Wahlen in Ostdeutschland – Artisten in der Zirkuskoppel: ratlos [1]

Wahlen in Ostdeutschland – Artisten in der Zirkuskoppel: ratlos [1]

16. September 2024 0 Von Uli Gierse

Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen und vor der Wahl in Brandenburg[2] ist klar, die demokratische Zivilgesellschaft gerät vor allem auf dem Lande zunehmend unter Druck. Am Sonntag werden dazu sicher wieder die üblichen Verdächtigten durch die Talkshows getrieben: Migration, Ampel, Merz oder Söder… Wir sollten einen Moment innehalten und überlegen, was die wirklichen Ursachen sind. Dazu habe ich ein paar Gedanken beizusteuern. Das mache ich bewusst vor Brandenburg.

Es gibt zwei Hypothesen in der politischen Analyse: Die einen sehen in den Wahlergebnissen in den neuen Bundesländern „nur“ eine europäische Entwicklung, die jetzt auch in Deutschland angekommen sei. Und es gibt die Analysten, die spezifisch ostdeutsche Ursachen ansprechen, denn offensichtlich gibt es Unterschiede in der Akzeptanz für rechtsextremistische Parteien (AfD) und für populistische Parteien wie dem BSW in den alten und neuen Bundesländern. Grob kann man sagen, die Zustimmung ist in den neuen Bundesländern etwa doppelt so groß wie in den westdeutschen.

Ein wesentlicher Grund könnte in der Beobachtung liegen, auf die Eva und Jens Reich in ihrem Essay „Revolution ohne souveränen historischen Träger“[3] aufmerksam machen. Traditionelle soziale Klassen oder Schichten sind allgemein in Auflösung begriffen, in West und Ost, aber in der ehemaligen DDR und den anderen „sozialistischen“ Ländern wurde das Bürgertum bis auf einige bildungsbürgerliche oder kirchlich gebundene Restbestände fast vollständig eliminiert, und nicht nur die Bürgerklasse. „Nicht viel anders erging es der Arbeiterschaft, die zudem noch als herrschende Klasse verhöhnt wurde. Die Bauern verloren ihre soziale Identität durch die kampagnenmäßig in mehreren Schritten vollzogenen Kollektivierungsprozesse. Sie wurden zu lohnabhängigen und mit Leistungsprämien korrumpierten Landarbeitern, soweit ihnen nicht der Aufstieg aus der Bauernklasse in die Kaderschicht der leitenden Argronomen und LPG-Vorsitzenden gelang. (…) Die technische oder ökonomische Intelligenz-Schicht definiert durch ein Diplom einer Fach- oder Hochschule, war eine Dienstklasse, die nur durch politische Qualifikation und Parteimitgliedschaft in höhere Sphären aufsteigen konnte, dort jedoch in ihrer dienenden Funktion um so gesichtsloser wurde. Die DDR-Gesellschaft war gleichsam ein Hohlkörper, in dem alle traditionellen Vernetzungen und Bindungen zerschreddert worden waren. Nicht das Individuum, wohlgemerkt, sondern die Gesellschaft war ausgehöhlt und starr geworden.“ (ebenda)

Gesellschaftliche Einsamkeit

Der letzte Satz ist besonders wichtig. Heute ist viel von Einsamkeit und deren Auswirkung auf politische Orientierungen die Rede.[4] Dabei wird jedoch in der Regel nicht zwischen individueller Einsamkeit und gesellschaftlicher Einsamkeit differenziert. Das politisch wirksame Problem ist jedoch nicht das subjektive Gefühl nach einer Liebesbeziehung oder Freundschaft (auch individuell schlimm), sondern ein Sich-nicht-aufgehoben-Fühlen als Teil von gesellschaftlichen Zusammenhängen, von sozialen Gruppen oder Klassen.

Üble politische Laune

Eva und Jens Reich sehen in der Zerstörung jeglicher sozialen Klassen die Wurzel für das, was man Ossi-Moppertum nennen möchte. Die Reichs nennen es „üble politische Laune“. Und dies sei kein neues Phänomen, sondern die dunkle Seite der nivellierten „sozialistischen Persönlichkeit“. Diese sei im Unterschied zu der privaten Person, die in den Nischen der DDR-Gesellschaft interessiert, offenherzig und kreativ sein konnte, nach außen durch ein antrainiertes Verhalten gekennzeichnet, das sie als „desinteressierte Persönlichkeit“ bezeichnen. Diese Distanz drückte sich in der Leere des Gesichtsausdrucks bei öffentlichen Verlautbarungen von Politfunktionären aus. „Musste man hier sein öffentliches Gesicht zeigen, dann verloren die Gesichtszüge augenblicklich die Spannung. Der Blick wurde leer, bis die notwendige Veranstaltung vorbei war und wieder Leben in die Physiognomie kam.“ Es ist leicht vorstellbar, dass die ständige leere Mine zum bösen Spiel auch tiefere Folgen hatte – die leicht abrufbare üble politische Laune. Dieses Ventil war auch von den staatlichen Stellen abrufbar wie man an der Kampagne gegen die „faulen Polen“ von der Solidarnosc´ sah oder sich in rassistischen Abwertungen der vietnamesischen Arbeitskräfte als „Fidschis“ zeigte. Die Sublimierung von gesellschaftlicher Unzufriedenheit in einer Nörgelhaltung als Ergebnis von gesellschaftlicher Verwurzelung kann sich heute frei austoben, da im Gegensatz zur rechten Propaganda jeder frei seine Unzufriedenheit ausdrücken kann. Die Social-Media-Algorithmen tun ein Übriges.

Im Osten Deutschlands artikuliert sich diese schlechte Laune in einer politische Haltung, die sich auf eine subjektive Wahrnehmung gesellschaftlicher – nicht persönlicher (!) –  Verelendung und Freiheitsunterdrückung beruft. Diese widersprüchlichen Meinungen drücken sich in etwa so aus: „Mir geht es ja persönlich gut; die DDR möchte ich keinesfalls zurückhaben, obwohl vieles im Leben damals weniger beunruhigend war. Heute ist jedoch alles unsicher und deshalb unerträglich geworden.“ (ebenda) Wir haben es dabei mit einem neuen Phänomen zu tun. Gesellschaftliche Einsamkeit ist das Produkt von über 40 Jahren systematischer Zerstörung von sozialen Klassen als sozialen Rahmen und Halt. Das ist das, was Hannah Arendt in Bezug auf totalitäre Regime Verlassenheit in Abgrenzung zu privater Einsamkeit nennt. Simone Weil nennt es gesellschaftliche Entwurzelung. Sie ist die Basis für die besonders starke Anfälligkeit für autoritäre politische Konzepte und Ideologien der ehemals in der DDR sozialisierten Menschen und ihrer Kinder.

Entscheidend dabei ist die Suche nach einer monokausalen Ursache für den unbefriedigenden eigenen Status. Die Schwierigkeit für die Betroffenen wie aber auch für Analysten besteht darin, dass es noch keine wissenschaftliche Untersuchung über diese Phänomene gibt. Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos.  An der Oberfläche sehen wir, dass es eine ziellose politische Launenhaftigkeit gibt, die sich verstärkt in Hass äußert. Nach Meinung von Eva und Jens Reich ist das eine „Nachwehe der von der Polit-Bürokratie zu DDR-Zeiten in immer wieder neuen Wellen und Kampagnen durchgeführten Nivellierung derjenigen Schichten, welche zu einer selbsttragenden politischen Kultur auf ihre Weise hätten beitragen können. Wir meinen damit Menschen mit Unternehmergeist, das Bildungsbürgertum, die selbstbewusste Arbeiterschaft, freie Bauern, Handwerker, den Landadel, Künstler und Intellektuelle. Sie wurden in immer neuen politischen Wellen systematisch verunglimpft, enteignet, sogar kriminalisiert und anderweitig in ihrer traditionellen Identität diskreditiert.“ Dabei sind die Anknüpfungspunkte für politisch üble Laune beliebig: Einführung des Euro, Aufnahme von Flüchtlingen, Renten, billige Energie, Politik gegenüber den USA, Russland oder China. Allen Anlässen gemeinsam ist, dass sie das Narrativ des Opferseins bestärken und der Unterdrückung (Kolonisierung) durch den Westen. Deshalb ist es auch ein Grundirrtum der demokratischen Parteien, sie könnten durch inhaltliche Anpassung die Menschen, die sich Populisten anschließen, zurückholen.

Festzuhalten ist also,  dass die erfolgreiche Zerstörung von sozialen Klassen in der DDR-Geschichte als Besonderheit für die Bewertung der Wahlergebnisse in den Ost-Bundesländern eine große Rolle spielt.  

Dazu kommt in der ehemaligen DDR, dass der Prozess der Wiedervereinigung zusätzliche Wunden gerissen hat. Die erste Phase (1990- 1998) war ein chaotischer Prozess, der jeglichen Zusammenhalt, den es als Wärme derjenigen, die gemeinsam in der Scheiße gesessen hatten, auch noch zerstörte. In dieser Phase der Entmachtung der alten Herrschaftsstrukturen und der Liquidation der nicht konkurrenzfähigen Betriebe differenzierte sich die Gesellschaft demografisch auf. Es begann eine moderne Landflucht der Jungen in die großen Städte insbesondere aber in den Westen, zurück blieben die Alten und Unflexiblen. Politisch wurden quasifeudale neue Patriarchen gewählt: Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel aus der West-CDU und Manfred Stolpe (SPD), der als DDR-Kirchenjurist auch als IM für die Stasi gearbeitet haben soll. In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern war die Anfangsphase etwas chaotischer, hier spielte die Verstrickung der Politik in die DDR-Vergangenheit immer wieder mit.

Zur Geschichte gehört auch die Rolle der PDS, der Nachfolgepartei der SED, die der verunsicherten Bevölkerung noch einen Rest von Kontinuität suggerierte. Diese Ost-Connection zerbrach aber spätestens mit dem Erstarken der AfD als neue Partei des Rückschritts. In der PDS erreichten paradoxerweise zur selben Zeit linkspopulistische Kräfte aus dem Westen das Sagen. Das machte sie zusätzlich zur Sekte. Insbesondere wurde ihr aber die Abspaltung des BSW zum Verhängnis, denn Sarah Wagenknecht versteht sich ebenso wie die AfD darauf die alten SED-Phrasen neu aufzulegen. Aus dem Antifaschistischer Schutzwall (Mauer) wird die Abriegelung der Grenzen und die Abkehr von der EU, das Bündnis mit dem großen Bruder Russland schafft Frieden, Schuld sind immer der böse US-Imperialismus…  Das ist so erfolgreich, weil es an ständig eingeübte Parolen des FdJ-Drills andockt. 

Dieser historische Hintergrund ist, so mein erstes Fazit, offensichtlich die Ursache für den Erfolg von AfD und BSW im Osten. Zur Beruhigung gehört aber auch die geringe Größe der neuen Bundesländer im Vergleich zur alten Bundesrepublik, noch ist Deutschland nicht rechtsextrem.

Doch auch im Westen wird die politische Mitte durch rechte und populistische Parteien zerrieben wie man in Italien, den Niederlanden oder Frankreich sieht. Doch das hat andere historische Ursachen als in den „post-sozialistischen“ Ländern. Auch im Westen zerbröseln die traditionellen Schichten[5], die für Stabilität in der politischen Mitte gesorgt haben. In Frankreich ist das Ergebnis der Polarisierung zwischen schwindender alter und neuer Mittelklasse[6] besonders deutlich. Macron und seine Bewegung repräsentieren die neue Mittelklasse und Le Pen die alte Mittelklasse plus Teile der Unterklasse.

Der Abstieg der alten Mittelklasse bedeutet auch ein Schwinden des klassischen Wählerinnenreservat der CDU/CSU wie der SPD (inkl. Linke) in Deutschland, zumal dies auch das neue Spektrum der AfD und des BSW ist.  Auf der Seite der neuen Mittelklasse stehen Grüne und FDP, wobei beide Parteien aktuell auf ihr Kernwählerinnenpotential zurückgeworfen scheinen.

Es stellt sich die Systemfrage

Es deutet sich ein neuer Dualismus der Werte an. Auf der einen Seite postmaterialistische, sozialliberale Werte, auf der anderen Seite konservativ- autoritäre, anti-liberale Werte, die in Form des Rechtspopulismus ihren Ausdruck finden. Es fällt auf, dass es in den ehemaligen von der Sowjetunion kontrollierten Ländern  eine stark von rechtspopulistischen Parteien geprägte politische Öffentlichkeit (Polen, Ungarn, Slowakei…) gibt. Im Gegensatz dazu sind die Staaten in Europa, die selbst Teil des russischen Imperiums waren, wie die baltischen Staaten, die Ukraine oder Moldawien eher an liberal-demokratischen Verhältnissen und an einen engen Anschluss an die EU und NATO interessiert. Dazu kommt nach dem Überfall Russland auf die Ukraine, dass sich eine neue bipolare Weltordnung zwischen liberal-demokratischen Staaten des Westens und anti-liberalen Staaten um Russland und China herausbildet. In der Auseinandersetzung mit Rechtsextremen wie auch Linkspopulisten kommt es darauf an zwischen einem liberal- demokratischen Weg und einem anti-liberal, autoritären, undemokratischen Weg zu unterscheiden und nicht hinter jedem Stöckchen, welches die Antidemokraten hinwerfen, hinterherzulaufen.

Es ist die Systemfrage, die jede/r für sich entscheiden muss.


[1] Film von Alexander Kluge 1968; Bild von der Hauptdarstellerin Hannelore Hoger

[2] Daran würde sich auch nichts ändern, wenn Woidke noch als erster einläuft.

[3] Reich, Eva und Jens: „Revolution ohne souveränen historischen Träger“, in: Kowalczuk, Ilko-Sascha u.a.: (Ost)Deutschlands Weg, Teil II – Gegenwart und Zukunft, S. 515ff

[4] Siehe mein Buch „Vorbild Hannah Arendt. Aktive Politik gegen den Hass.“

[5] Ausführlich dazu: https://www.feininger.eu/andreas-reckwitz-neue-klassengesellschaft/

[6] In den Milieuanalysen in den  SINUS-Studien umfassen die alte und neue Mittelklasse folgende Milieus: 1. Neue Mittelklasse (31% Anteil mit steigender Tendenz): Das liberal-intellektuelle Milieu (7%); das sozial-ökologische Milieu ( 7%); das expeditive (extravagante) Milieu (9%); die Performer (8%). 2. Alte (traditionelle) Mittelklasse (34% mit sinkender Tendenz): Milieu der bürgerlichen Mitte (13%); das konservativ- etablierte Milieu (10%);das adaptiv-pragmatische Milieu (11%)und das traditionale Milieu der Rentner und Pensionäre  (11%), aufgeteilt in Mittelklasse und Unterklasse. Dazu käme die prekäre Unterschicht mit einem Anteil von ca. 34%. Die superreiche Oberschicht hat dagegen nur einen Anteil von einem Prozent.