
Ulrich Gierse – Vorbild Hannah Arendt: Aktive Politik gegen den Hass – Kaufen!
Seit heute können Sie das Sachbuch des Jahres ,-) im Buchhandel erwerben. Als Appetitanreger hier das Vorwort und das Inhaltsverzeichnis.
ISBN: 97 83 754322826
Ulrich Gierse
Vorbild Hannah Arendt. Aktive Politik gegen den Hass.
Paperback, 198 S., 12,80 €
E-Book: 6,99 € (dauert noch 2 Wochen)
Abgehängt, einsam, von allen guten Geistern verlassen, Land gegen Stadt, das ist die Ausgangslage. Nazis wählen ist kein Tabu mehr weder in Frankreich noch in Deutschland. Der soziale Zusammenhalt bröckelt, es braucht neue Initiativen um Leute aus ihrer sozialen Isolierung rauszuholen und gleichzeitig ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen. Das ist alles nicht neu, sondern Hannah Arendt hat dazu schon vor mehr als 70 Jahren eine plausible Analyse vorgelegt. Nur leider ohne große Resonanz in der politischen Praxis.
Mein Buch ist der Versuch, Hannah Arendt ernst zu nehmen und daraus ein Handlungsmodell für heute zu entwickeln.
Das Buch ist ab sofort in allen Buchläden und bei allen Online-Buchhändlern zu haben.



Vorwort
In Alfred Hitchcocks Horror-Klassiker „Die Vögel“ beginnt der Überfall der Krähen auf die Kleinstadt Bodega Bay mit der Ankunft eines einzigen schwarzen Vogels. Niemand bemerkt ihn, niemand reagiert, denn es ist ja bloß ein einziger Vogel. Erst später, wenn der Himmel finster wird von den Krähenschwärmen und es Tote gibt, versteht man die Bedeutung der ersten Krähe.
Die ersten Hinweise auf eine drohende Katastrophe werden gern beiseitegeschoben, nicht ohne Grund ist die Hoffnung die schlimmste Plage aus der Büchse der Pandora. Menschen neigen offensichtlich stark dazu, sich vor allem nach Krisen schnell der Illusion von Harmonie hinzugeben. Nach dem Ersten Weltkrieg dachte man, das sei nun endgültig der letzte Krieg gewesen und die Demokratie habe weltweit gesiegt, stattdessen wurden die Demokratien durch Stalinismus und Faschismus in die nächste Katastrophe geführt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Franklin Roosevelt davon überzeugt, dass nun das Zeitalter „einer Weltorganisation“ aus „friedliebenden Nationen“ angebrochen sei, die eine „dauerhafte Struktur des Friedens“ zum Ziel hätte. Was kam war der erste globale Krieg, der sogenannte Kalte Krieg. Nach dem Zusammenbruch des
Sowjetimperiums 1990 prognostizierte der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, dass das, was wir heute erleben, vielleicht das Ende der Geschichte als solcher sei, er sah die Universalisierung der westlich-liberalen Demokratie als definitive Regierungsform des Menschen am Horizont.
Aktuell erleben wir das Ende der US-amerikanischen Vorherrschaft in der Welt, das Ergebnis ist eine globale Unordnung. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus erstarken, ein neuer islamischer Fundamentalismus erschüttert mit Terrorakten die Welt. Selbst in Europa sind die Nachkriegszeiten, in denen die nationalen Grenzen als sicher galten, mit dem Überfall auf die Ukraine durch die Russische Föderation vorbei. Nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 an über 1000 Zivilisten in Israel durch die islamistische Terrororganisation Hamas gab es nicht etwa eine weltweite Solidarisierung mit den Israelis, sondern einen Aufschwung von Antisemitismus. Die globale Linke zieht sich in das scheinabr überwundene Schneckenhaus der einfachen Wahrheiten zurück und damit erleben wir eine bisher für Unsinn gehaltene Nähe zwischen rechts- und linksextremen Positionen.
Besorgniserregend ist insbesondere, dass es den Menschen, die extrem wählen, gar nicht um konkrete Inhalte zu gehen scheint, sondern sie wollen eine Bestrafung des „Systems“, welches sie für ihre Probleme haftbar machen, insgesamt und eine Rückkehr zu einer als „normal“ empfundenen Vergangenheit. Das zeigen auch die Wahlergebnisse der AfD bei den Europa-Wahlen, insbesondere in den Bundesländern der ehemaligen DDR. Trotz einem unsinnigen Programm und wahrscheinlich korrupten Spitzenkandidaten gelang es der AfD ein Rekordergebnis einzufahren und gleichzeitig noch Stimmen an die CDU und das BSW abzugeben. Das wäre vor einem Jahr noch als Schock empfunden worden, aber offensichtlich gibt es einen Gewöhnungseffekt, man nimmt das Desaster achselzuckend hin. Genauso befremdlich ist die Nähe von AfD und auch BSW zum faschistoiden russischen Apparat und der faktischen Parteinahme für den neoimperialen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
„Bussiness as useal“ oder „Der Verbrenner ist mir wichtiger als die Zukunft meiner Kinder“ sind die Verdrängungsstrategien vor allem in der Mitte der Gesellschaft. Die aktuell notwendigen Veränderungen wegen der Erderhitzung werden als Zumutungen betrachtet, die angeblich Angriffe auf die Freiheit bedeuteten. Auch diese Ablehnung, Verantwortung zu übernehmen, ist Wasser auf den Mühlen der politischen Extremisten. Denn letztlich geht es allen extremistischen Bewegungen um Zerstörung. Zum einen ist der Rückzug ins Unpolitische immer schon die Basis für totalitäre Bewegungen gewesen und zum anderen sind Chaos und Zerstörung wesentliches Futter für Extremismus. Es geht um die Zerstörung von dem, was den Westen bzw. Deutschland heute ausmacht: Integration in die EU und die NATO, militärische Unterstützung gegen die gewaltsame Veränderung von Grenzen in Europa, Toleranz gegenüber sexuellen Orientierungen und nicht zuletzt der Anspruch die Menschenrechte wie sie in der UN-Charta oder im Grundgesetz festgeschrieben sind, zu erfüllen, was vor allem der Beschränkung von Migration Grenzen setzt.
Doch auch nach den Wahlen zum Europaparlament gibt es noch keinen Grund, in Panik auszubrechen, wir sind noch weit von totalitären Verhältnissen entfernt, aber autoritäre, reaktionäre und auch faschistische Perspektiven sind durchaus auch kurzfristig in einzelnen Ländern denkbar.[1]
Den Demokrat*innen weltweit bleibt noch Zeit, die Bedrohungen abzuwehren. Aber es ist so ähnlich wie bei der Klimakrise, wenn man nicht rechtzeitig anfängt, ist es vielleicht zu spät. Bei der Klimakrise ist die Ursache seit fast 50 Jahren bekannt, die CO²-Emissionen müssen runter, darüber ist man sich politisch wie wissenschaftlich inzwischen einig. Bei der Analyse des totalitären Extremismus ist man noch nicht soweit. Weder journalistisch, wissenschaftlich noch politisch gibt es einen vergleichbaren Konsens über die Diagnose und erst recht nicht über Gegenstrategien. Das ist die Ausgangsposition, die mir zumindest Sorgen macht.
Die Fragestellung lautet also, was droht uns und gibt es Hebel zur Vermeidung einer weiteren politischen Katastrophe? Oder zugespitzt gefragt: was ist das CO² der Krise der Demokratien?
Hass scheint der neue Zeitgeist zu sein: Hass auf Einwanderer, Judenhass, Hass auf Grüne, Hass auf Polizisten, Hass auf Rettungskräfte, Hass auf jeden, der anderer Meinung ist. Hass zersetzt den Gemeinsinn und isoliert die Menschen unter- und voneinander. Die neuen Smartphone- Medien machen das Opfersein zu einem marktgängigen Mittel, Geld zu verdienen. Die Posts, welche am wütendsten , am polemischsten sind die von den Algorithmen der Social-Media-Plattformen bevorzugtesten. Und am besten ist es, wenn man sich selbst als verwundet zeigt. Wunden sind eine eindrucksvoll und daher beliebte Ware. Auch da zeigt sich, es geht gar nicht um Inhalte. Die PolitikerInnen, die die AfD inhaltlich stellen wollen, verkennen den Zerstörungswunsch und das Zerstörungspotential von extremistischen Haltungen. Inhalte sind dabei austauschbar, entscheidend ist die Opfer-Haltung.
Eine politische Strategie gegen den Hass müsste meiner Meinung nach folgendes leisten: Sich mit Rassismus und Antisemitismus als Trigger von politischen Affekte auseinandersetzen; den Zivilisations- und Traditionsbruch des Nazi-Regime[2] im Bewusstsein präsent halten und darüber nachdenken, welche strukturellen Veränderungen zur Stärkung der Resilienz gegen extremistische Ideologien, gerade auch in Krisenzeiten, möglich und erfolgversprechend sind.
Und da kommt Hannah Arendt ins Spiel. Ihre Antwort auf die Frage, wie lässt sich eine Wiederholung von totalitärer Herrschaft verhindern, ist das Produkt eines lebenslangen Nachdenkens über totalitäre Herrschaft und der Verhinderung einer Wiederholung.
Ein heute wenig beachtetes Element für die Herausbildung dieser neuen Herrschaftsform ist für Hannah Arendt die Verlassenheit (engl. loneliness) des modernen Menschen. Arendt bemüht zur Erklärung ein Lutherzitat, „daß es nicht gut sei für den Menschen, allein zu sein. Luther sagt dort: »Ein solcher (nämlich ein einsamer) Mensch folgert immer eins aus dem anderen und denkt alles zum ärgsten.« (EU 1004)[3] Etwas später heißt es dann: „Die »Radikalität« totalitärer Ideologien ist nur der Extremismus des Ärgsten und hat mit echter Radikalität gar nichts zu tun.“[4] Im Gegenteil führt diese Art zu denken, alles aufs Ärgste zu denken, immer zu Verschwörungstheorie, dem Salz in der trüben Suppe jeder Ideologie.

Neben dem Massenphänomen, sich verlassen, abgehängt, verwundet zu fühlen und der darauf aufsetzenden Bereitschaft sich einer Weltanschauung anzuschließen, die das, was ist, negiert, führt Arendt als das wichtiges Alarmzeichen für die Bedrohung der liberalen Demokratie an, wenn Menschen meinen, der Sinn von Politik sei, sie nicht weiter zu belästigen und dass Politik geräuschlos hinter den Kulissen abzulaufen habe. Das sei fatal, denn wenn Menschen apolitisch werden, werden sie weltlos und werden ebenfalls offen dafür, in Freund- Feind-Schemata zu denken und Hass und Zerstörungsphantasien als Lösung anzunehmen. Hannah Arendt nennt Zeiten, in denen Menschen sich Ruhe von der Politik wünschen, deshalb finstere Zeiten.
Wenn Hannah Arendt recht hat, ist der Dreiklang von ideologischem Denken, Entpolitisierung und „Verlassenheit“ die Mischung von giftigen Molekülen, die die liberalen Demokratien in ihrer Existenz gefährden.
Das Molekül-Cocktail CO² in der Erdatmosphäre, das durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe entsteht, muss, will man die Klimakrise stoppen, praktisch auf null Emissionen gesenkt werden. Analog müssten also gesellschaftlich soziale Strukturen entwickelt werden, die Menschen neuen Halt geben, politische Debatten befördern und das Gefühl der Verlassenheit reduzieren.
Hannah Arendts schlägt eine Re-Politisierung vor, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen soll. Zum einen wird ein neuer soziale Zusammenhalt Verlassenheit nachhaltig vermindern können, zum anderen liegt ein individueller Gewinn in einer Demokratisierung in einem Zuwachs von Selbstgewissheit. Jede/r Bürger/in Könnte seine/ ihre eigene Sicht auf die Welt mit den Sichtweisen der anderen abgleichen und die eigene Weltsicht schärfen. Denn nur im miteinander und gegeneinander Sprechen gewinnen Menschen eine Sicht auf die Wirklichkeit und können sich dann auf gemeinsames Handeln verständigen.
Das Miteinander-Reden ist auch der Punkt, der aktuell besonders wichtig wird, denn auch wenn wir aktuell die ideologisch in der medialen Blase der AfD gefangenen Menschen nicht mehr medial erreichen können, müssen wir prioritär die Menschen erreichen, die auf dem Absprung sind oder noch im Stadium des Unpolitisch-Sein verharren. Diese Menschen können aber die etablierten Parteien und politischen Eliten kaum noch erreichen, denn diese Menschen fühlen sich von der traditionellen Politik im Stich gelassen, sie sind, wenn überhaupt nur noch von Nachbarn, Kolleg*innen und Freund*innen oder im Sinne Arendts durch die lokale Bürgerschaft erreichbar.
Grundlage dieser Thesen sind eine komplexe, tiefsinnige Analyse totaler Herrschaft und die Expertise, ein ganzes Leben darüber nachgedacht zu haben, was sich in der Politikvorstellung selbst ändern muss, damit eine Wiederholung dessen, was nie hätte geschehen dürfen, verhindert werden kann. Das Denkprojekt lautet also folgendermaßen: Mal angenommen, Hannah Arendt hätte Recht? Was müssten wir dann tun?
Getreu dem Motto: „The proof of the pudding is in the eating.“, gilt es also erstmal das Arendtsche Rezept neu zu studieren, um dann ein gutes Gericht zu zaubern. Das wird nicht ganz einfach, denn Hannah Arendt fordert als Antwort auf das, „Was nie hätte geschehen dürfen“[5] einen Bruch mit dem traditionellen (gerade auch philosophischen) Denkens über Politik, Macht und Herrschaft und eine Neuformulierung von Freiheit, politischem Handeln und politischer Öffentlichkeit. Hannah Arendt bringt, und das ist ihre Einzigartigkeit, in einmaliger Weise Analyse und persönliche Erfahrungen zusammen. Ihren politischen Scharfsinn, die Courage, auch unangenehme Wahrheiten auszusprechen und ihre
geistesgeschichtliche Expertise verknüpft sie mit ihren Erfahrungen als verfolgte deutsche Jüdin, staatenlose Flüchtende, zionistische Aktivistin und antizionistische Kritikerin, Deutsche und Amerikanerin, und nicht zuletzt als jemand, der Freundschaft nicht nur proklamierte, sondern lebte. Ihr Verleger William Jovanovich drückte das sehr bewegend auf ihrer Trauerfeier so aus: „Durch Hannah schäme ich mich weniger, ein Mensch zu sein. Das ist ihr Geschenk.“[6]
Die politische Analyse der „totalen Herrschaft“ bildet auch für mich die Denkbasis, von dem sich alle andere Arbeiten Arendts erschließen. Denn für Arendt ist es nicht die Frage, ob Politik oder Wissenschaft rechts oder links sind, sondern nach dem furchtbaren Zivilisationsbruch des millionenfachen Mords müsse jede/r letztlich die Frage: „Wird es zu totalitärer Herrschaft führen oder nicht?“[7], beantworten.
Daraus ist ein Text entstanden, der drei Teile hat. Im ersten Teil geht es darum das, was Hannah Arendt unter „totalitäre Herrschaft“ als neues Herrschaftssystem versteht, anschaulich herauszuarbeiten. Vier Säulen des Hasses sind dabei zu unterscheiden: Totalitäre Herrschaft, Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus. Den rote Faden bildet Hannah Arendts Grundannahme, dass „Verlassenheit“ als Abfallprodukt der Moderne ein notwendiges Element für die totalitäre Zerstörung jeder Spontaneität, Individualität und Freiheit ist. Im zweiten Teil wird die politische Gegenstrategie Hannah
Arendts gegen vortotalitäre Strukturen vorgestellt. Ihre Revitalisierung des Politischen schließt auch ein, das Problem der Verlassenheit und der unpolitischen Weltlosigkeit, durch ein aktives In-der-Welt-zuhause-Sein zu ersetzen. Hannah Arendt macht den sozialen Status zum Ausgangspunkt ihres Nachdenkens über Alternativen. Menschen die ihre Wirklichkeit selbst in die Hand nehmen können, wären nicht länger im Status des Verlassenseins, sondern sozial eingebunden, gerade durch das aktive politisch Leben (Vita activa).
Im dritten Teil habe ich meine Schlussfolgerungen für eine neue politische Kultur formuliert. Aktive Politik gegen den Hass heißt Menschen zu ermächtigen über ihre Angelegenheiten selbst entscheiden zu können.
Der Blick in die Zukunft kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn die Vergangenheit immer auch präsent bleibt. Und da spielt die offensichtlich nicht mehr erfolgreiche Tabuisierung, auf keinen Fall mehr Faschisten zu wählen eine wichtige Rolle. Die Europawahlen hatten in Deutschland ein signifikantes Ergebnis in Bezug auf AfD-Stimmanteile in Altersgruppen. Der AfD-Anteil bei den 16 bis 69-jährigen schwankt zwischen 16 bis 21 Prozent. Dass es bei 16 % bliebt ist der Altersgruppe der über 70-jährigen zu verdanken. Hier kommt die AfD nur auf 8 Prozent. Offensichtlich ist die Generation derjenigen, deren Eltern noch in das Nazi-Regime verstrickt waren gegen die Versuchung einer Wiederholung resilienter. Das ist auch ein Generationswechsel, waren früher die Alten noch identisch mit den unverbesserlichen Alt-Nazis, sind heute die Generation der gegen ihre Nazi-Eltern rebellierenden Töchter und Söhne alt.
Hannah Arendt hat eine für heutige Ohren faszinierende Sprache. Ich kann nur empfehlen, sich das Gaus-Interview auf
Youtube anzuschauen. Zudem kann man den besonderen Sound Hannah Arendts im Materialienteil in zwei Texte, die sprachlich und inhaltlich die besondere Art Hannah Arendts redend zu schreiben zeigen, nachvollziehen.
Ich hoffe, dass es Ihnen dann zum Schluss so geht wie Kurt Sontheimer, der in seiner Biografie über Hannah Arendt euphorisch feststellt: Ihre Ideen sind „einem Leuchtturm vergleichbar, der Signale für das richtige politische Handeln aussendet: die Erinnerung daran, dass politisches Handeln Freiheit ist und Freiheit schafft, dass es unterschiedliche Menschen in einem öffentlichen Raum zusammenführt, wo sie zweckfrei und interessenunabhängig nach dem Gemeinwohl streben und spontan, dem Neuen gegenüber offen, agieren können.“[8]
[1] Das Vorwort wurde vor den Wahlen zur französischen Nationalversammlung geschrieben.
[2] Ich konzentriere mich auf die deutsche Geschichte, zur Geschichte totaler Herrschaft gehört aber auch der Stalinismus in der Sowjetunion. Beides sind letztlich rechte Ideologien, die sich gegen die Freiheit des Individuums richten.
[3] Arendt, Hannah (2023): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Neuedition, S. 1004, hier und im Folgenden mit der Sigle EU abgekürzt.
[4] Ebenda, S. 1006
[5] Arendts Standardformulierung für einen Zivilisationsbruch
[6] William Javanovich auf der Trauerfeier für Hannah Arendt, zitiert nach Thomas Meyer (2023), S.477
[7] zit. nach Young Brühl (2006), S. 39 „An insight into the nature of totalitarian rule, directed by our fear of the concentration camp, might serve to devaluate all outmoded political shadings from left to right, and, beside and above them, to introduce the most essential political criterion for judging the events of our time: will it leadto totalitarian rule or will it not.“
[8] Sontheimer (2005), S. 256
Gratuliere Uli, endlich ist es vollbracht. Es braucht schon cojones, um sich an so ein Brett zu wagen. Ich bin noch nicht ganz durch mit der Lektüre, aber „Denken ohne Geländer“ schon abgehakt. Mich erreichst du mit dem inspirierenden Text. Mir ist dazu eingefallen:
Das Fortschreiten der Geschichte nach metaphysischen Gesetzen oder marx’schen Fehlspekulationen hat für uns Ex-Helden der K-Gruppen eine besondere Bedeutung. Wir hatten uns ähnlich zur christlichen Lehre als Exekutoren einer Vorbestimmung gesehen und wurden nach dem Scheitern der Ideologie in das tosende Wasser komplexer Zusammenhänge ohne Antworten geworfen. Ich nehme mal an, dass auch Hannah Arendt, die schließlich mit einem Marxisten liiert war, ähnliche Brüche in ihrer Vita hatte. Entwicklung durch Auflösen von Antagonismen und vom Niederen zum Höheren – was hier und da auch bezweifelt werden kann – aus dem Hegel’schen Baukasten ist nicht das Problem, sondern die Konsequenz einer ideologischen Bestimmung. Der Kapitalismus zeigt uns, dass nicht politische Ausgestaltungen das alleinige Problem sind. Die Sache ist grundsätzlicher und lässt zumindest eine Assoziation zum Arendt’schen „Herstellen“ zu. Der industrielle Produktionsprozess ist überall ähnlich und entfremdend. Die Marx’sche Interpretation passt auch ganz gut.
Ob UdSSR, USA, China etc.: Alle Systeme brachten keinen Segen. Industrielle Produktion im Wettlauf der Ideologien war/ist das vereinende Credo. Ob in China, früher SU oder in Westeuropa: industrielle Arbeit ist extrem unfrei und wird es wohl auch bleiben. Es geht um das Minimieren und Verschieben von Lebenszeiten in den Bereich erfüllender Herstellung (kreatives Tun). Das wirft auch ökologische Fragen des Massenkonsums auf. Wer verbietet endlich mal Temu und Shein?
Die Entwicklung hin zu physischen Grenzen des Planeten sind heute eine größere Bedrohung für den industriellen Wahnsinn als Fragen zu Werten und Demokratie, obgleich miteinander korrelierend. Die demografische Rückentwicklung aufgrund von kindervermeidenden Fertilitätsraten könnte nach Arendt’schem Durchdenken Optionen offenlegen. Die Menschheit wird um das Jahr 2060 plus x schrumpfen. Was bedeutet das für das Zukunftsorakel? Weniger fossile Ressourcen bei weniger Menschen sind dann zumindest quantitativ keine Entwicklung zum Höheren. Die Technologie wird sich nicht zurückentwickeln, aber auf Schonung von Ressourcen ausgelegt sein müssen. Die Landwirtschaft wird ihrer Bedeutung nach womöglich mehr politisches Gewicht erhalten. Das aktuell starre Wachstumssystem der Weltwirtschaft mit unterschiedlichen Akteuren von internationalen Konzernen mit neoliberalem Vorschub und staatlich gelenkten Unternehmen aus dem BRICS-Bereich bestimmt die weltpolitische Agenda; und die Freiheit des Individuums als politisch Handelnden wird zunehmend institutionell ausgehöhlt, wenn überhaupt noch Energie für politisches Handeln verbleibt. Wir könnten Hannah Arendt gut gebrauchen, um das mal „durchzudenken“. Nun müssen wir es wohl selbst richten. Wie können Gesellschaften die Macht der profitierenden Eliten brechen? Die Frage ist so alt wie die Menschheit. Der freie Diskurs ist schon mal ein Fortschritt, aber der globale Abbau demokratische Rechte zeigt eine fatale Richtung.
Lieber Thomas, ganz herzlichen Dank für deine großartige Besprechung. Es freut mich von dir verstanden zu werden, denn du hast recht, das ist auch eine Revision alter Denktraditionen. Der Teil zur kapitalistischen Warenproduktion, auch als ein Element bei der Produktion von Verlassenheit, ist ein wenig kurz geraten, weil mir da deine Expertise fehlt. Entscheidend sind zwei Punkte: Zum einen welche sozialen Zusammenhange sollen die verlorene „Heimat“ der Klassengesellschaft ersetzen? Und wie, wenn überhaupt, ist ein demokratischer Aufbruch von unten als neuer sozialen Zusammenhalt denkbar? Erste Schritte dahin sind zum einen, anzuerkennen, dass die Wirklichkeit von niemanden objektiv allein erkennbar ist, sondern wir dazu möglichst viele verschiedene Sichtweisen brauchen. Zum anderen sollte klar sein, dass die populistische Vereinfachung von komplexen Zusammenhängen nur schadet und die öffentlichen Debatte zerstört. Und das ist nicht nur das Problem von rechtsextremer Ideologie, sondern auch von linker Simplifizierung in einfache Dichotomien wie bei der Theorie, Geschichte sei im Prinzip der Kampf der Klassen gegeneinander oder Kolonialismus sei die neue alles erklärende Kategorie. Was dabei herauskommt sieht man sehr gut in den Parolen zu Israel. Viel Spaß bei dem dritten Teil!