gehorsam und sich „korrekt nach Vorschrift“ verhalten, dazu dienen sollte, zu verhindern, dass man zum Außenseiter, zum Verräter, zum „Kameradenschwein“ gestempelt wurde. Gruppenzwang ist gerade in männerbündischen Gruppen ein wichtiges Element, aber reicht das, um zum Mörder zu werden? Das reicht nicht. Das Nicht-Normale musste im Lager zum Normalzustand werden. Oder wie Hannah Arendt sagt, das Gebot „Du sollst nicht töten!“ wird zum neuen Gebot „Du sollst töten!“.

Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“[2]

Foto aus Museum in Auschwitz

Warum taten die Täter das? Giorgio Agamben kritisiert diese Fragestellung und wünscht sich, dass zuvor die Voraussetzungen dieser Taten besser beleuchtet werden:

Vor den in den Lagern begangenen Gräueltaten ist die Frage, wie es möglich gewesen ist, solch entsetzliche Verbrechen an menschlichen Wesen zu begehen, heuchlerisch; ehrlicher und vor allem nützlicher wäre es, gewissenhaft zu untersuchen, durch welche juristische Prozeduren und welche politische Dispositive menschliche Wesen so vollständig ihrer Rechte und Eigenschaften haben beraubt werden können, bis es keine Handlungen mehr gab, die an ihnen zu vollziehen noch als Verbrechen erschienen wäre (an diesem Punkt war in der Tat alles möglich).“[3]

Mir scheint, das Töten macht dann weniger moralische Probleme, wenn das Objekt vorher entmenschlicht wurde, gar kein Mensch mehr zu sein scheint. Und trotzdem waren die Erschießungen immer noch poschisch belastend für die beteiligten SS-Männer. Man ging deshalb daran, das Töten durch Giftgas „unpersönlicher“  zu machen. Zuerst durch Kohlenmonoxid, durch Auto- bzw. Motorenabgase und dann in Auschwitz durch das „Desinfektionsmittel“ Zyklon B. Lagerkommandant Höß und die beteiligten Firmen waren stolz auf die Funktionsweise der Todesmaschinerie in Auschwitz durch riesige Zyklon B-Gaskammern für 2000 Personen und deren Verbrennung in benachbarten riesigen Krematorien. In Auschwitz werden von fast 6 Millionen ermordeter europäischer Juden und Jüdinnen allein über eine Million umgebracht. „Auschwitz“ wird so zur Metapher für die Shoah. Aber Auschwitz ist real auch nur einer von vielen Orten des Massenmords. 

Anita Lasker- Wallfisch, die Cellistin des Mädchenorchesters, schreibt in ihrer Biografie zur Besonderheit der Verhältnisse in Auschwitz-Birkenau: „Es gab etwa 5000 Konzentrationslager unter dem Nazi-Regime. Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald oder Dachau sind nur die bekanntesten. Ich glaube nicht, dass sich die Lager fundamental voneinander unterschieden. Die Hauptunterschiede waren die Größe und die Methode, mit der die Insassen ermordet wurden.[4] 

Nach Ländern aufgeschlüsselt (nur Beispiele, gerundete Zahlen):

LandErmordete jüdische Bevölkerung
Polenca. 3 Millionen
Sowjetunion (Gebiete)ca. 1 Million
Ungarnca. 565.000
Rumänienca. 300.000
Deutschland/Österreichca. 160.000–180.000
Niederlandeca. 102.000
Frankreichca. 75.000
Griechenlandca. 60.000

In der Debatte um die Singularität der Shoah wird häufig auf das Industrielle des Massenmords in Auschwitz hingewiesen. Daran stimmt, dass quasi-industriell die Ermordung und Verbrennung geplant und organisiert wurde. „Industriell“ wäre allerdings, wenn Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt würden. Das ist in den Nazi-Lagern aber nicht passiert, weil man meinte, Arbeitssklaven im Überfluss zu haben. Sie mussten ja auch nicht bezahlt werden, sondern waren quasi umsonst. Rein ökonomisch betrachtet, war das aber ein Fehlschluss, da die Arbeitsproduktivität von normaler Lohnarbeit wesentlich höher gewesen wäre. Doch da kommen wir schon in die Diskussion der Sinnfrage. Die Schuldfrage ist gelöst, die Nazis und ihre Helfer sind schuld. Nicht gelöst ist die Frage, wie konnte es zu diesem beispiellosen Zivilisationsbruch kommen?

Dabei muss man die Motive der Täter von der Analyse, was bedeutete das für das Herrschaftssystem, auseinanderhalten. Ich will zuerst auf die Täter eingehen.

De-Humanisierung – Entmenschlichung macht Töten leichter

Wie schon oben beschrieben, ist eine Voraussetzung für die Täter, dass die Opfer de-humanisiert werden. Die Zerstörung ist dann der Schlusspunkt der Entmenschlichung. Es beginnt mit einer Entrechtlichung. Den Jüdinnen und Juden wurden schrittweise ab 1933 zuerst die Staatsbürgerschaft (die rechtliche Persönlichkeit) weggenommen, damit verloren sie als Staatenlose auch in den Zufluchtsländern das „Recht, Rechte zu haben“. Für Hannah Arendt war das Teil einer Strategie, „überflüssige Menschen“ zu schaffen, denen dann in den nächsten Schritten die Würde (moralische Persönlichkeit) und letztlich das Existenzrecht selbst (individuelle Persönlichkeit) abgesprochen wurde.

Produkt der Erziehung – Autoritäre Zwangscharaktere

Daran schließen sich psychologische und individualpsychologische Erklärungen an.[7]  Diese konzentrieren sich auf die individuelle Motivation und Psychologie der Täter. Die Täter handelten aus Gehorsam, Konformismus, Karriereinteresse oder aufgrund autoritärer Persönlichkeitsstrukturen. Dazu gehören Theodor W. Adorno Studien zum autoritären Charakter und Stanley Milgrams Gehorsamsexperimente.

Eliminatorischer Antisemitismus der Deutschen

Daniel Goldhagen provozierte 1996 mit der These vom „eliminatorischen Antisemitismus“ der Deutschen. In seinem Buch Hitlers willige Vollstrecker stellt er die ideologische Überzeugungskraft des Antisemitismus ins Zentrum. Für ihn war der Holocaust nicht das Ergebnis einer kleinen Clique fanatischer Nazis, sondern Ausdruck eines tief in der deutschen Kultur verankerten Judenhasses, der auf die physische Vernichtung der Juden als „Lösung“ zielte. Millionen Deutsche – Polizisten, Soldaten, Verwaltungsbeamte – seien nicht gezwungen worden, zu morden, sondern hätten es gewollt, mit teils erschreckender Eigeninitiative und Brutalität. Täter waren demnach keine bloßen Befehlsempfänger, sondern Überzeugungstäter, die ihre Taten als moralisch gerechtfertigt ansahen. Goldhagens eher monokausale Analyse der „Überzeugungstäter“ betont zwar auch die ideengeschichtliche Erklärung, dass der Antisemitismus ein kulturelles Langzeitphänomen sei, das im Nationalsozialismus kulminierte. Dieser „eliminatorische Antisemitismus“ sei ein rein deutsches Problem. Goldhagen erklärt sich das als Ergebnis von kultureller, ideologischer Verblendung.

Der Antisemitismus, der Judenhass, war aber nicht auf Deutschland beschränkt, sondern fand sich in ganz Europa in mehr oder weniger antisemitischen Parteien wieder. Ideologisch ordnete sich der Nazi-Antisemitismus da ein und unterschied sich nicht von anderer antisemitischer Propaganda. Neu war, dass der Antisemitismus sich in Deutschland eine gesetzliche Grundlage in den Nürnberger Gesetzen von 1935 schaffte. Juden wurden dadurch sozial und in ihren Rechten isoliert und von der Restbevölkerung absentiert (Die Buren nannten das Apartheid). Die Vernichtungsmaschinerie baute dann darauf auf.

Ohne Sinn und ohne Verstand

Doch die Begründungen „De-Humanisierung“, „autoritärer Charakter“ oder tötlicher Antisemitismus sind noch unzureichend, denn Konzentrations- und Vernichtungslager beleidigen den gesunden Menschenverstand durch ihre anscheinende Sinnlosigkeit. Warum tötete man potentielle Arbeitssklaven und vergeudete für den Krieg dringend benötigte Transportkapazitäten? Warum konzentriert man sich nicht auf den Krieg und die Kriegswirtschaft?

Das wird auch in rechten oder naiven Kreisen kritisiert. Neulich ging ich an einem Straßencafé vorbei, in dem ein junger Mann gerade sagte, „wenn Hitler nicht die Sowjetunion angegriffen hätte, gehörten uns jetzt Polen und Frankreich“.

Für den gesunden Menschenverstand ergeben selbst die brutalsten Exzesse noch Sinn, wenn sie für irgendwas „nützlich“ sind und sei es durch die Bereicherung durch Raubmord oder dem psychopathischen Ego-Trip eines Serienmörders. Die Nazi-Todeslager wie Auschwitz übersteigen diesen Horizont und die Grenzen menschlicher Erfahrung. Beispielhaft stehen die sinnlosen Zählappelle für diese Unmenschlichkeit. Die Häftlinge mussten täglich die Folter der Zählappelle aushalten. Häufig dauerte dieses Ritual des Stillstehens mehrere Stunden – und das bei Mangelernährung und ständigem Durchfall, herabgestuft zu einer Nummer, kahlgeschoren und besudelt mit der eigenen Kacke.

Ankunft der ungarischen Juden

Radikalisierung durch Polykratie und Chaos

Es ist aktuell in der Wissenschaft en vogue die Strukturen des NS-Staates, insbesondere die Polykratie (vielgliedrige Machtverteilung),  vernatwortlich zumachen für die Eskalation der Gewalt. Danach haben verschiedenste Machtzentren und ihre Führer, ob der SS, der SA, der Gestapo, der Partei oder dem Regierungsapparat sich gegenseitig hochgeschackelt in ihrer Radikalität, den Willen des Führers vorausschauend zu erfüllen. Letztlich gab es dann aber keine individuelle Verantwortung, oder? Die Vertreter dieser These nennt man Strukturalisten, sie sehen in der Struktur des NS-Systems ein Erklärung für die Überschreitung jeder humanen Grenze.

Am plausibelsten finde ich, die Erklärungen voin Hannah Arendt.

Terror als Teil des Systems

Arendt fragt nach den Bedingungen, unter denen Menschen aufhören, moralische Wesen zu sein – und findet diese in der Struktur totalitärer Systeme, in denen Ideologie und Terror nicht nur Kontrolle ausüben, sondern die Fähigkeit zu Urteil und Widerstand systematisch zerstört wird.

Für Arendt ist Terror kein zufälliges oder willkürliches Mittel, sondern notwendiger Bestandteil totaler Herrschaft, ein Instrument, um Individuen in bloße Funktionswesen zu verwandeln.

Arendt argumentiert so: „Einen Angriffskrieg wird man nicht im entferntesten als beispielloses Ereignis bezeichnen; Massaker unter der Zivilbevölkerung des Feindes oder gar an einem vermeintlich feindlich gesonnenen Volks sind, wenn man die Geschichte betrachtet, fast an der Tagesordnung; Ausrottung von Eingeborenen im Kolonisationsprozess und bei der Errichtung von neuen Siedlungen gab es in Amerika, Australien und Afrika; Sklaverei ist eine der ältesten Einrichtungen der Menschheit und Staatssklaven, die zur Ausführung öffentlicher Arbeiten eingesetzt wurden, stellten einen der Hauptpfeiler des Römischen Imperiums dar.[8]

All diese Gräuel haben für Hannah Arendt einen erklärten Zweck, sie nützen den Herrschenden wie der Raub dem Räuber nützt. Die Motive sind klar, die Mittel in Bezug auf den Zweck tauglich, das heißt nützlich. „Die außerordentliche Schwierigkeit, die beim Versuch entsteht, die Institution Konzentrationslager zu verstehen und in die Menschheitsgeschichte einzuordnen, kommt genau daher, dass dieses Nützlichkeitskriterium fehlt.[9]

Die rücksichtslose Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben zwischen 1936 und 1938 sowie das Pogrom vom 9. 11.1938 gehörte auch noch im Rahmen dessen, was man in einem faschistisch- antisemitischen Staat erwarten konnte. Ebenso war die Errichtung von Ghettos in Osteuropa noch in einer historischen Kontinuität der mittelalterlichen Ghettos. „Das waren“, schreibt Arendt, “scheußliche und verbrecherische, aber völlig zweckrationale Handlungen.“[10] Dazu gehört auch der Neid[11], der nach der Jahrhundertwende geborenen Nicht-Juden, insbesondere der Intelligenz, auf die Erfolge von jüdischen Menschen in der Schule wie im Berufsleben. Arbeitsverbote bis hin zu Deportationen in osteuropäische Ghettos waren daher im Sinne dieser Neid-Bürger. Dass dabei auch noch eine unmittelbare Bereicherung möglich wurde, war ein weiterer rationaler Grund. Ein Randaspekt für die Politik war zudem, dass durch die erzwungenen Umsiedlungen, aber auch die Flucht aus Deutschland das „Juden-Problem“ sich in einem gesteigerten Antisemitismus in den Aufnahmeländern äußerte. Das Hineinquetschen von deutschen Juden in osteuropäische jüdische Ghettos zeigte einerseits den militärisch Besetzten, was ihnen auch drohen konnte und wurde andererseits kompensiert durch die Verteilung der jüdischen Habe an die umliegende Bevölkerung. Die Zwangsarbeit und die Hunger-Folter bis hin zum Tod, waren auch noch Maßnahmen, die nicht neu waren. Zudem das Endziel, die Ansiedlung aller Juden in Madagaskar, als eine humanitär akzeptable Lösung im Raum stand.

Auch wenn man historisch Ghettos und Zwangsarbeit als „normal“ ansieht, waren das doch Orte, die den Holocaust mental vorbereiteten.

Zwei Beispiele:

  • Ruth Foster, eine Überlebende erinnert sich an eine furchtbare Szene: Ein SS-Mann sprach ein kleines Kind in einem Ghetto an und fragte, „ob es Süßigkeiten wolle, und als dessen Vater diese Frage unsicher für sein Kind bejahte, forderte der SS-Mann es auf, es solle den Mund öffnen. Daraufhin schoss er ihm in den offenen Mund. Ruths Vater, der dies fassungslos beobachtet hatte, fragte seine Tochter daraufhin verzweifelt:“ Ich dachte, wir sind hier, um zu arbeiten. Was passiert hier?“[12]
  • Massenerschießungen waren schon in der ersten Phase der Deportation in Ghettos der eroberten Gebiete im Osten nicht selten: „Der Breslauer Historiker Willy Cohn notierte bereits am 10. Oktober 1941 in sein Tagebuch, dass es in Kiew „ein großes Blutbad“ gegeben haben soll. Gemeint ist hier die Erschießung von über 33.000 Jüdinnen und Juden in der Schlucht von Babyn Jar am 29. und 30. September 1941.“[13] Häufig war es so, dass für die deportierten deutschen Juden die Wohnungen der polnischen, lettischen oder ukrainischen jüdischen Bevölkerung vorgesehen waren. Die früheren Besitzer hat man erschossen.

Der Terror der Lager war als Teil der totalen Herrschaft und hatte nicht nur den Zweck aus rassistischen Gründen für eine neue „Reinheit“ des Blutes (Nazi-Jargon) zu sorgen, sondern dieser Terror sollte die Nazi-Volksgemeinschaft wie ein „eisernes Band“ (Arendt) zu einer homogenen Masse zusammenpressen. Darin bestand der Zweck für das totalitäre System. Es sei deshalb auch kein Zufall, dass auch das totalitäre System des Stalinismus Millionen Tote produzierte.

Für Hannah Arendt machen diese Todeslager nur einen Sinn als riesiges Laboratorium, welche das Ziel der Organisation einer totalen Beherrschung des Menschen hatten. „Die Konzentrationslager sind die Laboratorien für das Experiment der totalen Beherrschung, denn wegen der Beschaffenheit der menschlichen Natur, kann dieses Ziel nur unter den extremen Bedingungen einer von Menschen geschaffenen Hölle erreicht werden. Die totale Beherrschung ist dann erreicht, wenn die menschliche Person, die immer eine Mischung aus spontanem unbedingtem Verhalten darstellt, in ein völlig konditioniertes Wesen transformiert worden ist, dessen Verhaltensweisen selbst dann genau vorausberechnet werden können, wenn es in den sicheren Tod geführt wird. Diese Desintegration der Persönlichkeit wird schrittweise vollzogen, und mit der willkürlichen Verhaftung fängt es an.“[15]Der Mensch wird entmenschlicht und verliert alle Rechte, alle Moral und letztlich sich selbst.

Terror mit dem Ziel der Zerstörung der menschlichen Person ist daher mehr als ein Verbrechen, er ist die Versündigung am Menschsein selbst.

Und dabei geht es nicht nur um die Ermordung der europäischen Juden, sondern am Anfang der Massenmorde stand die Tötung „unwerten“ Lebens von „Geisteskranken und Behinderten“, im Nazi-Jargon „lebensunwertes Leben“.  Anders als bei der Vernichtung der europäischen Juden liegt hierbei ein ausdrücklicher, auf den 1.9.1939 zurückdatierter Führerbefehl vom Oktober 1939 vor, in welchem Hitler den Reichsleiter der Kanzlei des Führers sowie seinen Begleitarzt Dr. Karl Brandt ermächtigt, „(…) die Befugnisse namentlich zu bestimmenden Ärzten so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ Dieser Erlass ist geheim gehalten und nie Gesetz geworden, doch genügte er, um in sechs sogenannten Euthanasieanstalten (Brandenburg, Bernburg, Sonnenstein, Hadamar, Hartheim, Grafeneck) insgesamt über 70.000 Menschen zu ermorden; getötet durch verhungern lassen, Giftspritzen und die meisten durch Vergasen in eigens dafür eingerichteten Kammern mit Kohlenmonoxid. Nach Protesten aus kirchlichen Kreisen, stoppte man dieses „Euthanasie“-Programm.

Banalität des Bösen

In ihrem Bericht „Eichmann in Jerusalem“ (1963) analysiert sie die Täter wie Adolf Eichmann nicht als fanatische Ideologen, sondern als erschreckend gewöhnliche Menschen. Ihr berühmter Begriff von der „Banalität des Bösen“ beschreibt ein Täterprofil, das nicht aus fanatischem Hass, sondern aus Gedankenlosigkeit, Konformismus und Pflichterfüllung besteht. Adolf Eichmann, einer der zentralen Organisatoren des Holocaust, erscheint bei ihr nicht als Antisemit, der er vielleicht auch war, sondern als technokratischer Bürokrat, der Befehle ausführte, ohne deren moralische Tragweite zu reflektieren. Arendt geht es nicht darum, Schuld zu relativieren – im Gegenteil: Für sie liegt das eigentliche Verbrechen darin, nicht gedacht zu haben, nicht gewagt zu haben, sich moralisch ein Urteil zu bilden. Während Goldhagen also das Wollen des Täters betont, fokussiert Arendt auf das Nicht-Denken.

Du sollst nicht gleichgültig werden.

Die Herausgeber des im Herbst 1962 erschienen Sammelband „Auschwitz. Zeugnisse und Berichte“ stellen in der Einleitung fest: „Ein wirkliches Verständnis des Nationalsozialismus ist nur möglich, wenn man seinen schauerlichsten Ausdruck – Konzentrationslager und Vernichtungsstätten – nicht als Auswuchs, sondern als unausweichliche Konsequenz des ganzen Systems versteht.[5] Dem stimme ich zu. Das heißt aber nicht, wenn das System schuld ist, dass die Deutschen, die das alles mitgemacht haben, unschuldig würden. Nein, die Shoah, der Zweite Weltkrieg und all die Verbrechen der Nazis sind nicht von dem System, sondern von konkreten Menschen ausgeübt worden. Menschen sind daher auch dafür verantwortlich. Systeme erklären, Menschen machen.

Vielleicht ist es häufig dann zu spät, Nein zu sagen, wenn man es bei den ersten Schritten der Diskriminierungen versäumt hatte, dagegen Stellung zu beziehen. In dem Erich Kästner zugeschriebenen Zitat wird das deutlich: „Die Demokratie ist nicht daran zugrunde gegangen, dass ihre Gegner zu stark waren, sondern dass ihre Freunde zu schwach waren. Man darf nicht warten, bis aus Schneeflocken eine Lawine geworden ist. Man muss den Anfängen wehren.“

Viele Fragen werden auch zukünftig nicht abschließend klärbar sein, das muss auch nicht sein. Das Grübeln über diesen Zivilisationsbruch selbst ist schon ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur. Anknüpfen kann man an dem Mut und dem Durchhaltevermögen der Überlebenden. Das können auch kleine Gesten oder auch größere Aktionen dafür sein, dass man sich nicht alles gefallen lässt.

1944 zum Beispiel gab es auch in Auschwitz eine größere Widerstandsaktion des jüdischen Spezialkommandos. Das waren die Leute, die die Toten aus der Gaskammer ins Krematorium tragen mussten. Als ihnen klar wurde, dass die Zeit der Vergasungen zu Ende ging und sie deshalb selbst als nächstes dran waren, beschlossen sie zu handeln. Am 7. Oktober 1944 brach der lange geplante und mehrfach verschobene Aufstand des jüdischen Sonderkommandos spontan los. Drei SS-Männer wurden getötet und das Krematorium IV durch einen Brand zerstört. Alle Aufständigen wurden getötet.

Ich denke, ausgehend von der konkreten Empathie mit den Opfern, müssen wir uns mehr, auch in Familiengeschichten, mit der Abgestumpfheit der Täter beschäftigen. Denn das ist es, was sich wiederholen könnte. In einer anderer Zeit, in einem anderem Gewand, vielleicht nicht wieder in Deutschland, sondern sogar in dem Land, was die Demokratie neu erfunden hat, der neuen Heimat vieler Überlebender, auch Hannah Arendts.

Es gibt immer weniger Überlebende und auch die Täter sterben aus. Das wird Folgen für die Erinnerungskultur haben. Auch achtzig Jahre nach der Beendigung der millionenfachen Morde sind wir immer noch ohne eine wirkliche Erklärung für diese Hölle und sicher hat Anita Lasker-Wallfisch Recht, dass wir, die Nachfahren der Täter Menschen sind, die „nicht wissen“ und nicht zu der „Rasse“ der ÜBERLEBENDEN gehören.[16]

Überlebende haben oft mit der Scham zu tun, überlebt zu haben. Warum ich? Hab ich dadurch Schuld auf mich geladen? Viele Überlebende sind nach ihrer Befreiung freiwillig aus dem Leben geschieden. Ich sehe das so wie Anita Lasker-Wallfisch, die in ihrer Biografie schreibt, man brauchte Glück und Hilfe, um zu überleben. Anita Lasker-Wallfisch hatte das doppelte Glück nach ihrer Einlieferung in Auschwitz nicht sofort in die Gaskammern selektiert worden zu sein, weil sie mit einem Transport von Kriminellen ankam und dann auch noch der Frau, die als Funktionshäftling für die Tätowierung der Nummer zuständig war, erzählte, dass sie vorher Cello gespielt hätte. Deren Reaktion darauf: „Das ist ja phantastisch! (…) Du wirst gerettet werden.“ Anita Lasker wurde dann tatsächlich die Cellistin im Auschwitzer Mädchen-Orchester und bekam so eine privilegierte Stellung im Lager und als „die Cellistin“ auch ein Stück Würde.

Genauso wie Stanislaw Hantz, der als 17-jähriger Sohn eines polnischen Widerstandskämpfer , ohne Grund als einer der ersten (15.8.1940) als Ersatz für den schon verstorbenen sozialistischen Vater mit rotem Winkel nach Auschwitz kam und dort bis November 1944 überlebte und dann am 29.4.1945 von der US-Army im KZ Dachau befreit wurde. Er konnte überleben, weil er in Auschwitz als angelernter Zimmermann, in einer solidarischen Gruppe lebte und überall rumkam. Zudem konnte er ein wenig Deutsch.

Was einen Besuch von Auschwitz-Birkenau mit einer kompetenter Reiseleitung wie vom Bildungswerk Stanislaw Hantz so bedeutsam macht, ist die Einbeziehung von Zitaten und Schicksalen von Überlebenden wie auch von konkreten Tätern. Das Bildungswerk Stanislaw Hantz hat dazu einen guten Weg gefunden. An den konkreten Orten werden Zitate von Überlebenden von den Teilnehmern vorgelesen und großformatige Bilder gezeigt. Nur die Empathie mit konkreten Opfern, nicht die Zahl der Opfer oder die Anonymität der Täter, macht aus Nummern wieder Menschen und aus einem abstrakten System konkrete Täter.

Ein schönes Beispiel ist auch die Aktion „Zitronen aus Kanada“.

Stanislaw Hantz ist nach einer Bunkerhaft so gut wie tot. Als er lebend wieder in seiner Baracke ankommt, organisieren die Zimmereikollegen eine Zitrone für ihn. „Haben die von Kanada“. Kanada war der Lagername für die Sammelstätte des Raubguts der ankommenden Häftlinge und hieß deshalb Kanada, weil das als Synonym für Reichtum galt. Auf jeder Reise werden vom Bildungswerk nun Zitronen auf den übrig gebliebenen Ofen der Baracke der Zimmerleute gelegt.

Dieses bisschen Menschlichkeit, selbst in der Hölle von Auschwitz, war nicht selbstverständlich, es sollte uns jedoch Ansporn sein, die Opfer und auch die Überlebenden nicht nur im Erinnern zu ehren, sondern nicht erneut gleichgültig zu werden gegenüber dem Schicksal von Flüchtigen, von Kriegsopfern, dem Schicksal der Geiseln der Hamas und den Hungernden und Verfolgten in Gaza. Es gilt Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar – nicht nur für Deutsche, sondern universell.

Oder wie es Anita Lasker-Wallfisch zum Schluss ihrer Biografie ausdrückt „wer seine Mitmenschen entwürdigt, entwürdigt letzten Endes sich selbst.[17]

Die Würde eines Menschen wird man allerdings nur respektieren können, wenn man sie überhaupt sieht, überhaupt wahrnimmt. Deshalb stimmt das Plakat, welches vor der Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim (deutsch Auschwitz) hängt und zum 80. Jahrestag der Befreiung am 27.1.2025 aufgehängt wurde:

Internationale Jugendbegnungsstätte in Oświęcim

REMEMBER

Das 11. Gebot:

Du sollst nicht gleichgültig werden!

Gleichgültigkeit tötet.

Vielen Dank an unsere Guides Roland Vossebrecker und Maarten Tomforde vom Bildungswerk Stanislaw Hantz und an die großartigen Mitreisenden.

Und noch ein TIPP: Es gibt noch Plätze für Juli 2026. https://bildungswerk-ks.de/

In Krakau, einer wunderbaren europäischen Stadt, habe ich im jüdischen Viertel das Foto von den drei coolen Jungs gefunden. Wahrscheinlich haben sie nicht überlebt.


[1] Karin Graf: Zitronen aus Kanada. Das Leben mit Auschwitz des Stanislaw Hantz. Kassel 2008 (2. Auflage), S. 34

[2] Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frankfurt 2002, S. 177

[3] ebenda, S. 180

[4] Antita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben. Bonn 1997, S. 127

[5] H.G.Adler, Hermann Langbein, Ella Lingens-Reiner (Hrsg.): Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, Neuauflage Bonn 2014 (bpb), S. 7

[6] Lasker-Wallfisch, S. 80

[7] Ein Beispiel zeigt schon der Titel des 13. Kapitels der Hitlerbiografie von Ian Kershaw: „Dem Führer entgegenarbeiten.“

[8] Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Hannah Arendt: Nach Auschwitz, Berlin (Tiamat Verlag), 1989, S. 9

[9] ebenda, S.10

[10] ebenda, S.11

[11] Das hat Götz Aly herausgearbeitet.

[12] Zitiert nach Andrea Löw: Deportiert. „Immer mit einem Fuß im Grab“. Erfahrungen deutscher Juden. Frankfurt (Fischer), 2024, S. 81; aus der Visual History Archive #9538 Ruth Foster, Shoah Foundation Institute

[13] Andrea Low: Deportiert, S. 35

[14] Timothy Snyder: Black Earth

[15] Hannah Arendt: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Nach Auschwitz

[16] ebenda, S. 20

[17] Anita Lasker-Wallfisch, S. 229

[18] Titel der Biografie von Anita Lasker-Wallfisch