Ideologie plus Terror = Befreiung

Ideologie plus Terror = Befreiung

23. Dezember 2024 0 Von Uli Gierse

Der Terroranschlag auf die Menschen, die sich auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg vergnügen wollten, erfüllt mich mit Trauer und Wut. Und alle haben Recht, die Opfer müssen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Aber wie immer ist es der Täter, da eine solche monströse Tat nach Erklärungen sucht. Der Terrorist hat sein Ziel erreicht, die deutsche Gesellschaft bis ins Mark hinein zu treffen. Ein saudischer Arzt, der zum radikalen Islam-Kritiker geworden war und sich von deutschen Staatsorganen verfolgt fühlte. obwohl der deutsche Staat ihm Schutz vor saudischer Verfolgung bot. Ein Araber in Deutschland, der mit rechtsextremen Positionen (AfD und Musk) sympathisierte, obwohl er selbst zum Ziel einer Remigration werden sollte. Die ideologische Gemeinsamkeit wog offensichtlich höher. Für ihn wie auch für AfD oder Musk sind die EU und insbesondere Deutschland die Hauptförderer von islamischer Einwanderung. Das entspricht der AfD-Ideologie von „Umvolkung“, der Annahme es gäbe eine gesteuerte Unterwanderung Deutschlands mit dem Ziel der Islamisierung.

Wenn ein rechtsextremer Terroranschlag wie der des Norwegers Breivik passieren würde, dann entspräche das den Erwartungen der Öffentlichkeit. Aber ein rechtsextremer Araber in Deutschland, das passt nicht in die Logik, auch nicht dem Raster der Sicherheitsbehörden. Dabei liegt es ideologisch nahe, den Verursacher für die vorausgesehene Katastrophe selbst anzugreifen, die Deutschen an dem Ort, der den höchsten Aufschrei provoziert, einem Weihnachtsmarkt.

War es in deutschen Schulen der 1980er Jahre noch Standard, sich mit Ideologien und Ideologiekritik zu beschäftigen, ist das leider nach der Wende eingeschlafen. Ideologien funktionieren immer nach dem Schema, wenn 1+1 = 3 (also eine falsche Schlussfolgerung gezogen wird) ist, dann besteht höchste Gefahr und man muss unverzüglich handeln, um die Welt zu retten. Terroristische Anschläge werden so zu Befreiungsaktionen, zum Mittel eines höheren Zwecks.

Wie Ideologien funktionieren, hat Hannah Arendt in ihrem Buch „Totale Herrschaft“ analysiert. Hier eine kurze Zusammenfassung aus meinem Buch:

Die Ideologieverschworenheit

aus Ulrich Gierse: Vorbild Hannah Arendt. Aktive Politik gegen den Hass

Für Hannah Arendt haben alle politisch relevanten Ideologien ihren Ursprung im 19. Jahrhundert, dem Umbruch-Jahrhundert überhaupt. Ideologien behaupteten, den Schlüssel für die „Enträtselung der Menschheitsgeschichte“ in der Hand zu haben. Lösungen für reale Probleme wurden nicht pragmatisch in der realen Welt, sondern in abstrakten Zukunftsszenarien gesucht (Weltgeist, Kommunismus, Reinheit der Rassen). Nicht die Geschichtsphilosophien an sich sind dabei das Problem, sondern die angebliche Plausibilität, die von jeder Ideologie behauptet wird. Aus einer als sicher angenommenen Prämisse, die es in dieser Absolutheit real nie geben kann, (z.B. Geschichte ist der Kampf der Klassen gegeneinander oder Evolution ist der Krieg aller Rassen untereinander) wird mit einer Folgerichtigkeit, losgelöst von der Realität, alles Weitere abgeleitet, deduziert. „Geschichtsbesessenheit und Ideologieverschworenheit“[1] sind das unheilvolle Erbe, das uns auch heute dazu verführt, „ein ganz und gar freies Denken, das sich weder der Geschichte noch des logischen Zwanges als Krücken bedient“(ebenda), für oberflächlich, ohne Kontextualisierung oder für unverbindlich zu halten.

Totalitäre Ideologien wirken dagegen ernsthaft oder radikal, im Sinne von an die Wurzel (radix) gehen. Der Größenwahn besteht dabei darin, ganze Gesellschaften in ihrer Verschiedenheit gemäß einem vorgefassten Modell zuzurichten. Dieser Größenwahn macht für Arendt den ideologischen Kern auch jeder totalen Herrschaft aus. Die jeweilige Ideologie ist dabei austauschbar. Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es an sich, nicht das, was ist, zu erklären, sondern nur das was wird. Ideologisches Denken wird dadurch unabhängig von Erfahrungen. Es schafft eine eigene, „eigentliche“ Realität, die sich hinter den Alltagserfahrungen verbirgt und um die wahrzunehmen, benötigt man einen besonderen Zugang zur Wahrheit. Und diese Wahrheit wird den unwissenden Lehrlingen wie eine Einführung in Mysterien durch Schulungen gelehrt. Der Unterschied von weltfremden Spinnern oder Mystikern zu totalitären Ideologen ist jedoch, letztere tun das, was sie sagen. Sind sie erstmal an die Macht gekommen, verändern sie die Wirklichkeit im Sinne ihrer Ideologie.


[1] Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten. S.15