
Die Grünen: Ratlosigkeit und ein europäisches Problem
Die Europawahl 2024 ist das Gegenstück zur EU-Wahl 2019. Die Grünen haben es sogar geschafft, die mickrige Ausbeute der 2021er Bundestagswahl von 14,8 % auf 11,9 % zu drücken. Der SPD ist es nicht viel besser ergangen[1]: Auch wenn der Abstand zur letzten EU-Wahl mit 1,9 %-Punkten noch recht klein ausfällt, so ist der Absturz zur 2021er Bundestagswahl von 25,7 % auf nun 13,9 % nicht kleinzureden. Ähnliches gilt für die FDP, die ihre 2021er 11,5 % mehr als halbierte. CDU/CSU konnten moderat zulegen, AFD und BSW hingegen signifikant. Alles in allem konnte die Opposition gewinnen.
Das Muster ist bekannt: Die Regierenden werden in schwierigen Zeiten abgestraft. Es ist aber nicht die „alte“ Opposition einer Volkspartei, die deutlich profitieren konnte, sondern populistische Parteien. Was läuft schief, wenn das Stimmvolk abdriftet? Es vertraut den Lösungen oder besser Lösungsversuchen der „alten“ Parteien, zu denen inzwischen auch die Grünen zählen, nicht. Warum auch? Die Situation hat sich unter der Ampelregierung allenthalben nur verschlechtert und das Erinnerungsvermögen ist noch gut genug, dass auch CDU/CSU noch weniger für die Modernisierung des Landes getan haben. Es wurde alles solange schöngeredet, bis die Realität nicht mehr zu vernebeln war.

CDU/CSU stehen für schlechte Verwaltung bestehender Zustände. Egal ob Unionsparteien oder SPD, ohne die Grünen hätte ein Aufbruch zu einer fossilfreien Energieversorgung nicht stattgefunden. Aktuell wird dieser Ausbau durch Multikrisen der Globalisierung in der Agenda nach unten durchgereicht. Der Zeitpunkt des Stimmungswandels lag irgendwo zwischen Covid-19-Pandemie und den inflatorischen Auswirkungen des Ukrainekriegs. Es ist müßig, die Fehltaten der Ampel aufzuzählen. Die Parteien wissen es selbst. Es ist auch müßig, die Appeasement-Politik der CDU-SPD-Koalitionen gegenüber Putin wiederholt anzuprangern.
Klima
Interessanter ist schon die Feststellung, dass die in 2019 dominante Klimafrage in den Hintergrund gestellt wurde und damit den Grünen das Kernthema genommen hat. Besonders bitter ist der klimafreundliche Rohrkrepierer des Gebäudeenergiegesetzes, das als Loslösung von russischem Öl und Gas gepriesen wurde. Das Wahlvolk wollte nicht verstehen, dass ein geopolitischer Zusammenhang besteht. Die Wärmepumpe wurde zum Symbol „verhasster“ Grünenpolitik. Nicht die Vermeidung von klimaschädlichen Emissionen wurde diskutiert, sondern der vermeintlich unverschämte Eingriff in die Privatsphäre der Immobilienbesitzer. Bis auf die Grünen – die SPD war in dem Thema abgetaucht – entwickelte sich eine Allparteienallianz und eine gleichgeschaltete konservative Presse gegen die Grünen in Gestalt des Bundeswirtschaftsministeriums, seines Chefs und dem „grünen“ Klüngel rund um den Staatssekretär. Mit hanebüchener Inkompetenz wurde die hetzende Presse mit Vetternwirtschaft und unausgegorenen Gesetzesentwürfen gefüttert. Die Pressekampagne verfehlte ihre Wirkung nicht. Betroffene Hauseigentümer kauften sich auf die Schnelle noch eine Gasheizung und wenn es – wie in Bayern – ging, wurde auch eine Öl-Heizung vor Inkrafttreten etwaiger Bestimmungen angeschafft. Ein Klimaschaden wurde von den Freunden der „Technologieoffenheit“ in Kauf genommen. Die Erkenntnis, dass eine grüne Moral wohl auch nur in der grünen Klientel vorherrscht, war gleichbedeutend mit der Abkehr vom Pariser Abkommen von 2015. Es ging um die Diskreditierung der Grünen und ihrer Grundsätze mit dem Ziel, die fossile Wirtschaftsweise als temporär vernünftig darstellen zu können.
Inzwischen wird dem Verbrennungsmotor wieder das Wort geredet, um die deutsche Industrie vor den chinesischen E-Automobilen zu retten. Der Blick wird wieder auf Wettbewerbsfähigkeit der alten Kategorie gelenkt.[2] Eine Veränderung der industriellen Struktur mit der Chance auf Wettbewerbsvorteilen einer grünen Industrie wird verworfen. Warum? Weil es mehr Mühe macht und weil es mindestens zum Teil andere Akteure mit weniger Lobby sind. Klima wird geopfert, Überschwemmungen werden ignoriert und jedwede Probleme werden den Grünen angelastet. Die Grünen haben ihr Kernthema zumindest temporär verloren ohne es rechtzeitig bemerkt zu haben, denn das Wahlvolk interessiert sich für vorrangig für politische und ökonomische Sicherheit. Das sind nicht die Werte-Säulen einer Veränderungspartei. Die Grünen hätten in der Lage sein können, das Problem mit dem Wähler zu erkennen. Dazu müsste der Grüne (schlechthin) aus der Bubble von Radfahrwegen und Parkplatzvernichtung heraustreten und schauen, was sonst noch so zu tun wäre:
- Wie geht es den Leuten in den unteren 2 Quintilen der Einkommensverteilung?
- Wie sind sie vor Energie-, Miet- und Lebensmittelpreiserhöhungen zu schützen?
Das Klima und der Krieg in der Ukraine werden zu Anti-Themen dieser Klientel, wenn der politische Gegner die weitere Wohlstandsgefährdung durch Energiewende und Militärausgaben thematisiert. Auf diese Attacken waren die Grünen überhaupt nicht vorbereitet. Da wird munter über Investitionen und Ausgaben schwadroniert, ohne die sozialpolitischen Implikationen durchdacht zu haben. Am Ende wurde das auch noch als Testballon der Zumutbarkeit verkauft und wieder zurückgenommen. Geht’s noch![3] Habeck hatte schon bessere Einlassungen.
Sicherheit und Krieg
Sicherheit bestimmt auch den Russland-Ukraine-Krieg. Die Grünen haben gemeinsam mit der FDP bei Unterstützung der Unionsparteien eine klare Linie der Unterstützung des ukrainischen Widerstands vorgegeben. Leider konnte die Ampel aufgrund parteipolitischer Differenzen und fehlender Führung – hier Kanzler Scholz – keine Stimmung erzeugen, die eine Alternative zur Unterstützung gar nicht erst aufkommen lassen würde. Im Gegenteil: Das Zaudern und Zögern der Sozialdemokraten führte zum Bewerten militärischer Kräfteverhältnisse, anstatt den Experten diese Diskussion zu überlassen. Dieser Wankelmut wurde besonders von AFD und BSW dahingehend genutzt, mit Märchen über Putins Verhandlungsbereitschaft und Nato-Versprechen, nicht an die russische Grenze vorzurücken, zu punkten. Das Völkerrecht wurde dem gut gemeinten politische Pazifismus geopfert. Von Sarah Wagenknecht bis Klaus von Dohnanyi wurde unablässig getrommelt, dass USA und NATO die Bösewichter seien und Putin irgendwie auch gar nicht anders konnte als den Marsch auf Kiew anzusetzen. Dieses Narrativ machte aus den Grünen eine Kriegspartei und aus Sarah Wagenknecht (auch mit A. Schwarzer) einen Friedensengel. Einige Sozialdemokraten konnten dem nicht widerstehen, dachten sie doch, es wäre eine Situation wie 1983 während der großen Friedendemos. Nein, hier wurde ein Land überfallen 2 Flugstunden entfernt von Deutschland.
Die Hetzkampagne
Die Grünen wurden damit nicht nur als kriegerisch stigmatisiert, sondern gelten als grün-dogmatische missionierende Kraft, den Wohlstand der Nation zu gefährden. Nicht nur die Anhebung der Verteidigungsausgaben werden genannt, sondern eben auch Investitionen in grüne Gebäudesanierung und energetische Infrastruktur. Besonders offensiv wurde – neben AFD und BSW – Bayerns ehemals baumumarmender Ministerpräsident Markus Söder, seines Zeichens bekanntester und lautester Bierzelt-Opportunist. Sowohl Söder als auch CDU-Chef März kürten die Grünen zum Hauptfeind, als die Stimmung dann endlich gegen Grün kippte.
Bei aller berechtigter Kritik an den Grünen muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass erstens die EU-Wahl 2019 und die dann zugegebenermaßen (un)glückliche Entthronung der CDU wie eine Kränkung derselben wahrgenommen wurde. Das ist der Kern einer Hetzkampagne, die von Bild-Zeitung, Fokus und anderer konservativer Presse genutzt wurde, um ein neues Narrativ zu stricken, dass uns teilweise bekannt vorkommt: Die Grünen sind eine ideologische Verbotspartei.
Dieser Teil wurde von AFD und BSW genüsslich verwertet und die „Kriegstreiberei“ dazu gedichtet. Die CDU und auch die Oppositionspartei in der Koalition FDP haben die Stimmung in Richtung Populismus getrieben, die Grünen verleumdet, um Stimmen zu erheischen. Das funktionierte überhaupt nicht und jetzt bejammern sie das Problem wachsender Rechtsparteien. In diesem Sperrfeuer bewegte sich die immer noch recht unerfahrene Partei der Grünen mitunter orientierungslos. Viele dem Klimaschutz zugewandte Wähler wurden abgeschreckt und die Fanbase wurde durch Begebenheiten wie Räumung „Lützeraths“ verprellt. Die Covid-19-Pandemie hat darüber hinaus die Jugendbewegung FFF fast zum Erliegen gebracht.
Verlust der Jugend und jungen Erwachsenen
Das schlechte grüne Wahlergebnis der 16-24-Jährigen bestätigt den Mangel an grünem Nachwuchs. Die Verächtlichmachung der Grünen hat auch in diesem Wählersegment dazu geführt, dass „grün-engagierte“ Jugendliche die aufstrebende Partei Volt mit 7 % gewählt haben, während die Grünen in dieser Gruppe 23 Prozentpunkte einbüßen mussten. Volt ist quasi grün mit Jugendsprache ohne Stigma. Die Jugend steht im Fegefeuer der Migration/Integration, Schulen und Kitas stehen im Brennpunkt. Neben der ungünstigen demografischen Entwicklung verlieren die Jobs in diesen Bereichen an Attraktivität durch extreme Belastung und relativ schlechtere Entlohnung. Analogien zu den Tätigkeiten im Pflege- und Gesundheitssektor sind offenbar.
Die ungelösten Probleme wie zunehmende Gewalt und Islamisierung werden besonders in Schulen ausgetragen. Auch das ist ein Grund für die Degradierung der Klimafragen unter den Bedeutungsrang der Sicherheitsinteressen. Diese Situation ist das Ergebnis von politischer Arbeitsverweigerung aller Regierungen der letzten Jahrzehnte. Damit sind auch die Parteien identifiziert, die den Zustand zu verantworten haben: SPD und noch mehr die CDU/CSU, die für die hetzende Stimmung gegen die Grünen die Hauptverantwortung trägt. Dass es durchaus anders geht, zeigen die Bundesländer Schleswig-Holstein und NRW. Deren Ministerpräsidenten ist der Wille zu einer konstruktiven Zusammenarbeit nicht abhandengekommen. Aber sobald der Pawlowsche Hund die Wählerstimmen wittert, wird der politische Verstand resp. demokratische Verantwortung ausgeschaltet. Die Rechnung ging nicht auf. Bis vor einigen Tagen lag der schneidige Fritze Merz in den Umfragen noch hinter Olaf Scholz, was angesichts dessen Führungsleistung kaum möglich erschien. Stark wurden BSW und AFD, ramponiert wurden die Grünen, die vor allem für die Politik der Vorgängerregierungen bluten mussten. Aber die Grünen wollten und konnten ihre Achillesferse nicht schützen: die Migrationspolitik einer auf Humanismus fußenden Partei.
Migration
Die eh schon verheerende Gemengelage ungelöster Konflikte wird durch eine konturenlose Migrationspolitik flankiert. Die Grünen sind gespalten: Die dem Humanismus verpflichteten Anhänger tun sich mit einem Verbarrikadieren europäischer Grenzen schwer. Das gilt auch teilweise für die SPD, die in der Ampel besonders blass daherkommt. Die ungelösten Fragen um die Migration zwingen die Grünen stets in der Gestalt eines bremsenden Schweifs zu ungeliebten Zugeständnissen. Bis zur Aufgabe hehrer Positionen werden sie medial attackiert und damit zum Angelpunkt aller Migrationsgegner. Und hier haben wir es wieder mit Sicherheit und Wohlstand zu tun. In Hessen wurden die Grünen aus der Regierungskoalition gegen die SPD ausgetauscht. Die Begründung: die „strengere“ Migrationspolitik der SPD bezüglich der Rückführung von Migranten in Herkunftsländer.[4] Die Grünen haben nicht verstanden, dass es hier um mehr geht als die Erfüllung humanitärer Grundsätze: eine Gesellschaft steht vor einer Zerreißprobe. Inzwischen haben einige relevante Partei- und Regierungsfunktionäre nachgegeben, aber sie hinken stets der Stimmung im Land hinterher, stecken die medialen Prügel ein, um dann doch nachzugeben wie im Fall der Rückführung von kriminellen Migranten.
Die konservativen Medien tragen den Diskus naturgemäß nicht fair aus: Kriminelle Migranten füllen die Pressemitteilungen, von den nicht kriminellen wird nicht berichtet. Migranten werden meist ohne Wahrnehmung zunehmend in den Arbeitsmarkt integriert, aber über die Kosten für die anderen wird permanent geschrieben und in Talkshows gesprochen. Den Grünen fällt es schwer den Fakt zu akzeptieren, dass sich Deutschland mit dem Flüchtlingsstrom seit 2015 gewaltig verhoben hat. „Wir schaffen das“ und „Refugees welcome“ ist politisch blind. Es ist erst einmal ein „humanitäres“ Opfer der asylgewährenden Gesellschaften. Das hat physische Grenzen in Form von kümmernden Menschen und Räumen/Flächen. Wer mit Parolen vom grenzenlosen Helfen daherkommt, muss auch erklären, wie das zu schaffen ist. Wir können nicht zig Millionen Afghanen, Syrer etc. mit potenziellem Asylanrecht aufnehmen. Na klar kommen die nicht auf einmal, aber wenn täglich mehr kommen als wir integrieren können, ist die Richtung gleich. Einige Kommunen stehen seit langer Zeit vor dem Kollaps; über 20 % geben an, im Notfallmodus zu agieren. Eine Studie soll herausgefunden haben, dass diese Zahl in 2023 bei über 40 % lag. Aber im selben Bericht der Tagessschau wird konstatiert, dass sich die Zahl der Migranten verdoppelt hat, die Behördenkapazität aber gleich blieb. Die Folge ist massive Überforderung.[5]
Das Verhältnis von integrierten zu nicht-integrierten Geflüchteten belastet die deutsche Ökonomie und Gesellschaft ähnlich wie die demografische Entwicklung: Immer weniger Arbeitende ernähren immer mehr Nicht-Arbeitende. Diese einfache Arithmetik wird von der AFD und den konservativen Parteien mantraartig vorgetragen. Es macht keinen Sinn diesem Fakt zu widersprechen oder schönzureden. Wir müssen diese Bewegung in unser Land bzw. Europa stoppen, die noch vorhandenen Ressourcen (Steuergelder und pädagogische Fachkräfte) nutzen, um eine halbwegs funktionierende Gesellschaft vor einem Verfall a la USA zu bewahren. Das hieße nämlich: Kaum Unterstützung für Geflüchtete, die sich außerhalb geordneter Ökonomie ernähren müssen. Der soziale Brennstoff würde deutlich vergrößert werden, was den Sozialstaat seiner eigentlichen Ausgleichsfunktion berauben würde. Die USA managen diesen Zustand mehr schlecht als recht auch unter Verwendung steigender Auslandsschulden, die nur deshalb kein Problem darstellen, weil der US-Dollar (noch) als wertiger Schuldschein gilt und sich die volkswirtschaftliche Power auf einem anderen (technologischem) Level befindet. Beide Aspekte treffen auf Deutschland und Europa nicht (mehr) zu. Die USA stehen dennoch ebenso wie Europa vor einem ungelösten Migrationsproblem. Der Zustrom flüchtender Latinos sucht nur nicht den Sozialstaat, da es diesen nur rudimentär gibt. Stattdessen erfolgt die Ausdehnung ungeordneter Parallelgesellschaften, was keine bessere Perspektive als einen überforderter Sozialstaat bietet. Es bleibt letztendlich ein geopolitisches Entwicklungsproblem.
Frankreich mit ähnlichen Problemen
Die Grünen (LE-EEV) in Frankreich und den Niederlanden haben ähnliche Probleme. Sie haben stark an Zustimmung verloren.[6] Sie konnten den Klimaschutz nicht ausreichend thematisieren und hatten wie die deutschen Grünen ein Problem in der Positionierung zur Migration.

Die regierenden Liberal-Konservativen der Macron-Partei (Renaissance) verloren etliche Prozente ähnlich wie die deutsche Ampel. Profitieren konnte in geringem Maße die demokratische Opposition analog zur CDU in Deutschland: liberale Sozialdemokraten und Sozialisten. Die rechten Parteien von der krass rechten Rassemblement bis hin zum Rassisten Eric Zemmour konnten deutlicher zulegen. Das Niveau rechter Zustimmung war bereits – anders als in Deutschland – schon 2019 evident.
Fazit
Die Ausgangslage ist in den westeuropäischen Staaten ähnlich. Die Probleme sind augenscheinlich und die Lösungen bleiben in weiter Ferne. Das betrifft besonders die Migrationsfrage. Das spielt den rechten Parteien in die Hände. Sowohl nationale Regierungen als auch die EU sind nicht in der Lage eine konsensuale Lösung zu präsentieren. Auch das Verschieben der Machtverhältnisse wie etwa der Wahlsieg der Rechten in Italien um die Postfaschistin Giorgia Meloni konnte bislang nur die Diskussion weiter anheizen. Sollte Le Pen in Frankreich die vorgezogene Parlamentswahl Frankreich (Juli 2024) gewinnen, wird Europa eine neue Machtstruktur erhalten. Die gut mögliche französische Kohabitation von Präsidenten vs. Parlament wird Macron so schwächen, dass sein Wort in der EU nicht viel zählen wird. Die Koalition der Mitte wird zerfallen zugunsten einer rechten Formation. Die Ukraine wird dann nicht mal so eben in die EU aufgenommen werden, denn Le Pen und die rechte FPÖ aus Österreich lehnen das grundsätzlich ab.[7]
Auch die Migration wird damit nicht eingedämmt, der Ton wird lediglich schriller werden. Für die Fragen um sozialen Ausgleich und Klimaschutz in der EU werden die Parameter deutlich negativer. So oder so wird die Migrationsfrage auch die nächste Wahlperiode überschatten, wenn es nicht durch die Verschärfung der internationalen Konflikte zu noch größeren Herausforderungen kommen sollte. Darauf müssen sich die Grünen einstellen. Und sie müssen lernen zurückzuschlagen und jedwede Höflichkeit im politischen Kampf ablegen. Man wünscht sich einen Joschka Fischer[8] zurück, um die Inkompetenz der Vorgängerregierungen zu geißeln. Es kann nicht sein, dass ein potenzieller Antisemit und Rechter wie Hubsi Aiwanger die Grünen unentwegt beleidigt, zur Rückeroberung der Demokratie aufruft und seinen Stimmenanteil in Bayern ausbaut. Die Grünen müssen schlagkräftiger werden und dazu bedarf es politische Klarheit und erkennbare Strategie. Wenn das nicht gelingt, wird der Laden untergehen.
Es kommt zwar einer Vergewaltigung der Grünen gleich, wenn Klimafragen untergeordnet und Migration protektionistisch ausgelegt werden. Letzteres wird aber ein Problem bleiben; hier muss Farbe bekannt werden. Beim Klima müssen die Grünen offensiver werden und die Wohlstandsfrage damit eng verknüpfen. Wie viele Überschwemmungen und Dürren braucht es noch? Die Sicherheitsfrage rund um den Ukrainekrieg[9] muss genutzt werden, um BSW und AFD in die Defensive zu drängen; nicht andersrum. BSW und Linke haben in der Vergangenheit immer wieder US-General Mark A. Milley zitiert, weil dieser im Jahr 2022 auf unabwendbare und notwendige Verhandlungen verwies, wenn die Kriegsparteien keine Siegchancen mehr sehen. Mit dieser Binsenweisheit gehen die Demagogen in die Propaganda für den Waffenstillstand und verunglimpfen alle und alles, was der Ukraine Möglichkeiten eröffnet, die Position zu verbessern. Putin sieht Siegchancen und will deshalb nicht verhandeln; für die Ukraine wird die militärische Unterstützung notwendig bleiben, wenn nicht 1/5 des Territoriums an Russland verloren gehen soll. Die Grünen sollten gegen BSW und AFD aggressiver vorgehen und eine führende Rolle sichtbar machen. Olaf Scholz hat die Zeitenwende nicht verinnerlicht, er hat die Wähler getäuscht, in dem er glauben machte, dass mit einem Doppelwumms die Krise beseitigt werden kann. Integration, Energiewende und Verteidigung werden die Volkswirtschaft zulasten des privaten Konsums verändern, um mittel- bis langfristigen Schaden zu vermeiden. Der vielgepriesene Wohlstand würde mit Russlands Sieg strukturell in die Knie gehen. Das muss endlich vermittelt werden. Die Grünen sind momentan die einzige Partei, die verstanden hat, dass die Probleme von Wettbewerbsfähigkeit, Klima und Verteidigung nur in einem starken Europa gelöst werden können. Das ist so ziemlich das Gegenteil von AFD und BSW, die sich restaurativ nach der Adenauer-Ära sehnen und hoffen, auch zukünftig die Landesverteidigung durch Appeasement mit Russland und nationalistischer Abschottung ersetzen zu können. Die anderen Parteien träumen teilweise noch von der US-amerikanischen Schutzmacht. Beides wird nicht funktionieren. Europa muss aus der Kleinstaatlichkeit heraustreten und eine echte eigenständige Macht werden. Die Grünen sind dem am nächsten. Das gilt auch ausdrücklich für Robert Habeck und Annalena Baerbock, die aktuell leider zerrieben werden. Die Wahlergebnisse sind ein Rückschlag, der in schonungslose Selbstkritik übergehen muss. Ach ja: Und die Ampel sollte schnellstens einpacken.
Eine kleine Anmerkung zum rechten Utopia: Die Wahlen in Polen und Ungarn haben gezeigt, dass auch die rechten Parteien keinen Durchmarsch realisieren können. Die rechten Bäume wachsen nicht in den Himmel: Die Fidesz-Partei Viktor Orbans verlor 2 von 13 Sitzen im EU-Parlament und die neue Oppositionspartei „Respekt und Freiheit“ (Tisza) erreichte aus dem Stand fast 30 % der Stimmen. Die polnische liberal-konservative Tusk-Partei konnte die nationalkonservative PiS-Partei in Schach halten, auch wenn der Abstand geringer wurde. Es gibt genug freiheitsliebende Menschen in Europa. Wir müssen uns nur um sie kümmern.
[1] Die SPD hat nach der niederschmetternden Wahl 2019 nochmals verloren und sieht sich inzwischen bei einem Sockel von 14 %. Die Grünen haben das Niveau der festen Fanbase nochmals gesenkt und damit den Eklat der Bundestagswahl 2021 wiederholt. Es ist ein Sinkflug mit echter Substanzgefahr.
Christoph Cöln 2024: Wie in der Kita. https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/ id_100427000/ spd-stuerzt-ab-hinter-den-kulissen-soll-es-richtig-krachen.html. 19.06.2024
[2] Habeck votiert für die Aussetzung des Lieferkettengesetzes, um Europas Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Menschenrechte werden hintangestellt. Ernesto Klengel 2024: „DER HABECK-VORSCHLAG IST AUCH AUS JURISTISCHEN GRÜNDEN UNAUSGEREIFT“. https://www.boeckler.de/de/interviews-17944-aussetzen-lieferkettengesetz-juristisch-unausgereift-61285.htm. 19.06.2024
[3] Kristina Hoffmann 2024: Habeck: Menschen sind keine Laborratten. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/habeck-republica-heizungsgesetz-versuchskaninchen-100.html. 19.06.2024
[4] Steven Geyer, Alisha Mendgen, Markus Decker und Kristina Dunz 2024: Schwarz gegen Grün: Wie die Hessen-CDU auch die Ampel in Berlin erschüttert. https://www.rnd.de/politik/hessen-cdu-schmeisst-gruene-aus-regierung-friedrich-merz-kann-sich-freuen-FDW7VCRIKJCNVOJOLF46B67DNU.html. 19.06.2024
[5] Isabel Schayani, WDR und Mareike Wilms, WDR 2024: Wie es um die Migration nach Deutschland steht. https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/migration-asyl-grenzontrollen-kommunen-100.html. 06.06.2024
[6] Clara Bauer-Babef 2024: EU-Wahl: Die französischen Grünen verlieren an Boden. EU-Wahl: Die französischen Grünen verlieren an Boden. 19.06.2024
[7] Olaf Edenhofer 2024, S.7: Schön kompliziert. Die Zeit Nr. 26, 13.06.2024
[8] Auch Joschka Fischers Einschätzung der Weltlage „Die Welt ist gnadenlos“ sollte den Grünen und nicht nur denen zu denken geben. TAZ 2024. https://taz.de/Weiterdenken-mit-Joschka-Fischer/!vn6017440/. 19.06.2024
[9] Die Umfragen zeigen, dass die Ukraine-Hilfe von deutschen Bürgern überwiegend unterstützt wird. 65 % unterstützen die Hilfen, 24 % davon wünschen sich mehr Engagement der Regierung. N-TV 2024: AfD- und BSW-Anhänger wollen Ukraine nicht helfen. https://www.n-tv.de/politik/Umfrage-Mehrheit-haelt-Hilfe-fuer-Ukraine-fuer-genau-richtig-oder-zu-gering-article25006285.html. 19.06.2024
Moin zusammen,
ja Thomas die Lage ist verfahren. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bei den Eurowahlen 2019 und 2024 liefern ein Schlaglicht auf das, was unser eigentliches Problem ist. Hatten wir 2019 noch eine Dominanz der Klimabewegung über FFF und all den „woken“ Diskussionsthemen von gendergerechter Sprache, toxischer Männlichkeit und LGBTQ-Rechten und Ähnlichem, hat sich das gesellschaftliche Klima in den letzten 5 Jahren extrem gedreht. Was könnte dafür die Ursache sein? Neben den auch von Thomas angeführten Gründen, wie Pandemie, Migrationskrise und Kriegsgefahr, greifen hier übergeordnete Mechanismen. Die gesellschaftliche Realität ist für viele Menschen zunehmend von Bindungslosigkeit,Vereinzelung und Unübersichtlichkeit geprägt. Ökonomische Realitäten sind immer weniger „vor Ort“ erkennbar. „Globalisierung“ und „Brüsseler Bürokratie“ erscheinen als finstere Zentren der Eliten, die sich bemühen, die Menschen Ihrer angestammten Lebenssphäre zu enteignen. Die Vereinzelung vieler Menschen in der Gesellschaft nimmt statistisch (z.B. Hamburg 2022 55% Singlehaushalte), als auch psychologisch immer krassere Formen an. Einsamkeit ist in urbanen Zentren, wie auch in anderen Formen in ländlichen Gebieten, zu einem definitiven Problem geworden. Auf dem Land kommt hinzu, dass sich ganze Landstriche von Wohlstand und gesellschaftlichen Angeboten ausgegrenzt fühlen. In den ländlichen Gebieten sind fehlende akzeptable Angebote von Öffentlichen Personennahverkehr, fehlende Hausarztversorgung, mangelnde Kulturangebote, Verschwinden von Kaufmannsläden und Supermärkten alles andere als eine Randerscheinung. Es ist weitgehend die Regel. Insgesamt stellt sich auch hier ein Eindruck her, in dem die Eliten sich in ihren städtischen Zentren ein lustiges Leben machen und die auf dem Land Lebenden abgehängt sind. Dies auch ganz unabhängig davon, dass in den Zentren Vereinzelung und Einsamkeit teils dramatisch zunehmen (siehe Singlehaushalte). Diese Tendenzen führen, hier wie dort, zu sehr regressiven kulturellen Haltungen. Sie sind die Grundlage auf der sich die Paradigmenwechsel vollziehen und sich politische Haltungen stabilisieren, die sich auf Fremdenfeindlichkeit, Verschwörungsmythen und aggressiver Ablehnung emanzipatorischer Haltungen stützen.
Hierbei ist es natürlich brandbeschleunigend, dass sich heute jeder für jeden Schwachsinn eine geeignete Blase im Bereich der „sozialen“ Medien suchen kann und dann nur noch selbstreferenzielles Zeugs im „Blasenfunk“ angeboten bekommt. Wenn diese Art von Scheinkontakt, der einzige oder wesentliche Kontakt ist, werden gesellschaftliche Debatten sehr schwierig und politische Einflussnahme durch politisch obskure Veranstaltungen werden zur Alltagsbeschäftigung. Die MAGA-Bewegung vor der ersten (hoffentlich auch letzten) Wahl Trumps 2016 funktionierte schon genau deshalb. Wenn Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit nicht mehr die Referenz ist, wird jede Debatte schwierig und irgendwie kann jeder behaupten, was er oder sie will. Die mehrheitliche Einsicht, dass eins plus eins drei sei, wird dann zur Frage der Reichweite.
Auf dieser Grundlage vollzogen sich dann die Entwicklungen rund um die großen Probleme die Thomas genannt hat. Die Pandemie zerstörte die Sicherheit vor Seuchen geschützt zu sein in den entwickelten Industriestaaten. Gleichzeitig verstärkten staatliche Überreaktionen Anti-Establishmenthaltungen und förderten Mythenbildung. Der russische Überfall auf die Ukraine zerstörte die Sicherheit in Europa in gesichert friedlichen Verhältnissen zu leben. Gleichzeitig loderte Angst vor einer Neuauflage menschenfressenden Imperialismus (Putin) und Ängste vor einer atomaren Auseinandersetzung (auch Putin) auf. Statt dem Aggressor die Grenzen aufzuzeigen, sind viele Menschen auf der Suche nach irgendwelchen Kompromissen, die aber in dem Fall genau so wenig funktionieren können, wie sie 1938 im Münchener Abkommen gegenüber Hitler funktioniert hatten. Mal ganz davon abgesehen, was dies für die Ukraine und ihre Menschen bedeuten würde.
Der dritte Punkt ist der Abstiegsmythos bezüglich Deutschland als Wirtschaftsmacht. Die damit verbundenen Deklassierungsängste der Menschen bezüglich ihrer eigenen Situation befeuern jedwede regressive Verhaltensänderung. Viele „Weissagungen“ über den wirtschaftlichen deutschen Abstieg werden aus nachvollziehbaren Eigeninteressen derer gespeist, die sich von „Lohndisziplin“, Abnahme der Regulierungsdichte und Schleifung von Umweltauflagen eigene wirtschaftliche Vorteile versprechen . In der Bevölkerung verstärkt dies aber den Furor gegen alle Regulierer und Verbieter und speziell die Hasstiraden gegen über den Grünen als Partei.
Der letzte Bereich ist die Migrationsfrage. Tatsächlich ist es doch so, dass Deutschland ohne Zuwanderung bereits seit Längerem völlig am Arsch wäre. Seit Jahren beenden ca. 400.000 Menschen mehr ihr Arbeitsleben, als junge Leute in dieses eintreten. Der heutige Arbeits- und Fachkräftemangel wird durch die positive Zuwanderungsbilanz gemildert und nicht befördert. Eine zukünftige, auch nur Status-Quo-sichernde Entwicklung der Rentenversicherung, ist ohne massive Zuwanderung überhaupt nicht möglich. Schon heute zahlt der deutsche Staat – direkt und indirekt – ca. 120 Milliarden € jährlich zur Stützung der Rentenversicherung. Es ist eine absolutes Gebot der Vernunft die deutsche Bevölkerung auf eine ständige Zuwanderung vorzubereiten oder Abschied vom Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und vom Rentensystem des Generationenvertrages zu nehmen. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sieht allerdings potenzielle Zuwanderer hauptsächlich als Konkurrenten um Arbeitsplätze oder sowieso kaum noch bezahlbare Wohnungen. Gleichzeitig sind die Kommunen am Ende ihrer Aufnahmefähigkeit für Flüchtlinge angelangt. Die diffuse Angst vor Fremden schafft sich hierüber auch Raum und führt, auch immer wieder getriggert durch Verbrechen von durchgedrehte Flüchtlingen, zu einer guten Bühne für rechtsradikale Volkstumserzählungen. Dass die Migration reguliert werden muss bleibt dabei unbenommen.
Die Grünen haben es aus den genannten Rahmenbedingungen aktuell sehr schwer politisch überhaupt noch vorzukommen. Schon die Talkshowfrequenz grüner Politiker gibt beredt Auskunft über deren offensichtlichen Bedeutungsverlust. Aus dieser Position herauszukommen ist – nach meiner Überzeugung – in der Ampel nicht möglich. Mit einer von Untergangsängsten beherrschten Kleinspartei (FDP) und einer inhaltlich entleerten und widersprüchlichen Kanzlerpartei (SPD) lässt sich schwer eine Koalition bilden, wenn wir auch die psychologische Lage (s.o.) mit einbeziehen. Zumal der Kanzler ein ausgewiesener Politiksimulant ist, dem jedes Talent zur Debatte mit dem eigenen Wahlvolk abgeht.
Die Grünen sind absolut notwendig, um mit anderen der zunehmenden Hegemonie reaktionärer Politikvorstellungen entgegenzutreten. Aber dies kann ihnen nicht gelingen, wenn sie sich zunehmend selbst vertuschen oder wie Kretschmann stolz darauf sind, dass viele gar nicht mehr wissen, dass er immer noch ein Grüner ist. Die Grünen müssen eine linksliberale ökologische Partei sein und bleiben, auch wenn dies aktuell viele Hasstiraden provoziert. Das ist ihr Markenkern und ihre Aufgabe als Funktionspartei im deutschen Parteiensystem. Jenseits davon haben sie keine Identität. Für die will allerdings gekämpft und gestritten werden. Aber nicht in der Ampel, sondern in der Gesellschaft.
Liebe Grüße Holger
Hi Holger, meine Zustimmung hast du im Part der Rentenverbesserung durch Arbeitsmigration, aber nicht bei ungesteuerten Fluchtbewegungen. Die Zuwanderung von Arbeitskräften ist für Deutschland wieder wichtig geworden, weil der Pillenknick ein abruptes Ausscheiden einer großen Kohorte aus dem Arbeitsleben erzeugt. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern ist aktuell 2:1 und war 1962 bei 6:1. Die Produktivitätssteigerung fängt den Gap des Pillenknicks nicht auf. Zuwanderung kann helfen die Lücke zu schließen. Der Effekt tritt aber nur ein, wenn es zu Einzahlungen der Migranten in das deutsche Sozialversicherungssystem kommt. Studien belegen diesen positiven Effekt gesteuerter Arbeitsmigrationen.
Flüchtlingsmigration ist aber von Arbeitsmigration zu unterscheiden, insbesondere aus dem Nicht-EU-Ausland mit anderen kulturellen Hintergründen wie Subsistenzwirtschaft. Ohne Integration über Sprache und Ausbildung wird der Effekt negativ. Experten beziffern den positiven Integrationseffekt wie folgt: Eine um ein Jahr schnellere Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt könnte Milliarden Euro durch Wegfall von Unterstützungen (13 Mrd. in 2022) sparen und zugleich die Einnahmen aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erhöhen. Ähnliche Daten liegen auch aus Italien vor.
Aktuell haben wir in Deutschland folgendes Bild: Nach fünf Jahren waren lediglich nur rund 50 Prozent der Geflüchteten im Arbeitsmarkt integriert. Der Wert von Einheimischen liegt bei 70 % und wird von der anderen Gruppe auch nach 15 Jahren nicht erreicht. Diese Kohorte wird sich im Alter nicht finanzieren können und die Sozialkassen per Saldo belasten. Rasche Integration ist die Zauberformel und kann nur durch vorhandene Kapazitäten erledigt werden. Das ist der Hauptaspekt einer kontrollierten Migration von Geflüchteten. Migration und Flucht sind nicht deckungsgleich und ohne erfolgreiche Integration wird das Rentensystem nicht nur nicht profitieren, sondern mehr belastet werden. Das Problem ist doppelt demografisch: Das Verhältnis von Beschäftigen zu Beziehern aus Sozialkassen und das Fehlen von Manpower für Integrationsleistungen.
Es ist auch nicht so, dass der Mangel an Arbeitsmigranten erst heute so extrem relevant ist. Wäre der Ruf nach türkischen „Gastarbeitern“ ab 1961 nicht auf Widerhall gestoßen, wäre Deutschland heute nicht die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Unser Wohlstand basiert auf Migranten. Es wäre kein Schiff vom Stapel gegangen ohne die türkischen Schweißer. Die aktuelle Brisanz ist allerdings offensichtlicher, denn nun wird klar, dass wir vor ausländischen Ärzten und Pflegepersonal stehen. Das Prinzip hat sich nicht geändert. Das Problem hat sich nur in die menschennahe Dienstleistung verschoben. Und da sind wir einfach sensibler. Der demografische Effekt angereichert mit sozialdemokratischen Vorruhestandsmodellen legt diese Struktur und Schwäche frei. Deutschland ist längst ein Einwanderungsland. Die Frage ist nur, wer einwandert und ob wir die Integration hinbekommen. In der Vergangenheit bereits lange vor dem Flüchtlingsstrom von 2015 hat es die Politik nicht verstanden, gezielt gemischte Wohnverhältnisse zu schaffen und Parallelgesellschaften zu verhindern. Das ist eine weiterer hausgemachter Effekt durch Versäumnisse.
Moin Thomas, die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Flüchtlingsmigration ist zwar einerseits irgendwie richtig, aber andererseits auch nur graduell sinnstiftend. Auch italienische, spanische, portugiesische und vor allem anatolische Arbeitsmigranten waren primär an der Verbesserung ihrer materiellen Lage interessiert, wozu ihnen das Folgen auf die deutschen Lockrufe diente. Sie interessierten sich wenig bis garnicht, für Deutschland und in großen Teilen – zumindest für die ursprünglich anatolische Community – ist dies auch in Teilen nach Generationen noch der Fall. Die Motive unterscheiden sich also nicht so eklatant von denen heutiger Flüchtlingsmigranten. Was einen Unterschied ausmacht, ist zum Einen der politisch-soziale Migrantionsdruck in Afghanistan, Syrien und großen Teilen Afrikas und zum Anderen die Integrationsvoraussetzungen des deutschen Arbeitsmarktes. Die Bauern der anatolischen Regionen der Anfang 60er Jahre gehörten auch noch sehr stark subsistenzwirtschaftlichen Strukturen an und wollten diesem Elend entfliehen und entschlossen sich (zuerst einmal nur die Männer) zur zeitlich begrenzten Arbeitsmigration nach Westeuropa. Erst später ergaben sich Wünsche und Möglichkeiten für Familiennachzug.
In heutigen Flüchtlingsstrukturen gibt es ähnliche Abläufe. Oft werden junge Männer losgeschickt, in der Hoffnung ihnen danach folgen zu können. Das Motiv ist aber nicht nur der Wunsch unsicheren und oft elenden wirtschaftlichen Verhältnissen zu entfliehen, sondern der große Migrationsdruck wird zum guten Teil durch die regionalen Verhältnisse und die damit einhergehende Barbarisierung der Lebenswelten der Flüchtenden hervorgerufen. Assad/Putin, die Taliban, sudanesiche „Bürger“kriegsparteien und was der Blutsäufer und Warlords mehr ist, erzeugen weltweit einen enormen Migrationsdruck, dessen Ziele nur zum ganz geringen Teil in Westeuropa liegen (nach aktuellen Angaben des UNHCR sind es 120.000.000 Flüchtlinge weltweit). Vielleicht sollten wir bei der Zahl von 103.000 Asylerstanträgen in Deutschland zwischen 01.01. und 31.05.2024 die Aufregungsdusche mal auf kleineren Strahl stellen und uns nicht immer von den aktuellen Meinungskonjunkturen treiben lassen.
Natürlich ist die Integration dieser Menschen nicht einfach, zumal sich die Produktionssphäre in Deutschland (seit der Ankunft der anatolischen Bauern in den 60er Jahren) durchgreifend verändert hat. Waren damals un- und angelernte Arbeitsverhältnisse noch fast die Regel, haben wir heute sehr anspruchsvolle Facharbeiterkerne mit wenigen geringqualifizierten Kräften im Umfeld. Der Dienstleistungsbereich hingegen ist enorm gewachsen, wobei vor allem personennahe Dienstleistungen eine sehr große Rolle spielen. Alle diese Bereiche sind anspruchsvoll und setzen meist zumindest Sprachkompetenz voraus. Die arbeitsmarktliche Integration ist für diese Gruppen halt steinig. Thomas du kritisiertest, dass nach 5 Jahren nur 50 % der Flüchtlinge, im Arbeitsprozeß angekommen sind, im Verhältnis zu 70% der gesamtgesellschaftlichen Kontrollgruppe. Da bei den einheimischen 70 % sicher auch besser Gebildete und Qualifizierte Bestandteil sind frage ich mich ernsthaft: Was findest du an diesem Befund jetzt so überraschend und beunruhigend ? Wie du weist, habe ich mich einige Jahrzehnte mit der Arbeitsmartktintegration bildungsbenachteiligter Gruppen – speziell in Steilshoop – beschäftigt. Mittelfristige Integrationsquoten von 50 % (bei „ungelogen“, was in der Branche nicht unbedingt die Regel war), waren bei den meisten unserer Versuche ein durchaus guter Wert. Nicht, dass mit den Flüchtlingen diese Quote nicht vielleicht noch deutlich zu steigern ist, aber die Vorstellung der Beendigung der „ungesteuerten“ Zuwanderung durch mehr „Steuerung“ hat aus deutscher Sicht einige Probleme.
Wenn ich mal voraussetze, dass „Steuerung“ meint, sich die arbeitsmarktlich besseren „Risiken“ aus dem Pool der weltweit Migrationswilligen herauszufiltern und die anderen möglichst abzuschrecken, dann hat Deutschland einen massiven Nachteil gegenüber einigen Konkurrenten. In Deutschland spricht man deutsch und nicht englisch oder vielleicht zumindest noch französisch oder spanisch. Die Zielländer der Aspiranten gesteuerter Migration sind fast alles englischsprachige Länder. Die USA vor Großbritannien, Australien, Kanada und Neuseeland führen im Ranking. Selbst Irland steht vor Deutschland. Jeder der gesuchten Arbeitsmigranten kann zumindest ein wenig Englisch. Oft sehr viel mehr. Deshalb ist die deutsche Suche mit allen möglichen Anwerbeinitiativen auch von so absolut „übersichtlichen Erfolgen“ geprägt. Wer möchte schon deutsch (schwer, schwer) lernen, wenn er/sie schon englisch, französich oder spanisch kann ? Steuerung ist also schwierig und einiges spricht dafür, dass wir weitgehend mit den Menschen werden umgehen müssen, die zu uns kommen. Da wir ja gemeinsam von einem GAP (Lücke zwischen Neurentnern und in den Arbeitsmarkt Eintretenden) von jährlich ca. 400.000 Arbeitenden in Deutschland ausgehen, gibt es einen realen Bedarf von ca. 650.00 Menschen unter Einbeziehung von Kindern und kinderversorgenden Ehepartnern. Gehen wir mal davon aus (sehr optimistisch), dass vielleicht 150.000 Menschen über Anwerbungen in den Heimatländern zu rekrutieren wären, bleibt immer noch die Mehrheit anderweitig zu finden. Ich denke, es gäbe für die Grünen nur zwei Möglichkeiten sich dazu aufzustellen und dies möglichst in Kombination.
Erstens: Die Akzeptanz des EU-Asylkompromisses mit den Verfahren in Lagern an den Außengrenzen bei gleichzeitiger rigider Kontrolle der humanitären und juristischen Grundstandards.
Zweitens: Die zeitliche Begrenzung staatlicher Sozialtransfers (egal ob dies dann Grundsicherung oder Asylbewerberleistungsgesetz heißt) auf ein Jahr. für Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen muss es dann ein gesondertes Instrument geben.
Es mag sicher manchen wundern, warum ich gerade den zweiten Punkt vorschlage, aber ich bin davon überzeugt, dass die deutsche Grundsicherung bzw. das Asylbewerberleistungsrecht tatsächlich einen sogenannten Pull-Faktor darstellt. Nicht wenige Migranten werden deshalb Deutschland wählen (trotz Sprache), weil sie sich davon eine bessere Ausgangssituation versprechen. Die ist im Übrigen auch keinem Flüchtling vorzuwerfen, sondern entspricht rationalem Handeln.
Wichtig wäre für die Grünen darüber hinaus, eine klare Haltung einzunehmen bezüglich der Ablehnung aller Vorschläge die Flüchtlingsfrage in Drittländer „auszulagern“. Ob Albanien- oder Ruandalösung, es darf nicht gewackelt werden in der Ablehnung solcher Widerwärtigkeiten. Die EU muss ihre Probleme zuhaus selbst regeln. Punkt.
Eines liegt mir noch am Herzen. Von den 3,2 Mio. in Deutschland registrierten Flüchtlingen mit Schutzstatus stammen ca. 1 Million aus der Ukraine. Je nach Verlauf des Krieges ist diese Zahl nach oben offen. Es wird auch eine wesentliche Aufgabe der Grünen sein, diese Dinge vom weiteren Flüchtlingsgeschehen zu trennen. das heißt aber nicht das ich es nicht für möglich halte, auch für Ukraineflüchtlinge den Bürgergeldbezug zeitlich zu begrenzen, um damit Arbeitsmarktintegrationseffekte zu verbessern.
Allen ein schönes Wochenende und liebe Grüße Holger
Hi Holger, dann führen wir die Diskussion erst einmal in diesem Format weiter. Vielleicht sollten wir demnächst einen eigenen Beitrag dazu basteln, wenn die Diskussion um die EU-Wahl abflaut. Also sammeln wir Einsichten und Argumente. Im Großen und Ganzen kann ich deinen Vorschlägen folgen. Die Pull-Faktoren (irgendwie auch ein Scheißbegriff) zu ändern macht mehr Sinn als die Außengrenzen einzuzäunen.
Ich stimme dir auch zu, wenn es um den geringen Sinn einer Unterscheidung von Flucht und Migration geht. Mein Hinweis bezog sich auf die These, dass Migration durch Flucht das Rentenproblem lösen helfen könnte. Es wird nicht einmal im Verlauf einer Generation helfen. Ich kritisiere auch nicht, dass 50 % dieser neuen Bürger auch nach 5 Jahren noch nicht im Arbeitsmarkt integriert sind. 50 % geben im Übrigen einen Durchschnitt an, was heißt, dass es mal deutlich drunter oder drüber geht. Weder überrascht mich das, noch bin ich beunruhigt. Der Wert ist gar nicht mal so schlecht, aber er hilft der Sozialkasse und dem Rentensystem nicht. Damit lässt sich der Sinn eines Fluchtstroms nach Deutschland nicht begründen. Es schafft momentan mehr Probleme, auch wirtschaftliche. Es ist ein festgestellter Fakt, der auch nichts über die Verantwortung aussagt. Wahrscheinlich ist der größere Anteil institutionell herbeigeführt. Ich sehe darin das kardinale Problem: Die Zuwanderung dieser Art erzeugt gesellschaftliche Überforderung durch mehr Integrationsanstrengung bei weniger Ressourcen des Aufnahmestaats. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber das ist meine Kernthese.
Selbst jetzt, wo die „Abwehrmaßnahmen“ der EU etwas wirken, ist der kumulative Effekt problemsteigernd. Die Statistik des BAMF zeigt auch, dass nur ein recht geringer Teil der Flüchtenden einen Anspruch auf Asyl hat. Ein größerer Teil erhält subsidiären Schutz, weil eine Rückkehr aufgrund von drohenden Menschenrechtsverletzungen nicht zumutbar ist. Die Regionen in der Welt, wo das nicht droht, werden immer weniger. Das ist das „grüne“ Dilemma, denn eigentlich steht allen Hilfe zu.
In diesem Kontext ist auch der Zahlenstrahl (130 Tsd. Asylsuchende in D zu 120 Mio. Flüchtende weltweit) nicht von Belang. Die Aufregung liegt bei den umsetzenden Akteuren in den Kommunen und ich kann das nachvollziehen. Von den 130 Tsd. Asylanträgen bis 05/2024 waren knapp 48 % aus Syrien und Afghanistan. Andere Herkunftsregionen sind andere Nahoststaaten, Afrika und Lateinamerika. Es sind also durch überwiegend wirtschaftliche Ursachen und natürlich ist das Verhalten rational und nicht zu verurteilen. Besonders nicht, wenn die Ursachen in der Verantwortung des Globalen Nordens liegen. Das ändert das gesellschaftliche Problem dennoch nicht.
Ein Vergleich zu anatolischen Migranten ist auch kaum zu ziehen, da die angeworbene Klientel quasi mit Arbeitsvertrag ausgestattet war und in der Regel diese Familienväter älter waren als viele der aktuellen männlichen Fluchtmigranten außerhalb des Kindesalters. Es gab kein reguläres Bleiberecht auf Dauer. Das verändert die Motivationslage. Der Wegfall industrieller Arbeitsplätze hin zu Dienstleistungen mag auch ein Problem sein. Ich sehe das größere Problem im fehlenden Anreiz für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Kombination mit den hohen Lebenshaltungskosten, besonders der Mieten. Und da wären wir wieder bei den „Pull-Faktoren“. Die zu erwartenden Transferleistungen sind Gift für eine Arbeitsaufnahme für gering qualifizierte Migranten. Die Jobs sind weit weg von Subsistenzwirtschaft, weil sie fremdgesteuert und null erfüllend sind. Studien belegen, dass Migranten oft Arbeit annehmen und wieder aussteigen. Reinigungsbetriebe sind davon besonders betroffen. Etliche Kündigungen werden mit „lieber Bürgergeld“ begründet. Auch das ist rationales Verhalten, hat aber einen systemischen Fehler. Der Markt regelt es langsam, denn die Preise für Reinigung haben sich in den vergangenen Jahren fast verdoppelt. Der Mangel an Arbeitskräften ist geblieben. (https://www.fr.de/wirtschaft/buergergeld-fachkraefte-mangel-lohn-gebaeudereinigung-zr-92769365.html). Ich kann diese Beobachtung auch für den Sportverein, den ich leite, bestätigen.
Interessant ist auch eine Untersuchung von Bruckner (https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/faktenfuchs-gut-die-haelfte-der-gefluechteten-von-2015-arbeitet,TVqMU1G), der den Anreiz von Arbeitsaufnahme mit der Abschiebedrohung begründet: Afghanen hätten eine deutlich höhere Beschäftigungsquote gegenüber Syrern aufgrund der schlechteren Bleiberechtperspektive.
Ich habe Kontakt zu Syrern und Iranern, die seit 10 Jahren (und mehr) obgleich bester Gesundheit dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Sie haben sich mit Bleiberecht eingerichtet. Das Bleiberecht ist ein starker Anreiz, es mit der Arbeitsaufnahme nicht zu übereilen. Einer meiner Freunde hat eine Frau aus Lateinamerika vor einigen Jahren geheiratet und die Ausländerbehörde hat sich um das Ehe-Dokument nicht groß geschert, sondern der Latina klar gemacht, dass nur Arbeit in Verbindung mit Erlernung der deutschen Sprache ihren Aufenthalt sichert. Die Latina hatte binnen Tagen einen Job bei einer Kita selbstinitiativ angenommen und wurde einige Jahre später aufgrund eines Streits mit anderem Personal entlassen. Innerhalb einer Woche hatte sie wieder einen neuen Job durch Eigenantrieb, sogar zu besseren Bedingungen. Die Sprachkurse hat sie mit viel Engagement angenommen. Das war ein Push-Effekt.
Die sogenannten Pull-Faktoren sind nicht nur die deutsche Grundsicherung und das Asylbewerberleistungsrecht, sondern auch Rechtssicherheit und Freiheit. Ok, dass ist in der West-EU kein Alleinstellungsmerkmal, aber ein Vorteil, wenn bereits Netzwerke von Verwandten und Freunden bestehen. Communities sind ein großer Magnet für Migration. Vielleicht ist die Türkei auch deshalb an dritter Stelle der Asylsuchenden.
Mich beunruhigt die negative Bewegung Richtung noch mehr Überforderung. Dass es anders geht, hat die Integration der Flüchtenden aus dem Jugoslawienkrieg bewiesen. Die Integration verlief anfänglich schlechter als jetzt, aber der Zustrom ebbte ab und viele gingen auch zurück. Die Integration konnte dann bei weniger Druck „abgearbeitet“ werden.
Danke für den interessanten Diskurs
Thomas
Lieber Thomas, du hast recht! Leider sind die Grünen, obwohl in schlechter Verfassung, die einzigen auf dem Markt, die zumindest Veränderungsbereitschaft haben. Was mir dabei auch fehlt, ist die Haltuzng, sich nicht in die heute so attraktive Opferrolle drängen zu lassen. Hannah Arendt hat das mal für sich so ausgedrückt: Wenn du als Jude angegriffen wirst, musst du dich als Jude verteidigen. Für die Grünen heißt das: Wenn du als Grüner angegriffen wirst, weil du nicht fossile Heizungen für klimagerechter und dazu noch effektiver hälst, musst du dich als Grüner verteidigen und nicht in Sack und Asche verständnisvoll nicken.
Hi Uli,
das Arendt’sche Zitat passt wunderbar. Wir brauchen eine Streitkultur. Ich bin gestern abend fast vom Stuhl gefallen, als ich die Meldung las, dass Fritze Merz sein Herz für die Wärmepumpe entdeckt hat. Letztes Jahr hat er unentwegt Zweifel gesät. Es kann kein Zufall sein, dass nach erledigter Mission, SPD und besonders Grüne zu diskreditieren, plötzlich direkt nach der EU-Wahl diese Positionsänderung publik wird.